Merin sah sich wachsam um, bevor er den steilen Hang erkletterte. Ähnlich wie bei der Klippe im Wald gab es auch hier einen Weg, nach oben zu gelangen. Doch wenn man den Weg nicht kannte, riskierte man, in den Abgrund unter der Brücke zu stürzen und sich alle Knochen zu brechen.
Merin hangelte sich geschickt über die Steine, den Großvaterberg hinauf. Es dauerte nicht lange, da erreichte er die offene Seite der Feste des Königs. Lautlos und ungesehen sprang er über die niedrige Brustwehr und war im Gebäude.
Niemand war zu sehen. Keine Gegner, keine Soldaten, keine Wachen. Die Burg war wie ausgestorben. Merin drehte lauschend den Kopf in alle Richtungen und gab sich Mühe, den keuchenden Atem unter Kontrolle zu halten.
Er vernahm kein Geräusch außer dem prasselnden Regen. Dafür fiel ihm ein dunklerer Streifen auf dem Boden ins Auge. Leise schlich er dorthin, bereit, bei dem kleinsten Geräusch die Flucht zu ergreifen.
Er kniete sich neben die beschmierten Steinplatten. Der Streifen war eine Schleifspur aus einer dunklen, angetrockneten Flüssigkeit.
Blut.
Merin schluckte, dann hob er den Blick und schaute, wohin die Spur verlief. Sie kam offensichtlich vom Eingang, dort begannen die Blutstropfen. Es musste einen Kampf gegeben haben, die Verletzten – oder Toten – hatte man die Treppe herab ins Untergeschoss geschleift.
Merin folgte der Spur lautlos wie ein Schatten. Die gerade Treppe führte ins Kaminzimmer im Untergeschoss. Hier lagen mehrere Schlafsäle für Soldaten und auch Merins eigenes Zimmer. Es gab einen Speisesaal und eine große Eingangshalle, die von einem nun erkalteten Kamin dominiert wurde.
Merin sah keine Leichen. Selbst die Spuren endeten auf dem blauen Teppich in der Mitte, die kleinen Pfützen waren bereits eingetrocknet. Handelte es sich vielleicht doch nur um die Spuren einer Verletzung? Vielleicht einen Unfall bei den Schwertübungen, der inzwischen versorgt und vergessen war?
Merin wollte es gerne glauben, trotzdem suchte er alle Räume ab. Und gewahrte mit Schrecken, dass Schränke umgeworfen und Betten verrückt worden waren. Jemand hatte die Feste des Königs durchsucht.
Aber wer?
Bevor er den Weg nach oben einschlug, wandte sich Merin einem großen, von Steinsäulen eingerahmten Gobelin zu. Der Vorhang wirkte schwer und von Staub durchtränkt – doch er ließ sich beiseite ziehen. Merin erspähte die kleine, dunkle Öffnung und kletterte durch die Wand des Gebäudes in den Berg hinein. Hier gab es eine kleine, mit Wasser gefüllte Höhle – ein verborgenes Bad.
Merin entzündete die kleine Fackel in der Wandhalterung – dann seufzte er schwer. Er hatte die Toten gefunden.
Zehn, fünfzehn Soldaten im Blau des Königs trieben durch den winzigen See, dessen Wasser sich mit Blut vermischt hatte. Schweigend starrten blinde Augen zu Merin hierauf, der mit einer automatischen Bewegung die Fackel wieder löschte.
Immer noch fühlte er die blinden Augen auf sich ruhen. Schnell trat er die Flucht nach draußen an und zog den Gobelin zurück über die Öffnung.
Sie waren alle tot. Merin konnte sich nicht länger vormachen, dass es sich nicht um einen Angriff handelte. Der Palast war überrannt worden, noch dazu von jemandem, der von dem versteckten See gewusst hatte.
Merin stieg die Treppe wieder hinauf. Die beste Möglichkeit wäre, den Berghang wieder herabzuklettern, zu rennen, so weit ihn die Beine trugen, und nicht wieder anzuhalten.
Doch er tat es nicht. Stattdessen ging er zu der Stelle, wo hinter einem zweiten Gobelin der Geheimgang begann. Merin schlüpfte unter dem Wandteppich hindurch und zog die Eichentür dahinter auf. Die Gelenke der Tür waren perfekt geölt – seit Chirogans Verschwinden hatte er die Geheimgänge im Palast in Schuss gehalten. Er hatte gewusst, dass es ihm nützlich sein würde.
Ganz allein, nur mit einer Fackel in der Hand, kletterte Merin durch den zerklüfteten Gang nach oben zum Palast.
Der Gang war eng und feucht, es tropfte von der Decke und der unebene Boden war glitschig. Doch Merin war ein Waldläufer. Er setzte seine Stiefel geschickt in jede Fugen und Spalten, die ihm Halt zu geben vermochten, und stieg schon beinahe mühelos hinauf.
Schließlich trat er durch den klaffenden Eingang der Höhle in den strömenden Regen hinaus. Er hielt sich dicht am Fels, außer Sichtweite der großen, gefärbten Fenster, und hangelte sich unter die Brücke, die zum Eingang führte. Hier, in einer Mauerritze verborgen, nur zu finden, wenn man wusste, wo man suchen musste, verbarg sich der Schlüssel zum zweiten Geheimgang. Merin musste sich an einen rutschigen Brückenpfeiler hängen und konnte dann, mit ausgestrecktem Arm, den Schlüssel so gerade berühren. Er zog ihn zu sich heran und kletterte wieder zurück.
Die schwere Eisentür war in einer Felsspalte verborgen. Merin schloss sie auf und hinter sich wieder zu, dann ging er durch den deutlich trockeneren Gang, an dessen Ende die hölzerne Leiter nach oben führte. Wie lange war es bereits her, dass er den Weg in die entgegengesetzte Richtung genommen hatte, auf der verzweifelten Suche nach Chiro?
Leise kletterte er bis unter die Falltür heran und dann … wartete er.
Er lauschte auf jede Art von Geräusch, das durch die Falltür und den dicken Teppich darüber drang. So wie es schien, lag der Untere Palast in tödlicher Stille, doch Merin wartete geduldig ab, bis sicherlich eine halbe Stunde vergangen war. Er hatte keinen Laut gehört, also musste er davon ausgehen, dass die Räumlichkeiten über ihm verlassen waren.
Er entriegelte die Falltür mit Fingern, die vor Kälte und Anstrengung schmerzten, dann hob er die Luke an. Der Staub des Teppichs wehte ihm entgegen, sein Gewicht drückte die Falltür wieder nach unten. Merin knurrte mit zusammengebissenen Zähnen und schlug den Teppich mühsam beiseite. Nervös sah er sich um, doch es war niemand zu sehen, der eventuell auf einen Eindringling gelauert hätte. Merin kroch aus dem Boden, schloss die Luke lautlos und zog den Teppich ordentlich darüber. Eine Sekunde betrachtete er sein Werk: Es war keine Spur seines Eindringens zu sehen, doch seine Stiefel hinterließen feuchte, matschige Flecken. Merin streifte sie notdürftig an der Unterseite des Teppichs ab, bevor er diesen wieder geradezog.
Er schlich durch den kleinen Raum, in dem die Bittsteller sitzen und warten konnten, bis Chirogan Zeit hatte, sie anzuhören. Dahinter begann die große Eingangshalle. Mit angehaltenem Atem beugte sich Merin um die Ecke und spähte in die Halle.
Sein Herz setzte einen Schlag aus – mitten in der Halle, im Torbogen des Eingangs, stand eine düstere Gestalt. Es war ein Ritter, in eine graue, dornige Rüstung gekleidet, der mit gezogenem Schwert das obere Ende der Treppe bewachte.
Zum Glück wandte er Merin den Rücken zu. Schnell zog sich der Berater zurück und huschte wieder in den Raum mit der Falltür, dann in das kleine Zimmer mit dem Sofa und dem Bild von Chirogan, wie er den Drachen erschlug.
In der kleinen Kammer an der Ecke traf Merin auf einen unerwarteten Anblick: Gondula, die Köchin, lag auf dem Boden in einer Pfütze ihres eigenen Blutes, das aus einem tiefen Schnitt in ihrer Kehle gesprudelt war. Ihre Augen starrten glasig und flehend zur Decke, ein Ausdruck von Entsetzen war in ihrem aufgequollenen Gesicht eingefroren. Sie hatte geweint, die Tränenspuren schimmerten noch auf ihren rotfleckigen Wangen. Eine Hand hatte sie hilfesuchend in die Wand gekrallt.
Doch sie hatte nicht von der Geheimtür in der Wand direkt neben sich gewusst und war von ihrem Verfolger eingeholt und getötet worden. Merin seufzte schwer und kniete sich neben die tote Köchin.
„Diese Gegner konntest du wohl nicht vertreiben.“ Er fasste ihre andere Hand, die auf ihrer Brust lag und einen Fetzen blauen Stoffs umklammerte – ein Tuch mit Chirogans Wappen.
Merins Herz wurde schwer. Die Köchin hatte ihrem König die Treue gehalten, selbst im Tode noch. Mit der Hand strich er über ihr Gesicht und schloss ihre Augen, wohl wissend, dass diese Tat seine Anwesenheit im Palast verraten könnte.
Dann stieg er über Gondula hinweg und öffnete die verborgene Tür in der Wand, um in das Treppenhaus zu gelangen. Es war ein kurzer Weg zu den Ställen, wo Merin von dem wachsamen Ritter unbemerkt in die Box von Wildfang schlüpfte. Der Mustang begrüßte seinen Besitzer mit einem Blick und aufgerichteten Ohren. Merin streichelte sein Pferd stumm. Dann sah er zum Eingang, nur einen kurzen Ritt entfernt, wo der graue Ritter Wache hielt.
Er musste Wildfang und Sturmtänzerin befreien und mit ihnen den Vorteil der Überraschung nutzen, um auf die Treppe und in die Freiheit zu entkommen. Merin hatte längst den Entschluss gefasst, dass er die beiden Pferde nicht hier lassen konnte. Er wusste nun, was er hatte erfahren wollen: Die grauen Ritter waren in den Palast eingedrungen, die Schergen von Jock Teador und seinem unbekannten Meister.
Noch während Merin leise das Halfter von Wildfang ergriff und über den Kopf des Halbmustangs streifte, erstarrte der graue Ritter plötzlich. Ein lautes Schniefen erklang, als das Wesen unter dem Helm – mit einem Mal schien es kein Mensch zu sein – tief die Luft einzog.
„Wer ist da?“, fragte es dann mit zischelnder, kalter Stimme und wandte das Visier in Richtung Pferdestall.
Merin erstarrte.