Merin konnte sich vor Schreck nicht rühren, als der Wachmann von den Treppenstufen zurücktrat. Die Schwärze hinter dem Visier ließ sich nicht durchdringen, die schnüffelnden Geräusche, die herausdrangen, klangen hohl und unmenschlich. Mit schweren Schritten – die Rüstung quietschte und krachte bei jedem Schritt – kam der graue Ritter auf den Stall zu, wo Merin sich an die Flanke von Wildfang presste. Das Pferd schnaubte unruhig, auf der anderen Stallseite stieg die weiße Sturmtänzerin leicht auf die Hinterhand, die Augen vor Angst verdreht.
„Ich rieche dich!“, zischte eine Stimme aus dem Helm, eine Stimme, so kalt und gefühllos wie der Winterwind.
„Wie … wie bist du herein gekommen?“, fragte das Wesen, das Merin bisher für einen Ritter in unmarkierter, grauer Rüstung gehalten hatte – doch es war kein Mensch.
Er schwieg und trat nach hinten. Das Stroh raschelte unter seinen Schritten.
„Komm heraus, Mensch“, sagte das Wesen. Merin bemerkte, dass es einen Streitkolben in der Hand hielt, eine lange und schwere Waffe aus Gusseisen, mit gezacktem Kopf. „Ich weiß, dass du da bist. Komm heraus.“ Der Ritter schnüffelte laut und gab ein glucksendes Geräusch von sich, „Merin Chien von Telion, rechte Hand des Königs! Ha, du ersparst uns die Mühe, dich zu suchen.“
Merin gab auf. Mechanisch, vor Angst wie gelähmt, setzte er einen Fuß vor den anderen und trat aus dem Stall heraus, als würde eine fremde Macht ihn lenken. In der Gasse zwischen den drei Ställen stand er dem grauen Ritter gegenüber.
Das Wesen war größer als Merin. Der gehörnte Helm kratzte fast die niedrige Steindecke. Merin öffnete und schloss die Hände, sah zu seinem treuen Halbmustang Wildfang.
Es schien fast, als würde das Tier seinen Blick erwidern. Wildfang kaute an der Trense und rührte sich nicht.
Der graue Ritter betrachtete das Pferd. „Was war dein Plan, Berater? Wolltest du die Pferde retten?“
Merin sagte nichts. Er versuchte, etwas hinter dem gespaltenen Visier zu erkennen – ein Gesicht, ein Auge, irgendwas. Doch dort lauerte nur Schwärze.
„Dir fehlt der Sattel“, erklärte der Ritter und stellte den Streitkolben mit dem Kopf auf den Boden, um sich dagegen zu lehnen. „Kannst du ohne Sattel reiten?“
Merin schluckte, räusperte sich und antwortete: „Ja.“
Der Ritter lachte, ein kaltes und freudloses Geräusch. „Er kann ja doch sprechen. Nun, Berater – mein Herr ist unterwegs. Lass uns bis zu seiner Ankunft ein Spiel spielen. Wenn mir deine Antworten gefallen und du keine schlauen Tricks versuchst, kannst du im Besitz all deiner Gliedmaßen sterben.“
Der Ritter wartete nicht ab, ob Merin auf das Angebot einging. Stattdessen nahm er den Streitkolben wieder auf und legte ihn sich auf die gepanzerte Schulter. „Du bist in den Palast gekommen – von Außerhalb?“
„Ja“, sagte Merin. Seine Gedanken rasten, doch er versuchte, ruhig zu wirken. Wenn er den Ritter bei Laune hielt, ergab sich vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht.
„Ich denke, es gibt Geheimgänge“, redete der Ritter weiter. „Man kennt dich für deine Vorsicht, Berater Merin. Wir haben mit Fluchttunneln gerechnet, doch nicht damit, dass du eindringen würdest, wenn wir hier sind. Warum bist du gekommen?“
Merin musste an die hingeschlachtete Köchin Gondula denken und ballte die Hände zu Fäusten. „Um Unschuldige zu retten!“
Der Ritter lachte erneut. „So, ein Held willst du also sein? Es gibt niemanden mehr zu retten.“
„Die Pferde“, sagte Merin mit dunkler Stimme.
„Also bist du gekommen, um deinen Mischling zu befreien? Und das Pferd Chirogans?“
„Und den Esel.“ Merins Worte hörten sich selbst in seinen eigenen Ohren hohl an.
„Du vergisst deine berühmte Vorsicht, deinen Überlebenswillen, für eine Gruppe Tiere?“ Der Ritter kam nun nah heran und fasste den Streitkolben fester. Es war klar, dass Merins Antworten ihm immer weniger gefielen. Merin musste zugeben, dass er diese Einstellung teilte – was hatte er sich nur gedacht?
In diesem Moment bemerkte er etwas über der Schulter des Ritters – beziehungsweise dahinter. Dort hing seine Ausrüstung an der Wand, griffbereit für alle Fälle. Der Bogen mehrmals repariert, und die Pfeile, die er selbst gefertigt hatte.
Doch das kleine Jagdmesser fehlte. Es irritierte Merin, für einen Augenblick, dann starrte er in das Visier des grauen Ritters.
„Diese Tiere sind Lebewesen, genau wie Menschen“, sagte er ruhig und machte einen Schritt zurück. Er bereitete sich auf den Schmerz des Schlages vor. Der Ritter hob den Streitkolben an.
Ein metallisches Geräusch erklang. Dann zuckte der Ritter plötzlich wie eine Marionette, deren Fäden von einem Wurf tollender Welpen geführt wurden. Der Ritter fiel und warf sich hin und her, verdrehte Arme und Beine in unmögliche Winkel. Ein hohes, unmenschliches Kreischen erhob sich in die Luft, die Pferde gingen durch.
Und hinter dem Ritter stand Peki, mit Merins Jagdmesser in beiden Händen. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Ritter.
„Das hatte ich nicht erwartet!“, rief sie Merin zu, der schnell die Entfernung zu ihr überwand und sie in eine feste Umarmung zog.
„Peki! Es geht dir gut! Das war wirklich in letzter Sekunde!“
Das Mädchen grinste ihn an, dann wurde sie ernst. „Schnell, die Pferde! Wir müssen hier weg!“
Merin nickte. Der Schrei des Ritters brach nicht ab, das Ding in der Rüstung wollte einfach nicht sterben. Er sprang in den Stall zu Wildfang und zerrte den Hengst heraus. Peki hatte ein Halfter gefunden und warf es über Sturmtänzerins weißen Hals. Merin schwang sich auf Wildfangs Rücken und öffnete dann die Tür zu Capricorns Stall. Der Esel trottete heraus, die langen Ohren nach hinten gelegt. Aus irgendeinem Grund waren gefüllte Satteltaschen auf seinen Rücken geschnallt und er trug Halfter und Strick. Ein Glücksfall für Merin, der den Strick ergriff und Wildfang in Richtung Treppe führte. Er riss Pfeil und Bogen von der Wand.
Peki war wenige Schritte vor ihm und führte Sturmtänzerin im Laufschritt auf die Treppe. Als Merin ihr folgte, entdeckte er Jen. Das gepunktete Pony stand auf der Treppe, die Hufe steckten in vergilbten Säcken, die offenbar ihren Hufschlag gedämpft hatten. Merin konnte nicht sagen, welches Glück Peki ausgerechnet nun in den Palast geführt hatte. Ohne sie wäre er tot, das stand außer Zweifel.
Peki kletterte in den Sattel ihres Ponys. Dann sah sie die Treppe herab und wurde blass. „Ritter!“
Merin drängte Wildfang neben sie und spannte eilig den Bogen. Sieben graue Ritter, vielleicht von dem Schrei ihres Kameraden alarmiert, stürmte die Treppe herauf, und sie führten düstere, gefährliche Waffen.
Der Schrei! Er war verklungen, das grässliche Kreischen hatte aufgehört.
„Merin!“, kreischte Peki und deutete nach hinten. Als Merin den Kopf wandte, stand auf dem obersten Treppenabsatz der graue Ritter und schwang seinen Streitkolben. Seine Rüstung war nach den heftigen Zuckungen geborsten. Bräunliche Haut war darunter zum Vorschein gekommen. Oder war es Haut? Sie krümelte wie Lehm, war von Rissen durchzogen. Trotzdem schleppte sich die Kreatur vorwärts.
Sie saßen in der Falle. Statt eines Geländers verfügte diese äußere Treppe über einen Ring aus Steinziegeln, durch deren Lücken der Wind pfiff. Es gab nur eine Stelle, wo die Pferde hindurch passten: Dort führte die Treppe auf eine winzige Wiese an der Bergflanke, ein Rückzugsort für Sommertage. Merin steckte den Bogen weg und gab Wildfang die Fersen. Das Pferd schoss vorwärts, die Treppe herab und auf die Wiese. Die drei anderen Tiere und Peki folgten Merin auf den Hang hinaus.
Merin trieb Wildfang weiter an und das Rennpferd stürzte sich auf den Berghang, gerade, als die grauen Ritter hinter ihnen die Öffnung erreichten.
Peki rief etwas, doch Merin hörte nur den Wind in seinen Ohren rauschen. Wildfang sprang den Hang herab, Capricorn, Jen und Sturmtänzerin folgten. Die Erde bröckelte unter den Hufen, die Pferde und der Esel fielen dem Wald entgegen.
Wildfang stolperte. Merin wurde vom Rücken des Mustangs geworfen. Er stürzte, traf auf Boden, überschlug sich. Er schmeckte Erde im Mund, als er endlich zum Liegen kam.
Ächzend setzte er sich auf. Sein Herz raste, das Adrenalin übertönte den Schmerz in seinen Muskeln und Knochen.
„Peki!“, rief er und sah sich um. Wildfang war nicht weit entfernt auf der Seite gelandet und stand soeben auf. Capricorn rutschte den Hang auf der Hinterhand herab und schrie dabei schrill. Dann sah Merin Jen, mit Peki auf dem Rücken, die etwas weiter entfernt ebenen Boden erreichte. Und Sturmtänzerin sprang den Hang mit sicherem Schritt herab. Ihre Hufe mussten einen Halt finden, den die anderen Tiere nicht hatten nutzen können.
Pekis Haare waren voller Zweige, die Beutel um die Hufe von Jen waren zerfetzt. Doch sie hatte keine Verletzungen erlitten.
Merin sah zu Wildfang, der schnaubend den Kopf in den Nacken warf. Der Waldläufer sprang auf den Rücken seines Halbbluts.
„Weiter!“, keuchte auch Peki. Ein unheimliches, geisterhaftes Geheul schwang im Wind. Die grauen Ritter machten sich an die Verfolgung.
„Los!“, schrie Merin und stieß die Fersen in Wildfangs Flanken.
„Hü!“, rief Peki.
Wildfang, Sturmtänzerin, Capricorn und Shajenna galoppieren los.