„Schneller, Peki!“, rief Merin über die Schulter, bevor er sich wieder dicht über Wildfangs Hals beugte. Der Mustang, Jen und Sturmtänzerin preschten durch den morgendlichen Wald, die Hufe wirbelten Erde und Blätter in die Höhe. Wildfang galoppierte voraus, ohne Rücksicht auf die tückischen Wurzeln im Erdreich. Sturmtänzerin und Jen waren langsamer.
Und die Verfolger holten auf.
Merin warf einen weiteren Blick nach hinten und konnte sehen, dass es tatsächlich vier graue Ritter waren, die ihnen folgten. Sie ritten große, silbergraue Pferde, ihre Rüstungen schimmerten leicht im Licht der aufgehenden Sonne. Peki warf Merin einen Blick aus weit aufgerissenen Augen zu. Ihre drei Zöpfe wippten im Rhythmus von Jens Galoppsprüngen.
Merin wandte sich nach vorne. Die grauen Ritter hatten diesmal wenigstens keine Schusswaffen. Das gab ihm die Hoffnung, dass sie vielleicht entkommen könnten. Der Niemhain erstreckte sich vor ihm, von der schräg stehenden Sonne in feuriges Rot getaucht.
Merin verspürte einen abergläubischen Schauer. Es war Dämmerung, die Zeit des Niems. Er war als kleiner Junge mit den Geschichten über das legendäre Flammenpferd aufgewachsen, das in diesem Wald leben sollte.
Chirogans Vater hatte den beiden Jungen früher die Geschichten erzählt – bevor Merin und Chirogan selbst zu Geschichten geworden waren, in einer einfacheren Zeit. Das Niem war ein gewaltiges Pferd, braunrot und mit oranger Mähne, ein Tier des Feuers. Man sagte, dass das Pferd diesen Wald vor allem Übel beschützte. Doch die Leute warnten auch vor der Rache des mächtigen Tieres, wenn man es betrügen oder bestehlen sollte, seine Gesetze brach oder Übel in den Wald brachte.
Diese Gedanken durchzuckten Merin wie ein Blitz, während die drei Pferde durch den flammenden Niemhain sprangen. Er hörte einen Schrei hinter sich, etwas zischte an seinem Ohr vorbei und traf einen Baumstamm weit vor ihm.
Es war ein Pfeil, dessen Spitze in Flammen stand. Weitere Geschosse prasselten herab, Merin lenkte Wildfang zur Seite und hoffte, dass Peki und die beiden anderen Pferde folgen würden.
Er hatte sich getäuscht – die Ritter besaßen sehr wohl Schusswaffen.
Die Flammen brauchten nur Sekunden, um in dem trockenen Holz Nahrung zu finden. Schon loderten Feuersäulen in den Himmel und sprangen Funken über auf neuen Zunder.
„Verdaaaammt!“, schrie Peki. Merin wandte sich alarmiert um, doch Peki war nicht getroffen. Sie deutete auf die Feuer. „Sie stecken den Wald an!“
Merin wandte sich zurück nach vorne. Als ob ihm das nicht aufgefallen wäre!
In diesem Moment sah er das Niem.
Das Pferd kam aus dem Gebüsch vor ihm gesprungen. Sein Fell war rot wie Blut, Mähne und Schweif standen in hellen Flammen. Wildfang scheute und brach zur Seite aus, das brennende Pferd galoppierte mitten durch die kleine Gruppe der Flüchtenden hindurch. Merin spürte die Hitze der brennenden Mähne im Gesicht und roch versengtes Haar.
Dem Niem folgte eine weitere Alptraumgestalt. Ein brennender Esel lief kreischend und ausschlagend an Merin vorbei.
Dann kamen weitere brennende Pferde, eine Herde. Wildfang, Sturmtänzerin und Jen sprangen dem Strom aus dem Weg, als die Pferde durch den Wald donnerten, Feuer und Rauch brachten und auf die grauen Ritter zuhielten – oder eher auf die Teiche, die sich dort irgendwo befanden.
Merin sah in die Richtung, aus der die Tiere kamen. Der Himmel hinter den Bäumen erschien ihm dunkel.
Rauch stieg auf von der Siedlung der Pferdebesitzer. Merin fluchte und trieb Wildfang an. Die Pferde waren vorbei, ein einzelnes Pony folgte, schlug aus, schrie und brach dann brennend zusammen. Wildfang sprang über das tote Tier hinweg, Sturmtänzerin folgte. Peki trieb Jen an, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Sie erreichten die Siedlung am Niemhain und erstarrten. Ein Flammenmeer hüllte die Ställe an, durch die Straßen liefen brennende Tiere und brennende Menschen. Dazwischen lagen Tote. Niemhain stand in Flammen.
Jen holte stolpernd zu Wildfang auf. Peki hustete. „Was ist denn hier passiert?“
„Die grauen Ritter“, riet Merin. Er deutete auf drei Gestalten, die auf dem Hügel in der Mitte von Niemhain standen, hinter der großen, hölzernen Statue des Niem. Die Koppel für verkaufte Pferde, wo Merin seinen König zuletzt gesehen hatte, war weg, der Zaun niedergetrampelt. Die Ritter hielten Fackeln in den Händen und starrten auf die Vernichtung herab, die sie beschworen hatten. Das hölzerne Pferd mit der orangen Mähne sah mit aufgerissenem Maul und ausschlagenden Hufen auf die Feuer unter sich.
Merin beschattete seine Hand mit den Augen und spähte auf den Hügel. Ein seltsames Leuchten ging von einer unsichtbaren Quelle aus. Es schien, als würde rotes Licht aus dem Boden brechen. Es beleuchtete die Bäuche der silbergrauen Pferde.
„Dort ist etwas“, erkannte er.
„Und da ist mein Vater.“ Peki deutete auf den Hügel. Tatsächlich entdeckte Merin zwischen den Rittern zwei Gestalten ohne Rüstung. Jock Teador und Porthas Kainlin, so nahm er an.
„Wir müssen dorthin“, entschied er, ohne nachzudenken. Dieser Hügel spielte eine Rolle – Chirogan war dort verschwunden. Vielleicht war das Merins Schlüssel, um seinen König wiederzufinden.
Er trieb Wildfang an, doch sowohl Sturmtänzerin als auch Peki hielten ihn zurück.
„Bist du wahnsinnig? Wir können nicht durch das Feuer reiten!“, rief Peki ihm zu.
„Wir müssen!“, zischte Merin durch zusammengebissene Zähne, riss sich von Pekis Hand los und ließ Sturmtänzerins Zügel fallen. „Ich muss!“
Damit trieb er Wildfang an und das Pferd sprang furchtlos vorwärts. Er hörte Peki hinter sich rufen, dann hörte er sie fluchen. Als er sich umwandte, folgte sie ihm. Doch ebenso folgten ihnen die vier grauen Ritter, die aus dem Wald aufgetaucht waren.
Wildfang lief schnell wie der Wind. Merin spürte die Hitze, doch sein Mischling, halb Mustang, halb Rennpferd, preschte zwischen den Ställen hindurch, nahm scharfe Kurven, sprang über brennendes Holz hinweg. Merins Herz raste. Er hielt die Augen auf den Hügel gerichtet, wo Teador und Kainlin soeben in den Boden traten.
Es musste eine geheime Höhle geben, von der niemand etwas gewusst hatte. Merin trieb Wildfang an, noch schneller zu rennen.
Dann sprang sein hellbraunes Reittier den Hügel herauf. Die grauen Ritter, die auf dessen Kuppe standen, wandten Merin die schwarzen Lücken in den Helmen zu. Merin legte einen Pfeil auf die Bogensehne, zog die Sehne bis zum Auge zurück und schoss auf den vordersten Ritter. Der brüllte auf, kein seelenloses Kreischen wie die Kreatur im Schloss, und landete auf dem Boden. Wildfang sprang an dem perplexen Reittier des Ritters vorbei und über den gefallenen Gegner hinweg.
Merin preschte zwischen den beiden anderen Rittern hindurch und entdeckte eine große, längliche Öffnung im Boden. Eine Treppe führte in den Berg hinein. Er zögerte nicht, sondern trieb Wildfang vorwärts.
Nun kam auch Peki auf Jen heran. Das schwarze Pony folgte Wildfang auf den Fuß, Sturmtänzerin dagegen war nirgends zu sehen. Merin konnte nur hoffen, dass Chirogans weiße Stute einen sicheren Ort gefunden hatte. Schon stürmten auch die vier Verfolger auf den Hügel.
Die Ritter hoben ihre Waffen, um sie anzugreifen. Merin schoss einen weiteren Pfeil ab und riss dann das Jagdmesser heraus. Wildfang brachte seinen Reiter tänzelnd außer Reichweite der gefährlichen Waffen.
Jen stieß gegen den Mustang und Wildfang stolperte die Treppe herab und in den Boden hinein. Merin trieb ihn weiter, Jen folgte. Beide Pferde trabten die lange Treppe hinunter.
Merin sah sich um und wischte sich Schweiß von der Stirn. Die Ritter folgten ihnen nicht. Ihre ausdruckslosen Helme waren in der Öffnung vor einem rötlichen Streifen Tageslicht zu erkennen.
„Warum folgen sie uns nicht?“, fragte Peki.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Merin und ließ Wildfang langsamer gehen. Vor ihnen endete die Treppe in einem kleinen, düsteren Raum, von dem eine Öffnung weiterführte. Rote Fackeln beleuchteten die Treppe und die unbearbeiteten Wände.
Die Hufe der Pferde klapperten auf dem Steinboden, als die beiden Reiter in den ersten Raum traten. Durch den Torbogen konnten sie einen größeren Raum dahinter erkennen. Dieser war leer bis auf ein großes Gebilde aus schwarzem Stein, das sich auf einem Podest in der Mitte des Raumes erhob. Es sah aus wie ein schwarzer Türrahmen, in dessen Mitte eine Art roter, durchsichtiger Vorhang hing und sich leicht wellte. Manchmal glaubte Merin, Bilder und Formen durch den Vorhang aufblitzen zu sehen, die dort überhaupt nicht sein konnten.
Vor dem Ding standen zwei Männer. Jock Teador war schlank und athletisch wie seine Tochter und besaß das gleiche, rabenschwarze Haar. Porthas Kainlin war ein etwas kräftiger Mann, mit schlaffen Wangen und kleinen, tränenden Augen. Merin kannte ihn gut von diversen Gelegenheiten, da der Adelige im Palast gewesen war.
„Oh, sieh mal einer an!“, sagte Jock Teador und grinste furchtlos. „Merin, Ihr seid gerade zu spät. Euer König ist fort.“ Damit deutete der Pferdebesitzer auf den roten Vorhang.
„Was habt Ihr getan?“, fragte Merin rau und tastete nach dem nächsten Pfeil, den er auf die Bogensehne legen wollte. Kainlin sah sich gehetzt um und wich vor den Portalrahmen zurück.
Jock Teador dagegen breitete selbstbewusst die Arme aus. „Wir haben ein Tor gebaut! Ein Tor in eine andere Welt. Und unser gesalbter König Chirogan durfte uns nicht nur die Tür öffnen – nein, er ist auch der erste, der hindurchreisen durfte.“
„Wo ist er?“ Merin spürte, dass seine Stimme zitterte.
„Außerhalb unserer Reichweite“, sagte Teador ruhig. „Er ist bei unserem Herrn und Meister, Garabath.“
„Wer ist Garabath?“, stieß Merin hervor.
„Garabath ist unser neuer Gott. Der König der Welten“, sprach Teador und sah Peki zum ersten Mal an. „Hallo, Tochter.“
„Paps, was … was hast du getan?“ Pekis Stimme war tränenerstickt.
„Oh, ich habe es für dich getan, Spätzchen“, sagte Jock Teador. „Ich werde ein Graf dieser neuen Welten. Und du als meine Tochter wärst reich geworden. Ihr hätte dir die Welt zu Füßen gelegt. Leider“, seine Stimme wurde hart, „hast du mich verraten.“
Merin legte in einer fließenden Bewegung den Pfeil auf die Sehne und zielte auf Jock Teador. „Ihr lügt! Chirogan ist nicht fort!“
„Oh, doch, das ist er. Und er wird bald tot sein. Doch das hat dich nicht zu kümmern, Berater.“
„Hör endlich auf mit dem Quatsch!“, mischte sich Kainlin ein. „Jock, du hörst dich zu gerne selbst reden. Töte sie endlich!“
Jock Teador nickte seinem Mitverschwörer zu. „Da seht ihr es, Berater. Bald werdet Ihr tot sein, dann müsst Ihr Euch nicht mehr den Kopf über ... ack!“
Der Pfeil traf Jock Teador in die Brust und ließ ihn rückwärts taumeln. Neben Merin stieß Peki einen erstickten Schrei aus. „Papa!“
Jock Teador stolperte nach hinten und in den roten Vorhang hinein. Dann … war er verschwunden.
„B-bitte!“ Kainlin ließ sich auf die Knie fallen. „I-ich wurde gezwungen, ihm zu he-helfen! M-Merin, ich ... ich flehe Euch an, habt Gnade!“
Merin trieb Wildfang vorwärts. Seine Stimme zitterte, als er mühsam versuchte, sich zu beherrschen. „Wo ist Chirogan?“
„I-ich weiß es nicht. Das Portal führt … in viele W-welten. Aber Garabath wird ihn holen.“
„Danke“, sagte Merin kalt und beugte sich aus dem Sattel herunter. Kainlin sah ihn mit neuer Hoffnung in den Augen an und machte Anstalten, Merins Hand zu ergreifen. Dann sah Kainlin das Messer in Merins Faust aufblitzen.
Merin vollführte einen schnellen, glatten Schnitt über Kainlins Kehle und sah zu, wie dessen Blut den Rahmen des Portals besudelte. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben einen Menschen getötet, doch es war nicht anders als ein Tier zu erjagen. Merin richtete den finsteren Blick auf das Portal und trieb Wildfang vorwärts.
„Warte auf mich!“, rief Peki ihm nach, dann durchquerte Merin den Vorhang.
Für einen Moment hörte er nichts mehr. Es gab nur Stille und Schwerelosigkeit.
Dann fiel er.