Merin seufzte leise, bevor er die großen Flügeltüren öffnete. Wie erwartet, fand er dahinter eine große Menschenansammlung vor. Bittsteller, Adelige, Bauern und Arbeiter hoben zu einem großen Geschrei an, als sie Merin entdeckten. Ihre Stimmen stießen auf ihn zu wie Schlangen, wollten ihn schier überwältigen. Eine zusammenhängende Wortfolge zu erkennen, war unmöglich.
Merin hob beschwichtigend die Hände. „Ruhe, bitte!“
Niemand beachtete ihn, stattdessen drängelten die, die weiter hinten standen, und das ganze vielbeinige Wesen rollte auf Merin zu.
Im letzten Moment traten zwei Wachen dazwischen und schlugen donnernd die Piken zu einem Kreuz zusammen. Merin richtete sich auf, obwohl sein Herz vor Furcht raste. Wäre doch nur Chirogan hier!
„Ruhe!“, wiederholte Merin und diesmal zeigte das Wort Wirkung. Die Menschen sahen ihn an, einige schwer atmend, mit hochrotem Kopf. Merin konnte es ihnen nicht unbedingt verdenken. Sie alle hatten wichtige Bitten vorzutragen und der König hatte sie über Wochen hinweg warten lassen.
Dass Chirogan verschwunden war, wusste niemand außer Merin und dem engsten Personal des Palastes. Menschen, für die die Treue zum verschwundenen König die Existenzgrundlage war oder die den Palast nicht unbemerkt verlassen konnten. Menschen, denen Merin das Geheimnis anvertrauen konnte, weil Verrat für sie ein zu hohes Risiko war.
Aber auch die Öffentlichkeit musste etwas gemerkt haben.
Merin reckte den Kopf, um über die Versammelten zu sehen. Er fühlte sich unwohl, so im Mittelpunkt des Geschehens. Sein Rücken kribbelte von den feindseligen Blicken, die ihn musterten.
„Der König ist schwer krank“, sagte Merin mit, wie er hoffte, ruhiger Stimme. „Deswegen konnte er bisher niemanden empfangen. Leider wird es dabei bleiben. Die angeschlagene Gesundheit unseres geliebten Königs erlaubt nicht, dass er sein Gemach verlässt.“
Empörtes Geschrei kam auf. Merin hob die Hände etwas höher – als wollte er sich vor diesen Menschen ergeben. Für einen Moment musste er an Putschversuche denken, wütende Bauernhorden, die den Palast stürmten. Aber Chirogan war ein guter König gewesen und hatte sich sehr bemüht, alles für seine Untertanen zu tun. Einen Putsch hatte er nicht verdient.
„Bitte, Ruhe!“, brüllte Merin. „Ich bin noch nicht fertig.“
Die Menschen beobachteten ihn lauernd.
„Bis der König vollständig genesen ist, könnte einige Zeit vergehen“, sprach er weiter, wie er es mit den Kämmerern und eingeweihten Soldaten besprochen hatte. „Bis dahin übernehme ich die Staatsgeschäfte.“
Merins Finger zitterten. Es war so furchtbar, das auszusprechen. Er wollte Chirogans Rolle nicht übernehmen. Er wollte kein König sein!
Er musste seinen Freund so bald wie möglich finden.
„Chirogan hat mir sämtliche Befugnisse erteilt. Trotzdem werde ich ihn in einigen Fragen zurate ziehen. Ich werde mir Mühe geben, im Sinne unseres Königs zu handeln.“
Damit war es gesagt. Merin musterte die Menschen und erwartete empörte Stimmen. Doch die meisten wirkten nicht unbedingt unzufrieden, nur besorgt.
„Ist er schlimm krank?“, fragte ein kleines Mädchen in der zweiten Reihe, das die Hand eines Bauern hielt.
„Still!“, zischte der Vater dem Kind zu.
Merin kaute auf seiner Unterlippe. Dazu hatte er sich nichts überlegt. Was sollte er nur sagen? Er zwang sich zu einem Lächeln.
„Chirogan ist noch sehr erschöpft, aber er hat die Krankheit überstanden“, antwortete er dem Mädchen freundlich. Er musste achtgeben, dass seine Worte nicht später Angst und Panik auslösen könnten, wenn man sie in den Tavernen weitergab. „Es war eine sehr schlimme Krankheit, aber Chirogan ist stark. Nun muss er sich nur wieder erholen.“
Merin strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann bedeutete er den Wachen mit einem Nicken, die Piken zu lösen. Er betrat den Thronsaal und setzte sich auf den Stuhl, den er zu den Füßen des Podestes in der Mitte hatte aufstellen lassen. Merin würde sich nicht auf Chirogans Thron setzen, doch er musste irgendwo sitzen, denn die Staatsgeschäfte würden viel Zeit in Anspruch nehmen.
Langsam strömten die Menschen in den Saal. Viele Blicke gingen zur Decke, wo sie ihren kranken König vermuteten. Merin bemerkte gerührt, wie einige das Zeichen gegen Krankheiten und böse Zauber machten. Das Volk liebte Chirogan.
Die Sehnsucht nach dem jungen König wurde beinahe übermächtig und einen Moment konnte Merin weder atmen noch sehen. Er hörte nur das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, während er gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte.
Chirogan. Er musste den König finden. Und er würde diejenigen bestrafen, die ihn entführt hatten.
„Berater Merin?“, fragte eine Wache leise und Merin kehrte gedanklich in den Thronsaal zurück. Er atmete tief durch.
„Alles in Ordnung, danke. Wir können beginnen.“
Nach der Besprechung zog sich das Volk zurück und der Palast verwaiste. In den letzten Monaten war der Obere Palast ausgebaut worden, inzwischen thronte er auf dem Großvaterberg und bewachte die wachsende Burgsiedlung im Tal zwischen den Festungen, dem Wald und dem zweiten Berg am Waldrand. Auf dem Hügel der Großmutter waren nun Arbeiter damit beschäftigt, eine große Statue aus rotem Stein zu hauen. Merin hatte verlangt, eine Statue des Drachen Ashram auf den Berg zu setzen. Er fürchtete, dass Chiros angebliche Krankheit das Volk entzweien könnte und wollte ihnen ins Gedächtnis rufen, welchen Schrecken der junge König besiegt hatte, um die Krone zu erlangen. Vielleicht wollte er auch sich selbst weismachen, dass Chirogan viele Gefahren überleben konnte, selbst einen wütenden Feuerdrachen – um die Hoffnung zu erhalten, dass Chiro noch lebte.
Der Palast war fertig, ebenso die beiden Festen auf den Hügeln, die zum Großvater führten. Die Feste des Königs war über eine schlanke Brücke mit der Feste der Krone verbunden – jene Brücke, die Merin zerschlagen hatte, um die schwarzen Reiter abzuschütteln. Jene düsteren Ritter waren nicht wieder aufgetaucht, aber Merin hatte trotzdem darauf bestanden, eine hohe Mauer um die Burgsiedlung im Tal zu ziehen und eine zweite Feste an den Fuß des Großmutterberges zu bauen. Die Bewohner der kleinen Hütten, die sich in den Schatten der beiden Berge duckten, konnten dort im Notfall Schutz finden.
Merin wanderte durch die leeren Hallen. Nur wenige Bedienstete waren geblieben, eben diejenigen, die von Chiros Verschwinden wussten. Sie halfen Merin, das Verschwinden des Königs als lange Krankheit zu tarnen.
Auf der Suche nach ein wenig Zuspruch lenkte Merin seine Schritte in Richtung Küche, wo Gondula mit bewundernswerter Kompetenz regierte. Die füllige Frau lächelte breit, als Merin eintrat, und scheuchte dann einige Mädchen auf, die mit dem Schrubben der Fußböden beschäftigt waren.
„Was trödelt ihr so? Macht hinne oder muss ich euch Beine machen?“ Dazu wedelte sie mit ihren Armen, dass das herabhängende Fleisch klatschte. Merin zog sich einen Stuhl heran und lächelte. Er mochte Gondula.
„Was gibt’s?“, fragte sie ihn ohne jedes höfliche Gebaren. Das hatte sie schnell abgelegt und war Merin damit umso mehr ans Herz gewachsen.
„Das wollte ich dich fragen“, erklärte er. „Krankheitsfälle? Hungernde?“
Gondula nickte. „Wie immer. Eine Gruppe junger Burschen aus irgendeiner Siedlung, von der noch kein Mensch gehört hat, ist gestern im Dorf eingetroffen. Sie sind irgendwo untergekommen, aber sie werden Nahrung und auch Kleidung brauchen.“
Merin nickte. „Sehr gut.“
Gondula schüttelte den schwarz gelockten Kopf. „Aufpassen, Berater. Wenn jemand dich so reden hört … !“
Merin seufzte. „Ich hoffe einfach, dass im Palast keine Spione unterwegs sind. Du würdest doch eh jede Küchenschabe bemerken.“
„Das schon, und die kann ich tot treten. Bei Menschen wird einem das nicht so schnell nachgesehen“, warf Gondula ein. „Ehrlich, wenn ich könnte, würde ich die Hälfe dieser arschkriecherischen Grafen und Lords zur Tür hinaus jagen!“
Merin musste kichern, als er sich die Szene vorstellte: Gondula, wie sie wie ein Derwisch hinter den panischen Adelsleuten herfuhr, einen Staubwedel schwingend, während die Söhnchen reicher Männer zum ersten Mal erlebten, dass ihnen die Welt nicht zu Füßen fiel …
„Leider brauche ich sie noch“, sagte er dann, wieder ernst. „Ohne sie würden unsere Landesgrenzen im Nichts hängen.“
Gleichzeitig drängte sich ein neuer Gedanke auf. Die schwarzen Reiter, die ihn damals verfolgt hatten, kamen sicherlich nicht aus dem neu erblühenden Königreich. Irgendwo mussten sie über die Grenze gekommen sein, von dem dortigen Grafen unbemerkt – oder mit dessen Hilfe. Befanden sich vielleicht Verschwörer direkt hier, im Herzen des königlichen Rates?
„Ich nehme alles, was verderblich ist“, sagte Gondula und riss Merin aus seinen Gedanken. Er sah, wie sie einen großen Korb mit Essen füllte.
„Was?“
„Die Neuen? Die Jungen vom Arsch der Welt?“
„Oh, ja, die.“ Merin erinnerte sich. „Bring ihnen ruhig auch etwas Brot mit. Ich meine, hier oben brauchen wir ja nicht so viel.“
Er sah zu, wie Gondula einpackte. Seit Chirogans Verschwinden taten sie so, als wäre der König noch hier. Doch um den Schein zu wahren, musste Merin auch genügen Lebensmittel bestellen, ganz zu schweigen von Medizin. Damit sie nicht alles wegwerfen mussten, brachte Gondula einige der Vorräte zum Burgdorf, wo es Menschen gab, die das Essen gebrauchen konnten – und nicht nachfragten, woher es stamme.
Immer noch in düsteren Gedanken versunken verabschiedete Merin sich schließlich von der Köchin. Die Sonne sank und ihre goldenen Strahlen fluteten die leeren Gänge des unteren Palastes.
Drei Monate waren vergangen. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, es war jene Zeit des Jahres, da die Welt stillzustehen schien.
Und von Chirogan gab es keine Spur, keinen Hinweis, kein Zeichen. Es war niemand mit einer Lösegeldforderung erschienen, die schwarzen Reiter waren nicht wieder aufgetaucht und Merin versuchte, die Regierungsgeschäfte zu leiten, die er sich ab heute auf die Schultern geladen hatte.
Es war ein Verzweiflungsakt gewesen, um der drückenden Stille und Bewegungslosigkeit zu entgehen. Er konnte nicht länger warten, dass Chiro vielleicht doch zurückkehrte, und zwischendurch lange Ausritte unternehmen, auf der hoffnungslosen Suche nach Spuren. Irgendjemand musste sich um das Königreich kümmern und Merin hoffte, dass er das übernehmen könnte.
Er erstarrte, als ein Geräusch die tödliche Stille des unteren Palastes durchbrach. Merin Herz setzte einen Schlag aus, raste dann.
Das Geräusch kam von der Haupttreppe, dem Zugang zum Berg.
Es waren Pferdehufe.