Das Geräusch wurde unerbittlich lauter, während Merin noch unschlüssig auf dem obersten Absatz der Treppe stand. Unzählige erschreckende Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf – die schwarzen Reiter, wie sie die Burg stürmten oder eine Horde Adeliger, die irgendwie von Chirogans Verschwinden gehört hatte und nun selbst die Macht übernehmen wollte.
Doch dann erschien ein einzelnes Pferd hinter der Kante des Berghang, ein schwarzes Pony mit weißen Flecken und einer einzelnen Reiterin: Nicht mehr als ein junges Mädchen, vielleicht nicht einmal erwachsen. Sie trieb ihr Pony über die Treppe an der Außenwand des Berges herauf bis vor Merins Füße. Er wich vor dem Tier zurück, unsicher, was hier vor sich ging.
„Ich finde, das ist dreist von dir“, sagte das Mädchen und sah ihm unverwandt in die Augen. „Du suchst ihn nicht einmal, stattdessen übernimmst du seinen Platz, so selbstverständlich, als würde er nicht fehlen. Wenn man einmal Geschichtsbücher über euch beide schreibt, wäre das ein trauriges Ende eurer gemeinsamen Herrschaft. Keine schöne Geschichte. Man würde aus dir wohl einen opportunistischen Verräter machen.“
Merin war sprachlos. Das Mädchen wusste Bescheid! Noch ehe er sich besinnen und etwas sagen oder fragen konnte, riss das Mädchen an den Zügeln und ihr Pony stieg auf die Hinterhand, wirbelte mit schrillen Wiehern herum und galoppierte davon, so schnell, wie es gekommen war.
Merin stand einige Sekunden einfach nur da, einen Fuß nach hinten gesetzt, genauso, wie er auch vor dem Pony gestanden hatte. Sein Herz und seine Gedanken rasten. Das Mädchen wusste Bescheid – es wusste von Chirogans Verschwinden!
Dann riss er sich zusammen und rannte die Treppe herunter. Er kam gerade rechtzeitig an der Kurve an, um zu sehen, wie das gepunktete Pony die Feste des Königs durchquerte und auf die Brücke zwischen letzterer und der Feste der Krone donnerte.
Merin fluchte, drehte um und stürmte in den Stall. Er zerrte Wildfang aus dessen Box und sprang auf den Rücken des Mustangs, ohne sich um das Zaumzeug zu kümmern. Während sein Reittier zur Treppe rannte, mit der impulsiven Energie, die Merin so an ihm schätzte, riss der Waldläufer vom Pferderücken aus seinen Bogen und den Köcher mit Pfeilen von der Wand. Beides hing in der Nähe des Torbogens, genau für solche Situationen. Chirogan hatte ihn ausgelacht und gemeint, er wäre ein paranoider Narr.
Wildfang donnerte über die Treppe, erst außen am Berg, dann durch den Fels hindurch, durch die Feste des Königs, über die Brücke, dann durch die lange, gewundene Spirale in der Feste der Krone, die nur dazu geschaffen war, angreifende Reiter auszubremsen. Am Ende der Feste schloss sich ein neuer Gang an, ein Graben, dessen Seite mit einer steinernen Mauer voller Schießscharten befestigt war: Der Gang der tausend Augen. Wildfang donnerte über eine schmale Brücke, die über einen Lavagraben zum Wachtturm führte. Der Wachtturm – die Dritte Feste – war der einzige Zugang zum Palast. Mehrere Soldaten starrten Merin nach, als er auf die Wiesen ritt.
Dann lagen die Wiesen vor ihnen. Die fremde Reiterin war am Horizont zu sehen, wo sie in Richtung Meer ritt. Auch Merin kehrte dem Palast den Rücken und trieb Wildfang mit lauten Schreien an.
„Schneller! Schneller!“
Die Fremde hatte einen großen Vorsprung, doch Wildfang war etwas größer als ihr Pony. Und außerdem war der Mustang zur Hälfte ein Rennpferd. Merin beugte sich tief über die Mähne von Wildfang, die Augen fest auf das schwarze Pony gerichtet. Donnernd flog Wildfang über dem Boden dahin, schnell und schneller, der Wind schlug Merin heiß entgegen.
Immer noch raste sein Herz. In Gedanken ging er durch, was für eine Katastrophe es bedeutete, wenn jemand die Wahrheit über Chirogans Krankheit wusste. Wie musste seine eigene Entscheidung, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, in dem Licht aussehen? Was mochte geschehen, wenn alle Welt wusste, dass Chirogan fort war? Panik würde ausbrechen, als wäre Ashram zurückgekehrt.
Er sah, wie die fremde Reiterin den Kopf wandte. Ob sie sein grimmiges Gesicht erkennen konnte? Er jedenfalls bildete sich ein, zu sehen, wie sich ihre Augen weiteten. Sie hatte wohl nicht geglaubt, dass er ihr wirklich folgen würde.
„Schneller, Wildfang!“, rief er.
Er musste die Reiterin einholen, um jeden Preis. Er würde sie zur Rede stellen.
Wildfang rannte, wie er vielleicht noch nie gerannt war. Merin merkte, dass er bei den letzten Ausritten nie mit dem Herz dabei gewesen war. Er hatte Wildfang und Sturmtänzerin die Bewegung verschafft, die beide brauchten, doch es war nur eine lästige Pflicht gewesen, eine stetige Erinnerung an den Tag, der ihn alleine mit einem Königreich und drei Reittieren zurückgelassen hatte.
Jetzt durfte Wildfang zum ersten Mal seit Langem wieder galoppieren. Der Mustang griff weit aus, begierig zu zeigen, wie schnell er sein konnte. Die fremde Reiterin rückte immer näher und näher, bald wäre sie in Reichweite von Merins Bogen.
Doch er zog die Waffe nicht. Der Wind hatte seinen Schreck fortgeblasen, es blieb grimmige Entschlossenheit. Doch es handelte sich immerhin um ein Mädchen, höchst wahrscheinlich nur ein Bote. Er würde weder sie noch ihr Pony verletzen, nicht, solange Wildfang beide einholen konnte.
Der Palast und die Kronsiedlung blieben nun hinter ihnen zurück. Die Reiterin floh in jenen Bereich der Wiesen, die den Kriegern und Jägern vorbehalten waren – jenen Jägern, die sich in die tiefen Höhlen und dunklen Winkel des Landes wagten, die die Nacht durchzogen, um Monster zu erlegen. Überall erhoben sich nun Festungen und Burgen auf den unzähligen kleinen Hügeln. Manchmal waren es nur kleine Steinhäuser, manchmal tödliche Fallen, manchmal auch richtige, befestigte Burgen, geschützt gegen jede Art von Angriff, gegen Explosionen und Pfeile. Hier und da gab es einen Weg oder eine Straße, markiert durch weiße Tulpen und häufig durch Zäune und Wälle befestigt – Versorgungsstraßen, die die Bauern vor den Gefahren der Welt schützen sollten. Doch in diesem Viertel gab es andere Prioritäten als Straßen, so hielten sich auch Merin und die Fremde auf den wilden Hügeln, während die Sonne unbarmherzig vom Himmel brannte. Merin hoffte, dass er dieses Gebiet auf dem Rückweg nicht nach Sonnenuntergang würde durchqueren müssen – keine angenehme Vorstellung.
Die fremde Reiterin wurde immer noch nicht langsamer. Wildfang schnaufte inzwischen schwer, doch der Mustang hielt sein Tempo ebenfalls. Das Reich der Jäger glitt vorüber, die beiden Reiter durchquerten es. Quälend langsam holte Wildfang auf. Immer noch gab es keine Hoffnung, der Reiterin etwas zuzurufen. Aber sie musste doch sehen, dass er sie einholen würde!
Merin fürchtete plötzlich, dass es sich um eine Falle handeln könnte. Sie näherten sich der Grenze von Telion, dem düsteren Wolfswald und den unerforschten Wiesen neben diesem Forst. Merin wusste, dass das Geschlecht Hallenhort hier herrschte, eine recht große und mächtige Adelsfamilie.
Ob das Mädchen von ihnen stammte? Waren die Hallenhorts die Verräter?
Merin begann, sich wachsam umzusehen, während Wildfang unvermindert der Reiterin folgte. Am Horizont erschienen nun die düsteren Spitzen der mächtigen Tannen. Wolfswald – Merin hatte nicht vorgehabt, dorthin zu reiten. Im Wald wimmelte es von Wölfen, es war kein Ort für einen königlichen Berater – nicht einmal für einen Waldläufer.
Doch das Mädchen auf dem gepunkteten Pony ritt direkt auf den Wald zu. Merin trieb Wildfang von Neuem an. Was, wenn nun Chirogan irgendwo in diesem Wald war? Falle hin, Falle her – er musste herausfinden, was aus seinem Freund geworden war. Egal, was der Preis dafür war.
Das Pony tauchte in den Schatten der hohen Stämme ein. Merin und Wildfang folgten einige Herzschläge später.
Der Wald war weniger dicht als Großvaters Bart, trotzdem mussten beide Pferde ihre Geschwindigkeit verringern. Merin sah das Mädchen auf dem Pony im Zwielicht vor sich. Wildfang sprang über den unebenen Waldboden, rutschte auf einigen Steinen. Irgendwo hinter dem Wald lag das Meer, so viel wusste Merin. Spätestens dort würde er das Mädchen eingeholt haben.
Wildfang sprang vorwärts, immer noch so furchtlos wie beim ersten Ritt.
Zu Merins großem Erstaunen wurde das Pony langsamer, fiel in den Trab, dann in den Schritt. Glaube das Mädchen etwa, er würde sich nicht in den Wald wagen?
Jetzt hielt das kleine Pony an und seine Reiterin drehte es so, dass sie Merin ansehen konnte.
Er zügelte Wildfang. Das Mädchen wartete auf ihn – noch nie in seinem Leben war er so sicher gewesen, sich in eine Falle zu begeben. Und trotzdem, für das kleinste Lebenszeichen von Chirogan würde er alles wagen.
In sanftem Trab näherte sich Wildfang dem Pony und seiner schwarzhaarigen Reiterin, die Merin breit grinsend erwartete. Sie hatte die Haare zu drei Zöpfen geflochten. Sie wirkte absolut ruhig, als Wildfang sich ihr schließlich im Schritt näherte.
„Berater Merin?“, fragte das Mädchen – als ob sie das nicht wüsste!
„Wer bist du?“
„Mein Name ist Peki. Ich bin froh, dass du mir gefolgt bist – ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen.“