Pekis Offenbarung war noch unglaublicher als die ganze wilde Jagd quer durch Telion. Merin ließ Wildfang anhalten und starrte das junge Mädchen einige Momente lang einfach nur sprachlos an.
Sie war in den Palast eingedrungen, dann geflohen – und nun wollte sie ihm wichtige Informationen geben?
Peki stieg unterdessen vom Rücken ihres Ponys und band das Tier an einen tiefen Tannenzweig. Sie sattelte das Pony seelenruhig ab und rieb es dann mit Gras trocken.
„Du hast ein schnelles Pferd“, eröffnete sie das Gespräch. „Meine arme Jen ist am Ende!“
„Jen?“, fragte Merin. „Dein Pferd?“
„Eigentlich heißt sie Shajenna“, erklärte Peki im Plauderton. „Aber das ist ein doofer Name, also rufe ich sie Jen.“
Jetzt stieg auch Merin ab. Das Mädchen verunsicherte ihn. Er spürte Wut in sich aufsteigen.
„Also. Wer bist du und warum lockst du mich in diesen Wald?“
„Ich bin Peki. Peki Teador, die Tochter von Jock Teador. Vielleicht kennt Ihr diesen Namen?“
Ihre Stimme war höflicher geworden. Merin ließ sich besänftigen.
„Natürlich kenne ich den Namen. Jock hat Piernans Stall übernommen nach … nach Piernans Verschwinden.“
„Und dem Verschwinden von König Chirogan, sprecht es ruhig aus“, ergänzte Peki.
„Woher weißt du das?“
„Er ist also wirklich verschwunden? Ich hatte es nur vermutet.“
Merin biss sich auf die Lippe. Jetzt stand er wie ein Idiot da.
Peki war damit fertig, ihr Pferd zu striegeln, und trat zu ihm. „Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir sicher. Ich habe es erraten, weil … weil ich gesehen habe, was Piernan geschehen ist.“
„Was?“, fragte Merin perplex. „Ich dacht, er sei geflohen!“
Peki schüttelte den Kopf und wurde bleich. Sie sah mit einem Mal viel zu jung aus, um den königlichen Berater mitten in die Wildnis gelockt zu haben.
„Er ist tot“, stieß sie hervor. „Er wurde entführt, ich hatte es beobachtet. Und später habe ich im Niemhain seine Leiche gefunden!“
Merin musste schlucken. „Aber … wenn Piernan nicht der Entführer von Chirogan ist …“ Er wagte nicht, den Gedanken auszusprechen. Piernan hatte etwas gewusst, die Entführer hatten ihn auch entführt und ihn ebenfalls getötet – genau wie Chirogan. Der König war tot und es war Merins Schuld. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht länger behaupten durfte, dass Chirogan bloß krank wäre …
„Es lag nur eine Leiche im Wald“, unterbrach Peki seine Gedanken. „Ich habe den Niemhain Stück für Stück abgesucht, doch es gab nur Piernan.“
Merin bemerkte erstaunt, dass das Kind ihn beruhigen wollte. Dabei war sie vielleicht … 15 Jahre alt?
„Ich bin mir sicher, dass Chirogan noch lebt.“
„Warum?“, fragte Merin heiser.
„Denk doch mal nach!“ Pekis Höflichkeit war offenbar erschöpft, „Wenn ich zwei Personen töte und verstecke, würde ich höchst wahrscheinlich das gleiche Versteck für beide Leichen wählen! Doch im Niemhain gibt es nur einen Toten, nicht einmal besonders gut versteckt. Und es gibt kein Grab oder etwas ähnliches, wo sich ein toter König verbergen könnte.“
„Also lebt er noch.“ Merin fühlte sich nicht völlig überzeugt, doch er musste einfach daran glauben. „Was ist geschehen?“
„Sie haben König Chirogan entführt“, sagte Peki, als wäre es das Einfachste der Welt. „Piernan war ein Zeuge, also haben sie ihn aus dem Weg geräumt.“
„Wer, sie?“, stelle Merin nun die wichtigste Frage. „Die grauen Ritter?“
Peki zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nichts von grauen Rittern. Aber mein Vater ist in die ganze Geschichte verwickelt, so viel ist klar!“
Merin starrte das junge Mädchen an. „Dein … Vater?“
„Jock Teador? Der Mann, dem nun fast ganz Niemhain gehört?“ Peki klang ungeduldig.
„Ich weiß. Aber … warum sagst du mir das?“, fragte Merin. „Du weißt, dass er die Todesstrafe erhalten könnte, richtig?“
Peki wich seinem Blick aus. „Ja, schon. Aber – verdammt, es ist doch wohl nicht richtig, einen Konkurrenten töten zu lassen und einen König zu entführen!“
„Du meinst, dein Vater hat beides getan?“
„Nein, ich denke, er hat Piernan angeschwärzt, weil er Niemhain haben wollte. Vielleicht hat er es so gedreht, dass Piernan überhaupt zum Zeugen wurde – oder er hat einfach behauptet, dass Piernan was gesehen hat. Mein Vater besitzt nicht genug Ehrgeiz, um König Chirogan zu entführen. So größenwahnsinnig ist er nicht! Aber er hat diesen grauen Rittern bestimmt geholfen.“
Merin sah auf Peki herab. Sie war gleich zwei Köpfe kleiner als er – und unglaublich tapfer.
„Also ist dein Vater ein Komplize“, überlegte er laut. „Wir müssen ihn fragen, was er weiß.“
Peki schüttelte den Kopf. „Er hat bereits einen Plan in der Hinterhand, wie er entkommen kann, falls ihn irgendjemand auf Piernans Verschwinden anspricht. Er darf keinen Verdacht schöpfen, sonst ist er auf der Stelle fort!“
„Wie das?“
Peki schüttelte nur den Kopf. „Ich kann es nicht erklären … er hat etwas im Keller, er hat mich angewiesen, es zu zerstören, falls er es jemals benutzen muss – dann würde ihm niemand folgen können.“
„Und wenn du dieses … Ding … einfach nicht zerstörst?“
Peki presste die Lippen zusammen. „Dann tut das jemand anderes für ihn. Der Stallbursche oder Mutter oder wen er sonst noch eingeweiht hat. Und er hat gesagt, dass dann jemand kommt und Jen tötet, wenn ich ihn verrate.“
„Das ist furchtbar!“, stieß Merin aus. Kein Wunder, dass Peki ihren eigenen Vater ans Messer lieferte – der Mann war eiskalt, seine eigene Tochter so zu erpressen.
„Aber ich habe einen Plan“, fuhr Peki fort. „Ich kann ihn nämlich aushorchen, ohne dass er Verdacht schöpft.“
Merin hatte sich immer noch nicht beruhigt. „Ich lasse ihn in den Kerker werfen!“
„Nein!“, widersprach Peki. „Er darf nichts wissen. Ansonsten erfährt es nämlich auch sein Auftraggeber.“
Merin sah das Kind an. „Auftraggeber? Ich bin ganz Ohr!“
„Hatte ich das nicht erwähnt? Dad bekommt Anweisungen.“
„Von wem? Rede, Kind!“
„Ich weiß es nicht“, sagte Peki elend. „Ich habe ein paar Mal seine Stimme gehört, doch wenn er da ist, schließt mein Vater sein Arbeitszimmer ab. Es muss einen geheimen Eingang geben. Jedenfalls habe ich den Mann nie gesehen.“
„Aber gehört?“ Merin hielt sich mühsam davon zurück, Peki an den Schultern zu greifen und zu schütteln. „Wer ist es?“
„Er heißt Garabath“, erklärte Peki. „Es ist ein Mann und er ist … unheimlich.“ Sie schüttelte sich.
Merin seufzte. „Einen Garabath kenne ich nicht. Ist es ein Pseudonym?“
„Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Aber ich würde ihn sofort erkennen, wenn ich seine Stimme nochmals hören würde. Er klingt … grausam. Wie ein sehr grausamer Mann.“
Bei diesem beruhigenden Ausblick hob Merin beide Augenbrauen. Dann übermannte ihn die Angst. Der Gedanke, dass Chirogan in den Fängen eines solchen Monsters war … und jeder konnte sich hinter dem Pseudonym verbergen, selbst die Stimme konnte verstellt sein!
Peki lächelte plötzlich wieder. „Aber gut, wir sind jetzt immerhin zu zweit!“
„In der Tat. Aber du sollst dich vielleicht besser zurückhalten.“
„Wie, weil ich ein Mädchen bin? Hör mal zu, Herr Berater: Ich habe keine Angst! Und wenn mein Vater in irgendeine furchtbare Sache geraten ist, dann werde ich nicht tatenlos dasitzen und abwarten, was passiert. Und überhaupt, du brauchst mich!“
„Tue ich das?“, fragte Merin, ein amüsiertes Lächeln im Mundwinkel.
Mit unerschütterlichem Selbstvertrauen nickte Peki. „Ich werde meinen Vater für dich ausspionieren.“
Merin seufzte. Diesem Kind konnte er nicht widersprechen. „Na gut. Aber pass auf, dass du nicht in Gefahr gerätst.“
Peki legte die Stirn in düstere Falten. „Ich bin schon längst in Gefahr. Ich kann nur hoffen, dass wir diese Verwirrung auflösen, bevor es schlimmer wird!“
Darauf konnte Merin nichts erwidern.
Peki grinste schon wieder, die Düsternis war verflogen wie ein Wolkenfetzen, der an der Sonne vorbei zog. „Aber jetzt komm, Merin! Ich muss dir etwas zeigen, du wirst es nicht glauben. Dein Pferd kann doch wieder rennen?“
Merin sah zu Wildfang und Jen herüber, die einander freundlich beschnupperten. Er nickte. „Wildfang braucht die Bewegung sogar.“
„Schön“, sagte Peki und hob ihren Sattel auf. „Denn dann habe ich eine schöne Idee für einen Ausritt!“
Kopfschüttelnd und überrumpelt von dem plötzlichen Wandel der Ereignisse (und der Stimmungen des Mädchens) folgte Merin ihr zu den Pferden.