Sie ritten schweigend durch den Wald, mal im Trab, mal im Schritt, und über den Himmel kroch die erste, zartrosa Färbung des Sonnenuntergangs, gefolgt von einem hauchdünnen blauen Schleier, durch den die ersten Sterne blitzten.
Peki sprach kaum. Sie verriet Merin nicht, was sie ihm zeigen wollte, und auf Fragen bezüglich ihres Vaters oder des rätselhaften Garabaths reagierte sie wortkarg. Es war, als hätte sie Merin bereits alles erzählt und beschlossen, keinen wertvollen Atem mehr zu verschwenden.
Merin war damit nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil, er genoss die Möglichkeit, etwas Klarheit und Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Wortlos zählte er auf, was er von Peki erfahren hatte und wie diese Informationen seine bisherigen Theorien unterstützten oder zerstörten.
Er hatte fest geglaubt, dass Piernan hinter Chirogans Verschwinden steckte. Nun hatte er erfahren müssen, dass Piernan nicht nur unschuldig, sondern selbst ein ebensolches Opfer wie Chirogan war. Piernan hatte vielleicht etwas gesehen, vielleicht auch nicht – daraufhin war er von einem Konkurrenten aus dem Weg geräumt worden. Jock Teador, Pekis Vater, besaß nun von allen Pferdehändlern in Niemhain die meiste Macht, denn er hatte schnell gehandelt und sich Piernans Imperium einverleibt. Merin hätte sich dafür ohrfeigen können, dass ihm das nicht schon vorher aufgefallen war. Er hätte misstrauisch werden müssen!
Noch beunruhigender war Pekis Bericht über Garabath, der für sie im Moment nicht mehr als eine Stimme war. Wer war er? Es war wahrscheinlich, dass er für Chirogans Entführung verantwortlich war. Merin würde außerdem sein rechtes Bein verwetten, dass Garabath auch die grauen Ritter ohne Wappen kommandierte, die ihn nach Chirogans Verschwinden verfolgt hatten.
Was unklar blieb, war das Motiv. Warum sollte jemand Chirogan entführen? Eine Erpressung kam nicht in Frage – bis heute war keine Lösegeldforderung eingetroffen. War der Zweck, das Königreich Telion ins Chaos zu stürzen? Ein Putsch, um einen der Lords an die Macht zu bringen?
Auch daran konnte Merin nicht wirklich glauben – in diesem Fall hätten sie Chirogan vermutlich getötet (was für eine schreckliche Vorstellung!) und Merin die Schuld daran gegeben. Denn im Moment stand er zwischen allen Emporkömmlingen und dem Thron, scheinbar mit Chirogans Macht als Rückendeckung.
Doch warum sonst sollte man Merins jungen Freund entführt haben? Aus welchem Grund entführte man einen König, ohne ihn zu töten? Und Merin musste einfach glauben, dass Pekis Theorie stimmte und Chirogan noch lebte. Welchen Sinn hätte sein Leben sonst? Er war immer Chirogans Freund gewesen, war ihm ein großer Bruder gewesen, als sie noch als Kinder durch Großvaters Bart gestreift waren, später sein Beschützer und schließlich sein Leibwächter und Berater.
Fast sein ganzes Leben lang – und auf jeden Fall so lange, wie Merin sich erinnern konnte – war er immer an Chirogans Seite gewesen. Sie waren schon miteinander verwachsen wie zwei krumme Eichen, die man zu nah aneinander gepflanzt hatte, die sich in Stürmen aneinander lehnten und sich gegenseitig zum Sonnenlicht trugen, die Äste derartig ineinander verschlungen, dass man nicht sagen konnte, welches Blatt von welchem Stamm kam.
Jetzt war Chirogan fort und Merin fühlte sich, als wäre ein großer Teil seines Wesens mit dem König verschwunden. Er hatte aus ganzem Herzen geschworen, Chiro zu beschützen. Um seiner selbst willen, denn ohne seinen jungen Freund war er nicht Merin.
Diese plötzliche Erkenntnis schmerzte so sehr, dass sie ihm für einige Momente den Atem nahm. Doch es stimmte, er war zerbrochen. Er konnte nicht ewig ohne Chiro durchhalten – er brauchte den jungen Mann, der ihm wie ein Bruder war – brauchte ihn wie die Luft zum Atmen oder das Wasser zum Trinken. Er brauchte Chirogans fröhlichen, unbesorgten Mut, seine Abenteuerlust und seinen Freiheitsdrang, um selbst davon zu zehren.
Zwei Eichen! Ha!, dachte er bitter. Chirogan ist eine Eiche, doch ich bin nur Efeu – ich kann nicht wachsen ohne ihn.
„Merin?“ Pekis Stimme riss ihn aus den düsteren Gedanken. Er sah auf und erkannte, dass sie den Waldrand erreicht hatten. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, der Sonnenuntergang war blutig rot und am Himmel zog blau und kalt der Nachthimmel auf, gesprenkelt mit Sternen. Vor ihnen fiel das Gelände zu einem kleinen Flüsschen hin ab, auf dessen Wellen sich die Sterne spiegelten. Dahinter lagen die Wiesen. Sie waren nicht auf direktem Weg zurückgeritten, Peki musste vorhaben, einen Bogen um das Gebiet der Jäger zu schlagen.
Das Mädchen beugte sich vor und streichelte Jen.
„Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich sie Starlight genannt“, erklärte sie Merin mit einem verzauberten Lächeln. „Die weißen Flecken in ihrem Fell sehen aus wie Sterne.“
„Du hast dein Pferd nicht selbst benannt?“
„Vater hat sie benannt. Und ich hatte keine Namensplakette – egal, inzwischen haben wir uns beide an den Namen gewöhnt, nicht wahr, Jen?“
Wie zur Antwort schnaubte das Pony. Peki tätschelte lachend ihren Hals. Dann sah sie Merin an. „Bereit für eine Runde Galopp?“
„Bei den Lichtverhältnissen?“ Merin zögerte, doch Peki hatte nicht auf eine Antwort gewartet. Schon stürmte Shajenna den kleinen Hang am Waldrand herunter, auf den Fluss zu.
Wildfang wartete ebenfalls nicht auf Merins Entscheidung, sondern galoppierte hinterher. Merin stieß einen entsetzten Schrei aus, als der Hengst über den steilen Hang rannte, direkt auf den Fluss zu. Jen stürmte mitten durch das Wasser. Wildfang machte einen weiten Sprung, landete in der Mitte des Flusses und sprang von dort aus ans Land.
Sie hatten Jen eingeholt. Seite an Seite erklommen die Pferde den Hang und eroberten die hügeligen Wiesen am Stadtrand. Der Wind griff kalt in Merins Haar. Wildfang hob den Kopf und wieherte.
Zu Merins Erstaunen erhielt der Halbmustang eine Antwort. Auf einem Hügel nicht weit entfernt erschienen mehrere Pferde im Galopp. Sie sahen zu den beiden Reitern herüber und passten sich ihrem Tempo an, hielten sich jedoch wachsam außer Reichweite eines Bogens.
Sie trugen keine Reiter, keine Sättel oder Trensen und Merin konnte auch keine Namensmarken erkennen.
„Wildpferde!“, stieß er überrascht aus.
Neben ihm lachte Peki übermütig. „Genau das wollte ich dir zeigen!“
Merin staunte nicht schlecht. Selbst aus der Entfernung konnte er das ungebändigte Temperament der Wildpferde erkennen. Das waren Wesen, die sich keinem Joch und keiner Trense beugen würden. Es waren Könige und Königinnen der Hügel und sie dienten nur der Freiheit. Voll überschäumender Freude rannten sie mit den Menschenpferden und ihren Reitern, über das wilde Land jenseits der Zivilisation, zwischen Stadt und Meer. Aber sie würden nicht so nah kommen, dass ihre Freiheit in Gefahr geriet.
Sie ritten lange dahin, in einem gemächlicheren Tempo als auf dem Hinweg. Die Wildpferde begleiteten Merin und Peki ein ganzes Stück, doch als sie die Ländereien der Stadtgrenze erreichten, wo der Adel für Recht und Ordnung sorgte, wo Wachttürme und Häuser standen, blieben die wilden Pferde zurück.
Merin und Peki ritten weiter, die ganze Nacht hindurch, nur die Wiesen vor und den Sternenhimmel über sich. Die Luft war kalt und klar, so friedlich, wie Merin noch nie eine Nacht erlebt hatte. Im Stillen nahm er sich vor, von nun an ab und zu einen Abend auf dem Balkon zu verbringen und den Sonnenuntergang zu beobachten – die Geschäfte des Königs konnten sicherlich einige Stunden warten. Es war eine Schande, dass er so selten die Muße hatte, eine perfekte Nacht wie diese zu bewundern.
Es war ein zeitloser, ein unendlicher Ritt, während Land und Himmel scheinbar unverändert dahin glitten. Pony und Mustang griffen kräftig und rhythmisch aus, mit majestätischer Gelassenheit galoppierten sie über das Land, wo eines Tages Telion sein würde – eine Stadt wie keine zweite. Die Stadt, wo der Drache Ashram ein Ende gefunden hatte und Chirogan zum jungen Helden und König geworden war.
Als der Großvaterberg und der Palast in Sicht kamen, ging die Sonne bereits wieder auf. Die Pferde trotteten Seite an Seite und Merin genoss mit geschlossenen Augen und in den Nacken gelegtem Kopf die ersten Sonnenstrahlen.
„Hier trennen sich unsere Wege“, sagte Peki schließlich, als sie sich den Festungen näherten. „Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden. Vater soll keinen Verdacht schöpfen.“
„Wie halten wir dann Kontakt?“
„Ich werde kommen. Sagen wir … in einer Woche? Wir treffen uns bei der Drachenstatue, die wollte ich mir sowieso schon mal genauer ansehen!“, Peki grinste breit und Merin musste das Lächeln erwidern. Obwohl er müde sein sollte, fühlte er sich erquickt. Der nächtliche Ritt hatte wahre Wunder gewirkt.
„In einer Woche, beim Drachen.“ Er nickte. „Ich finde schon einen Grund, warum ich dort herumklettern sollte.“
„Das dachte ich mir.“ Peki grinste nochmals und trieb Jen an. Das Pony beschleunigte und hielt auf die große, befestigte Straße nach Niemhain zu – eine Straße, die Merin kürzlich hatte anlegen lassen und deren Anfang eine Brücke über die gefährliche Kluft bildete.
Er lenkte Wildfang in Richtung der Festen. Mehrere Soldaten starrten ihn neugierig an. Schwer zu sagen, ob es dieselben waren, die seinen dramatischen Abgang am letzten Tag beobachtet hatten – jedenfalls musste sich die Jagd herumgesprochen haben. Merin konnte nur hoffen, dass niemand auf die Idee kam, hinter der gejagten Reiterin würde sich eine Verbündete verstecken. Er ritt mit unbewegtem Gesicht bis zum Palast und dort erst gestattete er sich ein Lächeln, während er sich um den verschwitzten Wildfang kümmerte.
Nichts hatte sich geändert und trotzdem hatte er mit einem Mal neue Hoffnung – er konnte Chirogan finden und er würde es schaffen, seinen Freund zu retten.