Merin war so ungeduldig, dass er schon früh morgens zur Großmutter aufbrach. Die letzte Woche hatte sich zäh in die Länge gezogen, während er auf das Treffen mit Peki wartete, wo er Neuigkeiten von Chirogan erhalten sollte.
Nun war der Tag endlich gekommen, genau eine Woche nach ihrem seltsamen Ausritt. Merin war auf der Baustelle, zwischen den Arbeitern, die die gewaltige Drachenstatue errichteten.
Merin spazierte zwischen den Männern und Frauen hindurch und gab vor, ein wachsames Auge auf den Bau zu werfen. Im Grunde nahm er kaum wahr, wie der orange Unterbauch des Drachen – mehr als dieses Fundament war noch nicht fertiggestellt – an ihm vorbeiglitt, während er den Weg zum Gipfel einschlug.
Seit dem Tag, als Chirogan König geworden war, hatte Merin den Großmutterberg nicht mehr betreten. Wie sich herausstellte, lag die Erinnerung noch wie ein dicker Nebel über dem Hügel und Merin ertappte sich dabei, dass er das Grollen der furchtbaren Feuerechse zu hören glaubte.
Er durchquerte einen Engpass zwischen dem Fundament und der losgelösten Sohle eines Drachenfußes, direkt unter einer mächtigen, gelben Rückkralle hindurch. Die Statue würde riesig werden, lebensgroß, wenn nicht sogar etwas größer.
Es hatte Stimmen des Protests gegeben, als Merin vorschlug, eine Statue des Drachen zu bauen. Der Adel befürchtete, dass die Statue Angst in der Bevölkerung hervorrufen würde, dass sich die Burgsiedlung auflösen könnte. Sie hatten für eine Statue von Chirogan plädiert, doch Merin war standhaft geblieben. Sollten die Menschen sich ruhig daran erinnern, was für ein Monster hier früher gehaust hatte. Sollten sie sich ruhig erinnern, wie es vor Chirogans Herrschaft in Telion ausgesehen hatte, sollten sie sich an das Feuer und den Qualm erinnern.
Dann würden sie immer erleichtert sein, dass Chirogan sie gerettet hatte. Ein dankbares Volk, stolz auf seinen jungen Heldenkönig.
Merin erreichte die leicht abgerundete Kuppel des Berges, wo die Brust der Statue ruhte, sowie zwei Vorderpranken. Die Krallen waren bereits da, geformt mit unendlicher Kunstfertigkeit, geschwungene, gelbe Klauen. Merin erschauerte. Genau diese Pranken hatten ihn damals bedroht!
„Ist alles zu Eurer Zufriedenheit?“
Es war die Stimme eines Mannes, Merin hatte überhaupt nicht bemerkt, wie der Fremde neben ihn getreten war. Erstaunt sah er zur Seite und senkte dann den Blick. Dem kräftigen Tenor zum Trotz war der Besitzer der Stimme eher klein – insbesondere im Vergleich zu Merin – ein kräftiger, braungebrannter Mann in dessen kurzen, schwarzen Haaren sich das erste Grau an den Schläfen zeigte. Merin erinnerte sich an das Gesicht, doch ihm fiel kein Name ein.
„Er ist furchteinflößend“, sagte er mit dem Blick zum unfertigen Drachen. „Schon jetzt.“
„Natürlich fehlt noch der Hals, der Kopf und die Schwingen“, redete der Mann weiter. „Für die Flügel wollten wir gefärbtes Glas neben, dann verdunkelt der Drache nicht den ganzen Himmel.“
„Eine gute Idee.“ Merin forschte immer noch in seinem Gedächtnis und kam endlich darauf, wer der Mann war. Breg Handhab, der Baumeister. „Es wäre wohl kaum zum Vorteil der Bauern, wenn ihr Getreide keine Sonne mehr abbekäme.“
Breg grinste zu Merin herauf. „Es stimmt also, was man sich erzählt, Herr Berater: Ihr denkt immer auch an uns kleine Leute!“
Merin lächelte höflich, unsicher, ob sich in Handhabs Worten ein selbstironischer Witz verbarg. „Diese kleinen Leute sind das Fundament unseres Reiches“, sagte er deshalb ernst. „Ohne sie stehen die Mauern von Rittern und Adel äußerst unsicher.“
Breg Handhab lachte laut auf. Einige Arbeiter sahen neugierig zu ihnen herüber. „Ihr sprecht meine Sprache, Berater Merin! Ihr sprecht meine Sprache!“
Merin grinste den kleinen Mann mit ehrlicher Fröhlichkeit an. „Meister Handhab, wollt Ihr mich ein Stück herumführen und mir zeigen, was Ihr geplant habt?“
„Mit Vergnügen, Herr Berater Merin.“ Handhab nickte beflissen. „Mit größtem Vergnügen.“
Es sprach für Breg Handhabs offene und fröhliche Art, dass er Merin von den Gedanken an Peki und Chirogan ablenken konnte. Mit unerschöpflicher Energie, guter Laune und einfachen Worten zeigte und erklärte er Merin die Pläne für die gewaltige Drachenstatue. Die unterste Schuppenschicht lag bereits, ein breiter Streifen oranger Bauchschuppen. Was fehlte, war der schlangengleiche rote Körper mit den schwarzen Dornen, der sich den Berg herabringeln würde, die Schwanzspitze nah an der Königssiedlung. Die Hinterbeine, in den Berg gekrallt, würden der Konstruktion Halt geben und es dem steinernen Drachen ermöglichen, das aufgesperrte Maul zu den Wolken zu erheben – drohend und klagend zugleich. Die Schwingen würden sich vom Rücken aus über den Wald und die Siedlung spannen, getragen von einem dicken Stahlbalken, dem Flügelknochen, ebenfalls mit Krallen besetzt, während die Flughäute aus buntem Glas sein würden.
„Am liebsten würde ich ihm noch glühende Kohlen ins Maul setzen, wie in einem Leuchtturm“, vertraute Handhab seinem royalen Begleiter an. „Es gibt ein Gestein, das seit neustem gefördert wird – es ist durchzogen von Lava und glüht deshalb feurig rot. Doch wir werden wohl nicht die Mittel dafür haben.“ Bregs Gesicht wurde traurig.
„Es ist eine schöne Idee“, musste Merin zugeben und sah in den Himmel. Ihm kam es vor, als könnte er den Drachen dort schon sehen. Inzwischen waren dunkle Wolken aufgezogen und es hatte angefangen, zu regnen. Ein glühender Stern im Himmel könnte sicherlich einen tröstlichen Anblick bieten.
„Haltet Platz für diesen Stein frei“, schlug Merin vor. „Vielleicht lässt sich noch etwas Gold auftreiben.“
„Das würdet Ihr tun?“, fragte Breg Handhab und sah aus, als wolle er auf die Knie fallen und Merins Stiefel küssen.
„Ich kann nichts versprechen“, stellte Merin eilig richtig. „Aber die Idee gefällt mir sehr gut.“
Der kleine Baumeister strahlte trotzdem voller Begeisterung. Er war sichtlich sprachlos und suchte nach Worten, die seine Freude und Dankbarkeit ausdrücken könnten.
Doch Merins Blick wurde von etwas anderem angezogen. Ein Licht schimmerte durch den dichten Regen, blitzte auf, erlosch und erschien wieder, fast wie ein kleiner Leuchtturm.
Das Licht kam vom Großvaterberg. Eine Fackel, die sich in einem Fenster des unteren Palastes befinden musste, eine Sturmlampe, die abgedunkelt werden konnte.
Merin starrte durch den Regen, während die ferne Lampe blitzte, mal schneller, mal langsamer.
Er legte Breg Handhab eine Hand auf die Schulter und schob den kleinen Baumeister zur Seite. Seine Gedanken rasten – die Putzleute würden erst in ein paar Tagen ihre wöchentliche Runde durch den unteren Palast machen. Sonst hielt sich niemand dort unten auf, nur Merin nutzte die Räumlichkeiten noch.
Doch nun war jemand im unteren Palast!
Merin warf einen schnellen Blick in den Himmel, der sich hinter dem Regen schwarz zu färben begann.
Peki war nicht gekommen. Jetzt stand jemand Fremdes direkt im Palast und gab per Fackel ein seltsames Signal.
Es bestand die geringe Chance, dass es Peki war und sich der Plan aus irgendeinem Grund geändert hatte, doch wahrscheinlicher war es etwas Anderes.
Merin ließ den Baumeister stehen und rannte, wie er selten zuvor gerannt war, sprang rücksichtslos über den schlammigen Hang, stolperte und stürzte, rappelte sich sofort auf und hetzte weiter. Sein Knöchel schmerzte von dem Aufprall, doch Merin wurde nicht langsamer. Er sprang den Hang herunter, landete auf dem Boden – Schmerzen schossen durch Knöchel und Knie, doch er rannte weiter. In seinem Kopf herrschte völliges Chaos.
Peki konnte das Signal abgegeben haben, um ihn zu sich zu rufen. Es konnten Eindringlinge sein. Oder Chirogan, der zurückgekehrt war.
Angst, Hoffnung, Wut – das alles vermischte sich zu einem stürmischen Wirbel in Merins Gedanken. Er wusste nicht, was er tun und woran er glauben sollte.
Er musste so schnell wie möglich herausfinden, wer da im unteren Palast sein Unwesen trieb. Und wieso.
Der königliche Berater stürmte schlammbespritzt und atemlos am Waldrand entlang, dann den Großvaterberg hinauf. Er war ein Waldläufer und kannte alle Winkel des Landes, schon von Kindesbeinen auf.
Er allein wusste, wie man ungesehen in den Palast schleichen konnte.