Drei Tage später waren Thorstein und Rúna in ihr Häuschen zurückgekehrt. Lathgertha hatte ihnen eine Magd zur Seite gestellt, die sich um Solvig kümmerte. Jorunn gab ihrer Schülerin ebenfalls nur wenige Arbeiten, sodass dem Paar auch ein wenig Zeit füreinander blieb.
Der Steuermann erholte sich nach und nach von seinen Verletzungen und genoss es, seine schöne, stille Rúna so häufig um sich zu haben. Es war ganz offensichtlich, dass auch die junge Frau sich nach seiner Nähe sehnte, denn es verging kein Tag, an dem sie sich nicht zwischendurch zu ihm schlich und seine Nähe suchte. Dann nahm Thorstein sie in die Arme, streichelte sie und ließ sich von ihr stumm liebkosen. Es war schön, von ihr so zärtlich und sehnsüchtig berührt zu werden.
Dennoch spürte der Krieger die Veränderungen, die seine Gefährtin zu einer noch stilleren und ernsteren Frau gemacht hatten, als sie es schon vor jener unsäglichen Nacht gewesen war. Er ahnte, dass es auch die schrecklichen Erinnerungen waren, die Rúna in seine Arme trieben und er war froh, dass es ihr überhaupt möglich war, bei ihm Schutz und Trost zu suchen. Wäre sie vor ihm zurückgewichen, hätte er wohl auch das hingenommen. Doch so war es viel besser! Er konnte Rúna halten und trösten, wann immer sie es brauchte und vielleicht würde es diese Nähe ihm auch ermöglichen, ihr irgendwann wieder mehr zu schenken als nur Trost.
Auch die Völva versuchte auf ihre Weise, Rúna Kraft und Mut zu geben. Nach einem heimlichen Gespräch mit Thorstein, dessen Einwilligung sie gesucht hatte, war sie es gewesen, die seine Gefährtin vorsichtig darauf angesprochen hatte, dass jene Nacht vielleicht auch auf andere Weise nicht folgenfrei geblieben sein könnte. Das Entsetzen in den Augen seiner jungen Frau würde der Steuermann nicht so bald vergessen.
"Es gibt eine Möglichkeit, sicher zu sein, dass es nicht so weit kommt", hatte Jorunn dann verraten. "Für viele Probleme sind die richtigen Kräuter gewachsen und ich bin mir ziemlich sicher, dass dein erstes Kind von Thorstein sein soll und nicht von diesem Bastard." Sie hatte Rúna nicht weiter bedrängt und Thorstein blieb ebenfalls zurückhaltend, als er sah, wie seine Gefährtin mit sich kämpfte. Je länger er darüber nachsann, umso mehr Schuld lastete er dem Mann an, der seine Gefährtin so leiden ließ. Was auch immer sie tat, sie konnte doch nur verlieren! Entschied sie sich für die Kräuter, musste sie damit leben, vielleicht ein ungeborenes Kind getötet zu haben, lehnte sie den Sud ab … Thorstein wollte um keinen Preis an ihrer Stelle sein!
Umso mehr war er erleichtert, als die Natur Rúna diese Entscheidung abnahm und sie am kommenden Morgen über ein Ziehen im Unterleib klagte, dass sich alsbald in ihre Blutung wandelte. Es war förmlich greifbar, wie seiner Frau eine schwere Last von den Schultern fiel. Auch Jorunn war die Erleichterung über diese sonst so gewöhnliche Frauensache anzusehen gewesen.
Allerdings hatte sie die vergangenen Tage auch noch einmal genau betrachtet und darüber nachgesonnen, welcher der Männer im Ort als Täter infrage kam. Dass Rúna ihn tatsächlich nicht kannte, glaubte Jorunn schon längst nicht mehr. Doch sie schien große Angst vor demjenigen zu haben, dass sie seinen Namen nicht nennen wollte. Wer aber, außer dem Jarl, hatte solche Macht über die junge Frau, dass sie ihn decken würde? Und war nicht sogar Rollo auf seinen Bruder losgegangen, nachdem er Rúna aus dem Meer gerettet hatte? Auch dieser Krieger wusste angeblich nichts. Warum schlug er sich dann gerade an jenem Morgen mit Ragnar? Und weshalb schlich der Jarl immer noch um die Boote wie ein vorsichtiger Kater um einen fremden Milchtopf, wenn er ohne schlechtes Gewissen mit Thorstein über die Einwinterung sprechen könnte? Die Völva wusste, dass sie ohne Rúnas Hilfe gar nichts tun konnte. Doch wenn sie ganz ehrlich war, wollte sie den Jarl auch nicht einfach so davonkommen lassen.
Ja, es war tröstlich zu sehen, dass Rúna bei Thorstein Zuspruch und Liebe fand. Dennoch erinnerte sich die Völva genau an ihre Unterhaltung mit Ragnar, bevor dieser seine Sklavin auf den Moorseehof geschickt hatte. Der Flug der Raben und ihre Vision waren eindeutig gewesen! Der Jarl hatte gegen die Wünsche der Götter verstoßen, ja vielleicht sogar Odin selbst herausgefordert. Das würde sie, die Völva, nicht hinnehmen!
Und es gab noch jemanden, der Rúnas Leid zwar nicht ungeschehen machen konnte, der ihr jedoch die Möglichkeit geben konnte, sich gegen einen erneuten Übergriff erfolgreich zur Wehr zu setzen - die Schildmaid Lathgertha. Thorstein und seine Gefährtin waren überrascht gewesen, als Ragnars Gefährtin am ersten Abend nach dem Übergriff plötzlich in Rollos Haus stand und aus einem Lederbündel ein glänzendes Schwert zog, um es Rúna in die Hand zu drücken. Ungläubig hatte diese zugehört, als die Kriegerin ihr den Vorschlag einer Ausbildung gemacht hatte. Das Schwert in ihren Händen war schwer gewesen und hatte sich kühl und ungewohnt angefühlt. Wie war es möglich, dass sie eine Waffe führen sollte?
Die Sklavin war sich nicht sicher gewesen, was sie von Lathgerthas Worten halten sollte. Unsicher hatte sie Thorsteins Blick gesucht, ihn wortlos um Rat gebeten. War es nicht gänzlich unangemessen, dass sie die Handhabung einer Kriegswaffe erlernen sollte? Würde sie sich damit nicht weit über die ihr zugewiesene Stellung erheben und Thorstein, der ja immer noch ihr Herr war, mit diesem Tun erzürnen und beleidigen?
Doch der Krieger, dessen Meinung sie sich beugen wollte, sah die Sache ganz anders. Zustimmend nickte er Lathgertha zu und fand sogar ein paar dankende Worte für deren Angebot. Ganz bestimmt wäre es gut, wenn Rúna sich den Umgang mit einem Schwert zu eigen machte. Nach dem Vorgefallenen war sie in Straumfjorður schließlich nicht sicher und der nächste Frühling kam bestimmt und mit ihm die Zeit, in der die Krieger gegen Harald ziehen mussten. Es würde gut sein zu wissen, dass sie sich dann ein wenig schützen konnte.
Lächelnd hatte Lathgertha vorgeschlagen, die Übungen schon am kommenden Tag zu beginnen und Rúna hatte ihr schließlich zugestimmt. Auch sie würde sich sicherer fühlen, wenn sie eine Waffe handhaben konnte.
Im Gegensatz zu Ragnars Wünschen, der ihr geraten hatte, diese Ausbildung im Stillen und abseits zu beginnen, wählte Lathgertha dafür den Strand vor Straumfjorður. Hätte man sie gefragt, so wäre der weiche Sand, der Stürze gut abfing, ihr Grund für diese Demonstration gewesen. In Wirklichkeit wollte sie jenem Mann, der Rúna verletzt hatte, eine Warnung aussprechen. Und ihre Botschaft kam durchaus an, auch wenn ihr nicht klar war, wen sie damit erreichte.
Rúna mit dem Schwert in der Hand zu sehen war für den Jarl eine vollkommen neue Erfahrung. Er hatte bisher den Anblick seines Dolches, der an jenem verfluchten Morgen direkt auf sein Lager gerichtet gewesen war, erfolgreich verdrängt. Doch nun sah er die auf ihn gerichtete Spitze deutlich vor sich. Musste er die Lage der Waffe als Warnung verstehen? Oder hatte Rúna ihm nur aufzeigen wollen, wozu sie nach jener Nacht imstande gewesen wäre? Sie hätte ihm die Kehle durchschneiden können, das sah nun auch Ragnar ein. Mehr und mehr missfiel ihm die Situation. Er war nicht mehr der Herr über das, was geschah. Es musste doch eine Möglichkeit geben, wieder Ruhe in seine Gedanken und seine Umgebung zu bringen!
Da es außerdem höchste Zeit war, mit Thorstein über das Einwintern der Ragnarsúð und ihrer Schwesternschiffe zu sprechen, nutzte der Jarl die Zeit, in der Lathgertha mit Rúna trainierte und besuchte seinen Steuermann am achten Tag, nachdem dieser in sein Gästehaus zurückgekehrt war. Auch wenn es ihm schwer fiel, hatte er sich vorgenommen, an diesem Tag sein Versprechen Rollo gegenüber einzulösen. Also trug er ein dickes Bündel warmer, hochwertiger Frauenkleider bei sich, die er am Vortag auf dem Markt erstanden hatte. Da keiner von ihnen des Schreibens kundig war, würden die Gewänder zusammen mit dem Wissen eines Zeugen ausreichend sein, um Rúnas Freigabe zu besiegeln. Den Zeugen, Gylfe, hatte er ebenfalls zu dem kleinen Gästehaus bestellt, in dem Thorstein derzeit lebte.
Vielleicht hätte es den Steuermann mehr erstaunen sollen, dass Ragnar ihm an diesem Tag etwas schenkte, was er ihm kurze Zeit vorher noch so hartnäckig verweigert hatte. Doch den Krieger hatten die Ereignisse viel zu sehr mitgenommen, als dass er vermutet hätte, dass sein Freund aus anderen Gründen als aus Mitgefühl und Freundschaft so handelte, wie er es tat. Selbst nachdem dieser auf die Frage, ob er es Rúna nicht selbst sagen wolle, nur lächelnd ablehnte und die freudige Nachricht Thorstein überbringen ließ, blieb dieser frei von Zweifel. Und Gylfe? Nun, Gylfe dachte sich seinen Teil, schwieg aber ebenfalls. Zum einen war Thorstein ein Freund, dem er die schöne stille Rúna als Gefährtin ehrlich gönnte, zum anderen war Ragnar immer noch der Anführer, dem seine Loyalität galt. Vielleicht hatte der Jarl sich an jenem Abend gar nicht mit dem Mädchen vergnügt, auch wenn sie gemeinsam hinausgegangen waren? Und wenn doch … ging es ihn nichts an.