Kunstvolle Gebäude und altmodische Holzschiffe. Phoebe bedachte beides mit der gleichen Missachtung, während sie über die Uferpromenade wanderte. Schon wieder war leichter Nieselregen in der Luft und sie konnte Schnee riechen. Gegen die Kälte hatte sie sich die Mütze tief ins Gesicht gezogen und die Hände samt Handschuhen in den Ärmeln vergraben.
Obwohl sie sich vor kurzem auf einer öffentlichen Toilette umgezogen hatte, haftete ihr ein dezenter Schweißgeruch an. Nachdem sie zwei Wochen ohne richtige Dusche verbracht hatte, war das kein Wunder.
Auf einer schmalen Landzunge stand ein Leuchtturm. Phoebe wanderte langsam über den flachen Sandstreifen, der auf die Landzunge zu führte, und ließ den Blick über das Meer schweifen.
Sie liebte die See, das Tosen der Wellen und den Salzgeruch. Das Gefühl der Freiheit, das sie in ihr hervorrief. Der Wind war hart und kalt, die Wellen rollten schnell und donnernd auf den hellen Sand. Kalte Tropfen verscheuchten winzige, schwarze Sandflöhe. Bei jedem Schritt sah Phoebe eine Welle dieser winzigen Tierchen in alle Richtungen davon springen.
Sie erkletterte die Steindüne mit dem lagen Gras in den Lücken zwischen den grauen Steinen. Von Gräsern und Sand umgeben führte ein schmaler Fußweg zum Leuchtturm, dem Phoebe langsam folgte, bis sie einen grünen Mülleimer erreichte.
Einer der nördlichsten Mülleimer Deutschlands. Sie zog die Plastiktüte aus ihrer Tasche, in der seit zwei Wochen ihre alten Haare steckten. Ohne zu zögern, nur einen kurzen Blick zurückwerfend, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurde, warf sie die Tüte fort.
Ein kühler, depressiver Nachmittag, an dem sie den letzten Rest ihres bisherigen Lebens fortwarf. Nur das Medaillon mit Sues Bild hatte sie noch, und natürlich ihren MP3-Player, dessen Playlist sie inzwischen auswendig kannte.
Phoebe wanderte zurück. Sie wollte ein Internetcafé aufsuchen. In den letzten Tagen hatte sie sich das Geld für eine Zeitung gespart. Sie musste an die Zukunft denken, und es schien ihr sinnvoller, ein paar Euro in eine Stunde Internet zu investieren, statt sich jeden Tag aufs Neue eine Zeitung zu kaufen.
Im Internet könnte sie die Informationen, die sie suchte, ebenfalls schneller finden und war nicht darauf angewiesen, was ein Reporter als interessant einstufte. Die aktuelle Krise interessierte sie wenig, dafür wollte sie wissen, wie viele Ausreißer zur Zeit gesucht wurden.
Im Café gab man ihr ohne große Fragen einen Code für eine Stunde, als sie im Voraus bezahlte. Phoebe setzte sich auf einer Sitzbank, schaltete den PC an und ging sofort ins Internet. Sie suchte systematisch, ging die neuesten Meldungen durch und arbeitete sich zwei Wochen zurück.
Tatsächlich gab es mehrere Artikel und eine groß angelegte Suchaktion auf Facebook, die unzählige Leute geteilt hatten. Phoebe kaute auf ihrer Unterlippe, doch die Beschreibung hatte sich nicht geändert. Man suchte immer noch nach einem völlig anderen Typ.
Auch war die Aufmerksamkeit, die ihrem Verschwinden zukam, nicht so groß, wie sie gefürchtet hatte. Die beiden terrorverdächtigen Syrier war weiter oben in den Schlagzeilen, ebenso eine entlaufene Katze und eine junge Frau, die offenbar eine Bank überfallen hatte.
Phoebe überlegte, ob sie nicht ihrerseits eine Bank überfallen sollte. Der Kitzel der Gefahr klang verlockend, doch noch war ihr Geld nicht sehr knapp, und solange sie keine schnelle Fluchtmöglichkeit hatte, sollte sie kein Risiko eingehen.
Als sie keine interessanten Neuigkeiten mehr fand, begann sie ihre Suche nach eine Fähre oder einem Frachtschiff, das bald ablegen würde. Eine große, rote Anzeige verkündete jedoch, dass der Schiffsverkehr für 24 Stunden ausgesetzt sei.
Phoebe unterdrückte einen Fluch und fragte sich, warum ihr nicht gleich aufgefallen war, dass keine Schiffe im Hafen an- oder abgelegt hatten.
Sie saß hier fest, wenigstens bis morgen. In dem Fall könnte sie sie auch ihre Kleidung säubern. Unterwegs hatte sie einen Laden gesehen, in dem man seine Kleidung für ein bisschen Geld eine Waschmaschine benutzen konnte. Vielleicht würde sie sich sogar in eine Sporthalle schleichen und duschen können.
Doch ihr Vorhaben wurde vereitelt, als ein lauter Knall ertönte und Panik ausbrach.