Severus Snape dachte über den freundlichen Jungen nach, der Harry noch vor vier Jahren gewesen war. Die Gespräche auf den Gängen des Ministeriums, in den Cafés der Winkelgasse oder auch in den Wohnzimmern drehten sich oft darum. Heute Nacht erinnerte nichts mehr an dieses Kind. Der Dunkle Herr auf Dunklem Thron – so ließ Harry Potter jetzt sich nennen. Es passte gut zu ihm. Er spielte mit einer durchsichtigen Kugel, in deren Innern ein sehr kleiner Dämon gefangen war. Der Dämon wand sich verzweifelt, denn die Kugel entzog ihm seine Lebensenergie. Sobald er tot wäre, wollte Lord Potter die Kugel einschmelzen. Es sollte daraus eine Art Fokuskristall für Ronald Weasleys magischen Bogen werden.
In jener verhängnisvollen Nacht hofften sie alle insgeheim, dass jemand einen Ausweg finden würde. Wer wenn nicht seine engsten Freunde hätte Einfluss auf ihn? Wer wenn nicht sie würde nicht aufgeben, um ihn zu kämpfen? Sie hatten sich monatelang in den großen Bibliotheken der Welt eingeschlossen. Einige reisten durch die gesamte Zauberwelt um ein Artefakt zu finden, das wenigstens einen Teil von Harry zurückbringen könnte. Alles blieb vergebens. In dieser Nacht vor vier Jahren hatte Servus Snape in den Augen von Albus Dumbledore ein eigenwilliges Schimmern gesehen. Der Tränkemeister hatte darin Hoffnung zu erkennen geglaubt. Doch diese Annahme trog.
Dumbledore saß heute Abend am oberen Ende der Tafel. Er hatte sein Wort gehalten und blieb an der Seite seiner früheren Schüler, insbesondere an der Seite seines Meisterschülers. Oft gelang es ihm scheinbar, größeres Unrecht gegen milderes zu tauschen. Lady Granger und Lady Weasley umgarnten den Dunklen Lord manches Mal, um so seine Meinung zu ändern. Auch Ronald Weasley übte seinen Einfluss klug aus. Allerdings lag nicht zu vermuten, dass Lord Weasley sich ausgerechnet für Draco Malfoy einsetzte. Snapes ganze Hoffnung bestand in Lady Grangers Freundlichkeit und Sanftheit. Er wusste, dass Potter ihr noch nie einen Geburtstagswunsch abgeschlagen hatte. Sie ließ keine unnötige Grausamkeit zu. Er betete stumm zu jenem barmherzigen Gott, den die Muggel Jesus nannten, und schalt sich gleich darauf einen Narren.
Severus Snape liebte Draco wie seinen eigenen Sohn. Als Lord Potter vor zwei Wochen seinen Entschluss kundgetan hatte, das Kopfgeld für Draco noch einmal zu erhöhen oder ihn nach Ablauf eines Monats selbst zu suchen, blieb Snape nichts als die Hoffnung auf Lady Granger. Lord Potter hielt seine Augen unverwandt auf den älteren Mann gerichtet. Dann entließ er die Vampire mit einer Handbewegung in die Nacht hinaus. „Severus“, sagte er mit samtiger Kälte in slytheringrünen Augen. „Du willst ihn retten, nicht wahr? Du willst Draco vor mir beschützen?“ Snape wußte, dass er verloren hatte. Selbst wenn er versuchte zu lügen, könnte ein Schluck seines eigenen Veritaserums seine Absichten komplett enthüllen. Lord Potter lächelte sardonisch. „Antworte mir!“, verlangte er von seinem Gefolgsmann. „Ja. Mylord. Draco ist wie ein Sohn für mich. Ich bitte Euch um Gnade für ihn.“ Der Dunkle Lord nickte zufrieden. „Du bist klug, dass du mich nicht belogen hast. Das werde ich berücksichtigen.“ Noch immer kniete Draco auf dem Boden der Halle. „Sieh` mich an, Malfoy“, richtete sein Feind aus Kindheitstagen das Wort an ihn.
Dumbledore erhob sich respektvoll. „Mylord, auf ein Wort bitte“, versuchte der alte Mann eine Unterbrechung zu erreichen. „Später, Albus“, lehnte dieser ab. Dumbledore gab sich damit zufrieden. Immerhin, dachte Remus Lupin, hatte einer versucht etwas für den jungen Malfoy zu tun. „Danke, Mylord“, antwortete Dumbledore und setzte sich wieder.
Draco wagte es kaum Harry in die Augen zu schauen. Dennoch folgte er der Aufforderung. „Es ist immer wieder eine Freude, alte Schulfreunde zu treffen“, höhnte Harry. Er kostete diesen Moment genüsslich aus. Malfoys Tritte ins Gesicht, seinen Potter-stinkt-Anstecker und die vielen großen und kleinen Beleidigungen hatte er nie vergessen können. „Weißt Du noch, wie Du mir gesagt hast: Ich hätte keine Eltern. Du hast derzeit zwei Väter. Zwei Männer, die dich lieben und auch noch eine Mutter. Sie alle wollen dein Wohlergehen. Jeder von ihnen wäre bereit, für dich den Preis zu zahlen. Du darfst wählen, ob du selbst stirbst oder Narzissa und Lucius oder Severus. Es wird kein schnelles Ende werden. Der Hungertod dauert ausreichend lange. Er ist angemessen.“
Die gespenstische Stille erinnerte nicht eine Sekunde mehr an das scheinbar fröhliche Fest vor wenigen Minuten. Lady Grangers Röcke raschelten hörbar. Grazil schritt sie von ihren Thron aus auf Harry zu. Sie schenkte ihm ihr süßestes Lächeln, knickste tief und schnurrte leise in sein Ohr: „Harry, ich habe noch einen Wunsch. Ich wähle Malfoy. Wir könnten so viel länger mit ihm Spaß haben. Du erinnerst dich bestimmt, an diesen Jungen neulich, den dieser Werwolf angeboten hat. Ron meinte, er sei ein bisschen zu jung dafür. Malfoy allerdings ist keineswegs zu jung, behalt ihn lieber. Wenn er verhungert, ist nach ungefähr einem Monat in seinem Zustand alles vorbei.“ Harry erinnerte sich gut an den hübschen Jungen. Das Kind war gerade 11 gewesen. Seidiges silberblondes Haar, graue ängstliche Augen und weiche rosige Lippen. Er mochte keine Kinder in seinem Bett und erlaubte es auch niemandem anderen. Besonderes Letzteres war sein Entgegenkommen an Hermine und Ron. Er hatte den Sklaven trotzdem behalten. Der Junge würde älter werden und in ein paar Jahren…
Einen Augenblick überlegte er. Dracos Willen zu brechen, war auf jeden Fall ein reizender Zeitvertreib. „Das heißt, er darf nicht wählen. Du wählst für ihn die Sklaverei. Bezaubernde Idee das Schlammblut, verzeih Liebes, wählt für den Reinblutprinzen. Dann soll es so sein. Malfoy, du bleibst mein persönlicher Sklave, genau wie Lucius und Narzissa. Severus erhält das Kopfgeld und bleibt an meiner Seite. Dann hat er auch etwas von unserem Spaß“, lächelnd führte er Hermines Hand an seinen Mund und küsste ihre Fingerspitzen. „Du entwickelst Sinn für Humor, Mine.“
Severus Plan hatte funktioniert, besser als er gehofft hatte. Lord Potter war grausam, aber nicht wahnsinnig. Lady Grangers Einwurf Draco könnte längeren Spaß bedeuten, hatte vier Menschen das Leben gerettet. Keiner der vier hätte überleben können, mit dem Wissen, dass ein anderer gestorben war. Lord Potter umfasste das Kinn seines neuen Spielzeuges hart. „Bedanke dich bei Lady Granger!“, verlangte er, bevor er immer noch lächelnd wisperte: „Du wirst dir wünschen, mich nie gesehen zu haben.“
Gehorsam bedankte sich Draco bei Hermine, als er zum ersten Mal einen Folterfluch seines neuen Herrn empfing. Tausende glühende Nadeln schienen über seinen Körper zu tanzen. Der junge Mann atmete tief aus. „Du hast vergessen, Lady Grangers Schuhe zu küssen. Noch einmal bitte. Wir fangen ganz von vorne an.“ Dieses Mal küsste Draco die Spitzen beider Schuhe. Eine Welle der Verzweiflung überrollte ihn, denn er verstand, was sein Schicksal sein würde. Zugleich empfand er Dankbarkeit, dass seine Eltern und sein Pate weitgehend verschont blieben. Auf einen Wink des Dunklen Lords erschienen zwei Schattenjäger. „Bereitet ihn vor und bringt ihn in zwei Stunden in mein Schlafgemach.“ Ron und Ginny hatten das Schauspiel mit Interesse verfolgt. Zum zweiten Mal in seinem Leben empfand Ron viel Mitleid für Draco Malfoy.
Ihn langsam verhungern zu lassen, erschien Ron sogar für Harrys Verhältnisse zu grausam. Allerdings war er sich nicht sicher, ob dieses Leben besser war. Später wenn er mit Hermine allein war, würden sie sicher darüber reden. Sie war Rons Fels in der Brandung. Sie gab ihm die Kraft, die er brauchte der Lord an der Seite des Dunklen Herrn zu sein.
Das Fest verlief ohne weitere Störungen. Die Musik spielte weiter. Ginerva tanzte die halbe Nacht mit Harry. Sie liebte ihn immer noch. Nie könnte es einen anderen Mann für sie geben. Eines Tages würde sie Lady Potter werden. Er hatte längst beschlossen, dass sie es sein würde. Ginevra würde ihm den Erben schenken. Sie war einverstanden, auch wenn sie wusste, dass er nie treu sein würde. Er hatte seine Seele gegeben um sie alle zu retten. Sie gab ihr Glück um ihm zu danken. Er belog sie nicht und erfüllte jeden ihrer Wünsche. Aber er konnte sie nicht lieben. Einmal hatte sie versucht, mit ihm zu schlafen. Er wies sie freundlich ab. „Ich will dich unberührt in der Brautnacht“, hatte er der sie wissen lassen. Sie akzeptierte und wusste, dass er jeden töten würde, der ihr nahe kam. Harry konnte niemanden mehr lieben. Er wollte Ginny nur besitzen.
Severus Snape nahm seinen Platz an der Tafel gegenüber von Albus Dumbledore ein. Sie lächelten einander kaum sichtbar zu und tranken einander zu. Man redete am Tisch über scheinbare Belanglosigkeiten. „Lord Weasley verlässt das Schloss morgen früh mit dem Zug. Er besucht wohl seinen älteren Bruder Bill und dessen wunderschöne Gattin Fleur. Lord Potter besuchte die Hochzeit im Sommer selbst. Diese Verbindung hat sein Wohlwollen erlangt. Er vermachte dem Paar ein Haus in Shell Cottage und einen eigenen Hauselfen“, sagte Mrs. Zabini lächelnd. Ihr ausgesprochen attraktiver Sohn Blaise genoss seinen Status als Lord Potters aktueller Favorit. Er wartete auf ein Zeichen seines Herrn, um ihm zu Bett zu geleiten.
Remus Lupin, dem die Nachwirkungen des letzten Vollmondes noch in dem Knochen steckten, schaute beide nachdenklich an. „War es das wert, Albus? Manchmal denke ich, wir haben einen furchtbaren Fehler gemacht“, fragte er leise. Er hatte das Ritual schon damals für Wahnsinn gehalten, aber aus nachvollziehbaren Gründen dafür gestimmt. Teddy, sein Sohn, war noch so klein gewesen. „Es war der Preis, der gezahlt werden musste. Ein Krieg hätte unsere Welt dauerhaft geschädigt. Voldemort hatte keinerlei Gewissen. Lord Potter hat drei Menschen, die ihn mildern. Lady Grangers Wunsch heute Abend hat vier Menschenleben gerettet. Unter Voldemort wären sie jetzt auf dem Weg zum Schafott. Es gibt immer Grund zur Hoffnung“, erwiderte Dumbledore vieldeutig. Dann sah er auf die Tanzfläche. Ginny wirbelte in Harrys Armen herum, der beinahe etwas wie ein Lächeln zustande brachte.