Erst einen guten Mond später saß Lathgertha endlich neben ihrem Bruder auf dem Kutschbock, ihren kleinen Sohn Björn fest an sich gepresst.
Rúna, so glaubte sie inzwischen fest, hatte ihre heilerischen Kräfte direkt von den Göttern erhalten. Anders konnte es nicht sein, dass sie den schwerkranken Jungen voller Ruhe und Ausdauer dazu gebracht hatte zu überleben. So verzweifelt, wie sie als Mutter gewesen war, als sich das Fieber absolut nicht bessern wollte, so dankbar war sie nun der Jüngeren, dass sie ihren Sohn vom Pfad nach Niflheim zurückgeholt hatte. Eben das hatte sie auch Thorstein wissen lassen, als dieser verwundert dabei zugesehen hatte, wie Lathgertha seine Rúna mit einem ehrlichen Dank und großzügigen Geschenken belohnt hatte, bevor diese mit ihrem Gefährten zum Moorseehof weiterzog. Die Wartezeit bis zu Björns Genesung war dem Steuermann ebenso schwer gefallen wie Rúna, die sich nicht nur nach einer ruhigen Zeit mit ihrem Gefährten, sondern auch nach der kleinen Solvig sehnte.
Daher war es nur richtig, dass Gunnar ebenfalls ein Geschenk an die Heilerin übergeben hatte - ein kleines, zotteliges Pony, dessen Vorfahren auf den wilden Klippen Norwegens geweidet hatten. Grani(1) , wie der ungeduldige Hengst hieß, würde Rúna sicher in ihr Zuhause bringen und ihr auch in den kommenden Jahren ein guter Freund werden. Zwar konnte man das Leben eines Kindes nicht mit Gaben aufwiegen, doch die ungläubige Freude in Rúnas Gesicht, als ihr Gunnar den Führstrick des Pferdchens in die Hand drückte, sagte mehr als viele Worte. Sie hatten der Heilerin eine passende Freunde gemacht.
Lange hatte Gertha ihr nachgesehen, als sie an Thorsteins Seite nach Osten geritten war. Schon im Frühjahr würden sie Seite an Seite kämpfen müssen, wenn sich Arngrim nicht doch noch anders entschied und Straumfjorður unbehelligt ließ. Die Schildmaid vertraute auf den Steuermann und seine Gefährtin. Und sie würde ihnen mit ihrem starken Arm bedingungslos zur Seite stehen. Ging es doch auch um ihr Zuhause und ihre Zukunft! Lange sann Ragnars Gefährtin während der Fahrt über Vergangenes und Kommendes, ihren schlafenden Sohn dabei nicht aus den Armen lassend.
Erst im Dämmerlicht des Winternachmittags kamen die ersten Häuser von Straumfjorður in Sicht und ein paar Hufschläge später zügelte Gunnar seine beiden Braunen direkt vor der Tür zu Ragnars Haus. Die Ankommenden waren längst gesehen worden und so stand der Hausherr und Jarl der Siedlung bereit, um seine Frau und deren Bruder zu begrüßen und dann seinen Sohn in die Arme zu ziehen. Endlich war sein einziges Kind wieder bei ihm!
Ihren Gefährten so gefühlvoll zu sehen, verursachte Lathgertha mehr Schuldgefühle, als sie sich eingestehen wollte. Ja, es war nicht immer leicht, mit einem so ungestümen, fordernden Mann wie Ragnar zusammenzuleben. Doch schon damals, als sie sich den Bund geschworen hatten, wusste sie, worauf sie sich dabei einließ. Immer hatte sie seither zu ihm gestanden, egal, ob er als einfacher Krieger für Horik kämpfen musste oder später als Jarl eine Siedlung führen sollte. Und sie liebte diesen Dickschädel, ganz egal, wie sehr er sie durch seinen erzwungenen Beischlaf mit Rúna auch verletzt hatte. Und wenn man es genau besah, so hatte doch auch die Heilerin ihrem Jarl vergeben … irgendwie?
Ragnar setzte Björn zu Boden und dieser lief aufgeregt ins Haus hinein. Endlich würde er sein Steckenpferd und seine Murmeln wiedersehen. Lathgertha aber ergriff die ihr dargebotene Hand und ließ sich von Ragnar vom Kutschbock helfen. Den forschenden, fragenden Blick ihres Gefährten erwiderte sie, wie es ihr als Schildmaid zukam - furchtlos und offen. Doch sie legte auch jene Gefühle hinein, die ihr als Frau zustanden - Liebe und Ungeduld als Ausdruck jener Leidenschaft, die sie auch nach den vergangenen Jahren immer noch zu ihm trieb. Und der Jarl erwiderte diesen ersten Blickkontakt voller Ernst.
Lathgertha war zurückgekommen. Und sie hatte seinen Sohn mitgebracht! Der Nachmittag verging für den Jarl viel zu langsam. Zäh wie der Schleim des Seetangs zogen die wenigen Stunden bis zum Abend an ihm vorbei. Nur mit Mühe konnte er sich darauf konzentrieren, mit Gunnar über Arngrims drohenden Angriff zu beraten. Ja, es war wichtig, Straumfjorður zu verteidigen, und Gerthas Bruder hatte auch recht, wenn er vorschlug, noch vor dem Frühjahr ein Thing(2) abzuhalten, das alle waffenfähigen Männer vereinte. Diesem Gedanken würde er auf jeden Fall nachgehen. Doch mehr als alles zog es ihn zu Björn, mit dem er am Abend seinen Teller teilte und ihn danach liebevoll zu seinem Lager brachte, wo er ihn in dicke Felle hüllte und ihm ein Schlaflied sang.
Seine Frau stand dabei hinter ihm und sah gerührt dabei zu, wie Ragnar seinen Vaterpflichten nachkam. Das war er schon immer gewesen, schon seit Björns Geburt - ein liebevoller Vater, der in seinen Sohn regelrecht vernarrt war. Lathgertha biss sich auf die Lippen. War es nicht auch ihre Schuld, dass Ragnar Rúna genommen hatte? Wenn sie ihm weitere Söhne …? Doch nach Björn hatte sie kein einziges Mal auch nur empfangen. Der Jarl aber wünschte sich zahlreiche Kinder. Das wusste sie längst. Gleich morgen musste sie mit Jorunn über das Problem reden. Vielleicht gab es ein Kraut oder einen Zauberspruch, der ihr helfen konnte?
Diese Nacht aber würde sie Ragnar zeigen, wie sehr sie ihn vermisst hatte! Zärtlich lehnte sie sich an den großgewachsenen Krieger und streichelte ihm liebevoll über die harte Brust.
"Es ist schon viel zu lange her, dass wir beieinandergelegen haben", flüsterte sie ihm ihre Wünsche ins Ohr. "Lass mich dir zeigen, wie viel Sehnsucht ich nach dir hatte!" Mit diesen Worten ließ sie ihre Hand langsam aber stetig tiefer wandern und legte ihre warme Handfläche schließlich fordernd auf Ragnars Gemächt. Unkontrolliert fuhr dessen Becken bei der eindeutigen Berührung nach vorn und der Krieger stöhnte auf. Ja, von seiner Gertha verwöhnt zu werden, war doch noch immer am besten. Ungeduldig drehte er sich in ihrer Umarmung und übernahm nun die Führung, indem er sie ohne Vorwarnung auf seine Arme hob und sie zu ihrem Lager brachte. Ohne unnütze Spielerei zog er sich Skjorta und Hose vom Körper und sorgte ebenso schnell dafür, dass auch seine Frau nackt und für ihn bereit war. Die Flammen des Feuers ließen irrlichternde Schatten über ihre Haut geistern, als Ragnar sie ein letztes Mal leidenschaftlich betrachtete, bevor er sich in sie stieß. Ihr heißeres Keuchen, dass ihm aus vergangenen Nächten so vertraut war und dennoch seine Erregung nochmals steigerte, klang ihm wie Musik in den Ohren, als er sie nahm und ein weiteres Mal zu der Seinen machte. Seine Gertha, seine Schildmaid!
(1)Grani ist in der Edda das von Sleipnir abstammende Pferd Sigurds. Einst hatte dieser es auf Anraten Odins aus einer Herde gewählt. Nachdem Sigurd den Lindwurm Fafnir getötet hat, trägt Grani dessen gesamten Schatz (für den lt. Edda drei Pferde nicht stark genug gewesen wären) samt seinem Reiter über die Waberlohe.
(2)Thing: Volks- und Gerichtsversammlungen nach dem alten germanischen und nordischen Recht