Lange Zeit lag Thorstein noch wach und lauschte den leisen, manchmal erschreckend schnellen Atemzügen der Frau neben ihm. Wie hatte er sich nur so gehenlassen können? Der Steuermann kannte sich gut genug um zu wissen, dass sein Verhalten mit der vergangenen Nacht zusammenhing. Rúna zu sich auf das Lager zu holen und sie zu besteigen, hatte ihm zwar einen ganz unvergleichlichen Genuss bereitet, doch waren in ihm ebenso schnell Zweifel gewachsen, ob das, was er da getan hatte, wirklich richtig gewesen war.
Immerhin war die junge Frau nur eine unbedeutende Sklavin, die er eigentlich kaum kannte und die ihm zwar so sehr gefiel, dass der bloße Anblick ihres züchtig bedeckten Körpers seine Lust weckte, doch er war sich bis zum Morgen nicht sicher gewesen, ob er ihr so weit vertrauen konnte, wie er hoffte. Dann, als sie sich scheinbar faul auf ihrem Lager ausgeruht hatte, waren alle verdrängten Ängste der Nacht in ihm erwacht und hatten es nicht mehr zugelassen, dass er nüchtern nachdachte.
Dennoch! Selbst, wenn sie tatsächlich so nachlässig gewesen wäre, wie er es annahm, hätte er keinesfalls so enthemmt und unbeherrscht auf sie einprügeln dürfen. Niemals hätte der Steuermann gedacht, dass ein solch wildes, ungezähmtes Tier in ihm lauerte. Selbst im Kampf, so glaubte er, war er nie so unbeherrscht und berserkerhaft wie am vergangenen Morgen vorgegangen. Sein Gewissen nagte gründlich an ihm und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Vielleicht war es Thorsteins Anspannung, die sich auf Rúna übertrug, vielleicht war es das Fieber, das erneut anstieg und der jungen Frau rastlose Alpträume bescherte? Tief in der Nacht jedenfalls begann die verletzte Sklavin angstvoll um sich zu schlagen. Noch als Thorstein sie durch leises Murmeln und vorsichtige streichelnde Berührungen zu beruhigen versuchte, warf sich Rúna furchtsam hin und her. Dann, als ihre unkontrollierten Bewegungen dazu führten, dass sie auf den Rücken rollte, keuchte sie gequält auf. Die Wunden mussten ihr heftige Schmerzen bereiten.
Der Mann, der letztlich für ihre Qual verantwortlich war, sah dem Treiben seiner Sklavin zunächst eine Weile hilflos zu. Dann, als sie sich erneut auf den Rücken warf, ergriff er sie entschlossen an beiden Schultern und drehte sie zurück auf den Bauch. Dabei zog er ihren schmalen Körper so zu sich heran, dass Rúna mit Kopf und Schultern auf seiner Brust zu liegen kam. Noch ein oder zwei Mal versuchte sie seiner festen Umarmung zu entkommen, dann gab die fiebernde Frau auf und schlief schließlich erschöpft und zitternd in seinen Armen ein. Und obwohl ihn die Sorge um Rúna weiterhin beschäftigte, waren ihr spürbarer Herzschlag und ihre Nähe beruhigend genug, dass auch Thorstein in einen traumlosen Schlaf fand.
Die lautstarken Rufe der beiden Hähne weckten Teitr und ihn zuverlässig wie an jedem anderen Morgen. Der Steuermann fand sich auf dem Rücken liegend wieder, Rúnas Kopf auf seiner Brust und deren langes, braunes Haar über seine beiden Schultern ausgebreitet. Wohltuende Wärme strahlte von ihrem Körper auf ihn ab und er nahm genüsslich ihren feinen, fraulichen Duft wahr, der von ihrem Haar und Nacken ausging.
Dennoch war dieser Geruch, den er seit seiner ersten Nacht mit ihr gut kannte, anders als bei ihrer ersten Begegnung. Etwas Süßliches, Beißendes reizte seine Nase und störte ihn in seinem Genuss. Thorstein wurde davon mit aller Macht aus dem Halbschlaf geholt. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung!
Und dann, nachdem alle seine Sinne erwacht waren, wurde es ihm klar: Rúna glühte vor Fieber! Eine feine Schweißschicht hatte sich zwischen ihren beiden Körpern angesammelt und das Laken, das sie bedeckte, war nass vom Schweiß und von bräunlichen und rostfarbenen Flecken bedeckt, dort, wo er, Thorstein, sie verwundet hatte. Von diesem Laken schien auch der warnende Geruch aufzusteigen, der ihn beunruhigte.
Vorsichtig hob Thorstein die Frau in seinen Armen ein wenig an und schob sich von ihr weg und herunter von seinem Lager. Nicht deutete darauf hin, dass Rúna diese Bewegung überhaupt mitbekommen hatte. Völlig reglos blieb sie weiterhin auf dem Bauch liegen und wäre nicht das leise Heben und Senken ihres Brustkorbs und die unsagbare Wärme gewesen, die von ihrem Körper abstrahlte, er hätte geglaubt, sie sei tot. Die Hände des Steuermanns waren nicht so ruhig, wie sie es hätten sein sollen, als er das Leinen von ihrem Rücken zog. Der Geruch nahm noch ein wenig zu und das Tuch gab bald darauf den Blick auf die stark entzündeten Wunden frei. Selbst im Halbdunkel der Hütte wurde Thorstein schnell klar, dass sich die Lage über Nacht rasend schnell verschlechtert hatte. Hier konnte nur noch schnelles Handeln helfen, wenn überhaupt. Für ein Frühmahl oder ein großes Palaver blieb Rúna keine Zeit mehr.
Es kam dem Krieger nun zugute, dass er in den langen Jahren an Ragnars Seite gelernt hatte, entschlossen zu sein und durchdachte Befehle zu geben.
Der Steuermann musste Teitr gegenüber keine langen Reden halten. Allein sein Gesicht sprach Bände, als er dem Alten im Vorderhaus entgegenkam.
"Es geht ihr schlechter", gab er zu. "Wir müssen die Wunden sofort neu versorgen." Thorstein zögerte einen Moment lang und ergab sich dann in das Unvermeidliche. "Besorge alles, was wir brauchen, um sie auszubrennen."
Der alte Teitr schluckte sichtbar, als er die Anweisungen seines Freundes realisierte. Doch auch er kannte die Gefahren eiternder Wunden gut genug, um zu wissen, dass das Eisen die beste Lösung war.
Thorstein aber eilte in die Scheune, wo sich seine Knechte gerade von ihren Lagern erhoben. Ohne lange Überlegungen ergriff er den ihm am nächsten Stehenden beim Ärmel und zog den überraschten Mann ins Freie.
"Hol dir einen Kanten Brot und eine ordentliche Wurst aus dem Grubenhaus. Dann nimm dir Hrimfaxi und reite nach Straumfjorður. Bitte die Völva, auf unseren Hof zu kommen, so schnell wie möglich. Rúna hat hohes Fieber und wird vielleicht sterben, wenn sie nicht rechtzeitig hier eintrifft."
Der Steuermann runzelte die Stirn. "Biete ihr guten Lohn in Form von Tieren und Ernteerträgen, wenn sie das will. Überlass ihr die Stute im Notfall, damit sie schneller ist. Du kannst ja erst einmal bei Ragnar bleiben … Hauptsache Jorunn kommt schnell hierher!" Er ließ dem Knecht keine Zeit zu Fragen oder Kommentaren, sondern wandte sich um und ging entschlossen zurück auf den Hof.
Schon nach wenigen Schritten sah er die feine Rauchfahne, die von der kleinen Schmiedehütte aufstieg. Teitr hatte dort ein Feuer entzündet, um jenes Eisen zu erhitzen, mit dem sie später Rúnas Wunden versiegeln mussten. Thorstein hielt beim Anblick des kleinen Fähnchens über der offenen Werkstatt einen Moment lang den Atem an. Er würde niemals wieder gutmachen können, was sie nun tun mussten.
Unbewusst fuhr er sich mit der Hand zu seinem linken Oberarm. Auch er hatte schon Bekanntschaft mit dem Eisen gemacht. Eine Pfeilwunde war es gewesen, die ihn fast den Arm und seinen Kriegerstatus gekostet hatte. Nur einmal war die Völva damals mit dem glühenden Stahl in die Wunde gefahren, doch er erinnerte sich noch heute beschämt daran, dass er sich den Aufschrei bei diesem mörderischen Schmerz nicht hatte verbeißen können. Rúna gleich mehrfach dieser Qual auszusetzen, kam einer Folter gleich. Danach würde es nie wieder so sein, wie in jener einzigen Nacht voller Wohlbefinden. Und daran war nur seine Unbeherrschtheit schuld!
Thorstein ging nachdenklicher und langsamer zurück ins Haus. Sie würden den großen Tisch nach draußen tragen müssen und Rúna darauf bäuchlings anbinden. Eine andere Möglichkeit gab es wohl nicht. Seufzend trat er an das Lager der fiebernden Frau und betrachtete ihr schlafendes Gesicht. Ein kleines Gespräch kam ihm in den Sinn und ließ ihn beschämt die Augen schließen.
Noch war es gar nicht so lange her, dass er Ragnar im Scherz gefragt hatte, ob er denn nicht auch eines Tages König sein wolle. Die Antwort des Freundes hatte ihn sehr berührt. " Macht ist etwas sehr Gefährliches", hatte der Jarl statt einer direkten Antwort zu ihm gesagt. " Sie zieht die Bösen an und sie verdirbt die Guten. "
Danach hatten sie beide andächtig geschwiegen. Heute wusste Thorstein, dass auch er für die Verführungen der Macht anfällig war.