"Madras?", Shanora blinzelte ein paar Tränen weg, "Dein Name ist wirklich Madras?"
Die Elfenfrau lächelte amüsiert und streckte die Hand aus, fasste Shanora sanft an der Wange: "Natürlich, Liebes. Ich bin Madras aus dem Land der Bäume. Sag mir, was hast du auf dem Herzen, das so schlimm ist, dass so ein hübsches Mädchen wie du weinen muss?"
Ihre Hand fühlte sich warm und sicher an. Shanora schluckte schwer. Es war wie die Berührung der Hand einer Mutter, die sie nie gekannt hatte. Sie hatte keine. Wusste nicht einmal, wie ihre genau ausgesehen hatte. Finns Erzählungen von ihr waren so verworren, da er damals noch ein kleiner Junge war, als ihre Eltern ertranken. Die See hatte sie verschluckt. Ein Unfall, heißt es beim Volk von Elensar. Das Werk des Dunklen, hatte Ladira gesagt und auch Odin, der alte Mann, dem ein Auge fehlte, vor dem sie sich gefürchtet hatte, als sie kleiner war. Auch jetzt verspürte sie Angst.
"Madras", hauchte Shanora und brachte einen Rest ihrer Kraft auf, um der fremden Frau um den Hals zu fallen, die so viel Wärme und Sicherheit ausstrahlte. Überrascht, drückte Madras das Mädchen eng an sich und hielt es im Arm, als der schmale Körper von Schluchzern erzitterte.
Sie streichelte ihr sanft über das dunkle, zerzauste Haar. "Was ist nur vorgefallen, dass dich so mitnimmt, du armes Wesen?", flüsterte sie. Ihre dunklen Augen suchten den Waldrand ab, doch sie erblickte nichts. Keine Ursache für das Verhalten dieses Kindes. Es musste also woanders liegen. Tiefer im Wald, vermutete sie. Sie hatte bereits Gerüchte gehört über diesen Wald, in dessen Herz ein magischer See liegen soll, an den Hilfesuchende traten.
"Meine ... Meine Ziehmutter ... Ladira. Sie ist da drin!", zitternd bedeutete Shanora auf den Wald, "Und da ist auch ein Mann. Er ist nicht gut. Ich spüre das. Er ist nicht gut. Er hat irgendwas gemacht. Sie ... Sie hat mich angeschrieen. Sie hat mich nie angeschrieen. Ich habe Angst! Ich will nach Hause, aber ich weiß nicht wie! Ich will zu meinem Bruder!" Shanora hob den Kopf. Von Tränen überfüllte türkise Augen, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern, die verklebt waren. Gerötete Wangen und eine Nase, die ebenfalls zu lecken begann.
Madras suchte in ihren Taschen nach einem Tuch, das sie ihr geben konnte, damit sie sich schnäuzte. Als Shanora erneut zu Heulen begann, barg Madras ihren Kopf an der Brust und begann sie in ihren Armen zu wiegen.
"Ganz ruhig, mein Liebes. Erzähl mir alles. Von Anfang an, ja? Beginnen wir doch mal mit deinem Namen", flüsterte sie, als sich der Körper des Mädchens wieder entspannte und das Weinen in leiseres Schniefen überging, "Danach, woher du kommst und wer Ladira ist. Vielleicht kann ich dir helfen."
"Ich ... Ich heiße Shanora. Aus Elensar. Ladira ist meine Ziehmutter", schniefte das schwarzhaarige Mädchen und krallte die Finger in den Stoff von Madras' Gewand. Tief sog sie den Geruch der Frau ein und beruhigte sich langsam. "Ich weiß nicht, was passiert ist. Sie hat mich angeschrieen. Ihre Augen waren leer ... ", ihre Stimme brach zu einem Flüstern und Madras lauschte ihr aufmerksam, streichelte ihr unentwegt sanft übers Haar.
"Leere Augen und sie erkannte dich nicht?", fragte die Elfe und bedachte Shanora mit festerem Blick, "Das klingt nach dem Werk dieses Waldwesens. Sag, warst du an einem See, der geleuchtet hat und ringsherum war tiefe Nacht?"
"Ja, war ich. Was ist das für ein Waldwesen?"
"Das weiß man nicht so genau. Normalerweise ist er harmlos, aber wenn man so lang lebt, wie wir Elfen, dann weiß man, dass er nicht zum ersten Mal eine Frau in seinen Bann geschlagen hat. Was mit ihnen passiert, weiß man nicht. Er mag eigentlich Besucher."
"Warum hat er mich dann weggescheucht?", Shanora wischte sich mit dem Handrücken über die verheulten Augen, "Wenn er doch harmlos sein soll?"
"Das kann ich dir auch nicht sagen, kleine Rotznase", grinste Madras, entzog dem Mädchen das Taschentuch und wischte ihr die Nase sauber, "Ich kenne aber jemanden, der dir helfen könnte. Er wohnt aber ein gutes Stück weit weg. Möchtest du mitkommen?"
Shanora nickte und Madras entließ sie aus ihrer Umarmung, damit sie beide aufstehen konnten. "Herrje!", stieß die Elfe amüsiert aus, "Du bist ein Dreckspatz, Shanora. Hat dir deine Mutter nie gesagt, dass man nicht barfuß herumläuft?"
"Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist. Ich habe nur Ladira und meinen Bruder", als sie das aussprach, schossen wieder Tränen in ihre Augen, "Ich will zu meinem Bruder! Ich will zu Finn! Er hat versprochen, immer da zu sein, wenn ich ihn brauche. Aber er ist nicht hier!"
"Na na!", Madras zog sie eilig an sich, "Alles wird gut, mein Kleines, alles wird gut. Wir finden schon eine Lösung. Lass uns doch erst Mal Hilfe holen und dich ein wenig vom Dreck befreien. Dann sehen wir weiter. Eins nach dem anderen, ja?" Sie lächelte ihr aufmunternd zu und fasste sie bei der Hand. Gemeinsam folgten sie der Straße und Madras begann zu scherzen, damit Shanora wieder Lachen konnte. Aufgeheitert erzählte ihr diese dann von ihrem Bruder und fragte sich, was dieser wohl gerade machte.
"Ich schwöre, Pyrofera! Sie war hier! Da war dieses Licht und dann ... ", Finn raufte sich die kurzen blonden Haare. Er war sich sicher, dass er seine Seele darauf verwetten konnte, dass er seine kleine Schwester hier gesehen hatte. In seinem Zimmer, an der Tür. Genau in dem Moment, als sie aufging, erstrahlte alles in einem hellen Licht, aber er war sich sicher, dass es ihre türkisen Augen waren, die er verschwinden gesehen hatte. Sofort war er in sein Zimmer gestürzt und hatte das geöffnete Packet auf seinem Bett gesehen und dazu den Brief. Er hatte die Zeilen überflogen und dann war ein Schrei aus seinem Mund erklungen. Ein Schrei voll Wut auf sich selbst und Verzweiflung.
Angelockt von diesem, waren Pyrofera und die beiden Zwillingspaare ins Zimmer gestürzt. Church, der ihm gefolgt war, hatte sich in aller Seelenruhe aufs Bett gesetzt und den Brief an sich genommen. Der Dämon ignoriete gewissenhaft die giftigen Blicke, die ihm die derzeitige Herrin des Haues und Hüterin des Waldes schenkte. Der Wald gebar Monster und Dämonen aller Art und so waren auch einige entstanden, die nun in den Unterlanden lebten. Pyrofera hatte wenig übrig für diese Rasse.
"Ich glaube dir ja", meinte sie mit einem Seufzen zu Finn, "Ich glaube dir, aber sie ist jetzt nicht mehr hier und wenn du uns nicht verraten kannst oder willst, was genau passiert ist, dann kann ich dir auch nicht helfen."
"Genau, Finn. Spuck schon aus, was passiert ist. Sag deiner Tante, was in dem Packet war", feixte Church und lachte rau auf, "Sag ihr, was du so treibst."
"Halt die Klappe!", schoss Finn zurück und errötete bis zu den Haarwurzeln. Er wollte nicht, dass auch nur irgendjemand etwas davon wusste.
"Verdammt, ich will doch nur wissen, ob es ihr gut geht. Das was mit Odin passiert ist, ist scheiße genug", der Teenager ließ sich auf seinen Stuhl am Schreibtisch fallen und trat mit dem Fuß gereizt eine halboffene Schublade zu. Er wusste, dass diese vorher geschlossen war. Hier hatte Shanora also auch ihre Finger gehabt. Eine Prinzessin, er schnaubte, dass er nicht lachte! Prinzessin Langfinger traf es besser und trotzdem, er konnte ihr nicht böse sein. Wahrscheinlich war sie nun in irgendeinem Schlamassel und er war schuld daran.
"Das mit Odin ist wirklich schlimm. Er war der Beste auf seinem Gebiet", flüsterte Saphira von der Tür aus, "Wer wird nun seinen Platz einnehmen? Taurnil, der komische Kerl, der früher Berater des Königs war? Zephyr scheidet ja aus. Der kommt deshalb sicher nicht nach Hause."
"Sei dir da mal nicht so sicher. Papa kommt bestimmt, wenn er davon hört und wir sagen es ihm ja bald.", warf Sessy ein und zwirbelte nervös eine abgesäbelte Haarsträhne, "Nur ist er ein einfacher Forscher und Erfinder. Was kann er schon großartig im Rat bewegen?"
"Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird", seufzte Pyrofera, "Ich werde noch heute aufbrechen und zum Turm des Rates reisen. Sie müssen informiert werden. Darüber, dass Odin tot ist und meine Schwester abkömmlich. Wir können es leider nicht dem Dunklen anhängen."
"Aber Church hat doch gesagt ... "
"Church ist ein Dämon! Kein Elensarian glaubt einem Dämon aus den Unterlanden! Vergesst das nicht. Wir haben keine Beweise und nur, weil der Dunkle in den Unterlanden damit prahlt ... Solange er es nicht hier tut, ist er weiterhin unantastbar und die Majestät des schwarzen Thrones."
"Bah! Kann man eigentlich irgendwas dagegen tun, dass man mit dem verwandt ist?", Celles rümpfte die Nase.
"Ich fürchte, dass ist nicht möglich", lächelte Pyrofera, denn der Gesichtsausdruck, den die Zwillinge Ladiras gerade trugen, war ein Bild für die Götter. So angewidert, als hätte man ihnen saure Zitronen in den Mund gestopft.
"Es ist einfach alles auf einmal", grummelte Finn, "So viel Mist! Und ich bin auch noch schuld, wenn wir die Prinzessin verloren haben. Verdammter Mist!"
"Ich glaube, es geht ihr gut, Finn. Wir dürfen nicht die Hoffnung aufgeben. Ich werde einen Suchspruch starten, bevor ich aufbreche. Vielleicht kann ich sie orten", schlug Pyrofera vor.
"Was, wenn sie bei Ladira gelandet ist und nun auch bis zum Hals in der Tinte sitzt?"
"Daran denken wir erst gar nicht! Und selbst wenn, deine Schwester ist nicht so dumm wie sie manchmal tut. Naiv, ja, aber sie hat was im Kopf und sie ist begabter, als sie weiß. Es kann gut sein, dass ein paar ihrer Fähigkeiten ausbrechen in dieser Situation. Hoffen wir mal, dass sie dann nicht allein ist und jemand bei ihr ist, der sich auskennt."
"Das wäre wünschenswert!", Finns Augen waren groß, "Ich bin jetzt so gar nicht mehr beruhigt, wirklich nicht. Reichte es nicht, dass sie irgendwo ist, wo wir nicht wissen, wo das ist und jetzt auf einmal könnte sie auch noch einen magischen Schub kriegen, den sie nicht kontrollieren kann?!"
Pyrofera senkte den Blick und fluchte leise vor sich hin.
"Shanora ist in Sicherheit", meldete sich Maris Stimme aus dem Gang und ließ die Versammelten zusammenzucken. Vor wenigen Wochen noch, war dort ein kleines Mädchen mit schmutzigem dunklen Haar gewesen. Nun stand hier vor ihnen ein Mädchen, das beinahe so groß war wie Celles und Saphira und dessen Haar leuchtend grün schimmerte. Ihre blasse Haut und die großen grünen Augen, gaben ihr etwas leicht gespenstisches, ebenso ihre Art, aufzutauchen und zu verschwinden, wenn man es nicht erwartete. "Ich spüre es. Die Natur ist überall verbunden", flüsterte sie mit einem warmen Lächeln und legte die Hand an den Holzrahmen der Tür, "Shanora ist in Sicherheit."