Mahala
Mikkel war aufgeregt. Das musste sie sein! Er kannte das Kopftuch genau. Doch er wollte ganz sicher gehen. Es waren viele Jahre vergangen. Langsam und in grösserem Abstand folgte er ihr, um zu sehen, welches Haus sie wohl ansteuern würde. Mikkel hatte das Gefühl, dass sie sich mehrmals verstohlen nach ihm umsah. Er folgte ihr weiter und sah, dass sie sich in Richtung das Hauses wandte, dass er von früher kannte. Ja, das musste Mahala sein! Er ging schneller, um sie einzuholen. Als er zwei Schritte hinter ihr war, sprach er sie an.
"Mahala?"
Sie blieb stehen und drehte sich langsam zu Mikkel um.
"Ja?"
Mikkel sah in zwei wunderschöne bernsteinfarbene Augen. Er war sich sicher. Das war Mahala. Er konnte gewisse Züge in ihrem Gesicht wieder erkennen, die ihn an die Zeit erinnerten, als sie in Kindertagen durch Wälder und Wiesen streiften. Das kleine Grübchen an ihrem Kinn und ihre buschigen Augenbrauen. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, genau wie damals. Sie lächelte ihn freundlich und fragend an.
"Erkennst Du mich nicht Mahala?, fragte er. Ich bin es, Mikkel."
Mahala schaute überrascht zu ihm auf. Er war einen ganzen Kopf grösser als sie. Nach zwei Sekunden schlug sie sich die Hand vor den Mund. "Mikkel, ja, Du bist es tatsächlich. Ich habe Dich vorhin auf der Lichtung gesehen und dich nicht erkannt." Jetzt erst erkannte sie das Mal auf seiner Hand. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn.
Auch Mikkel legte seine Arme um sie. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Er wusste nicht was es war, aber es war sehr sehr schön. Mahala hatte ihren Kopf an seine breite Brust gelegt. Sie blieben ein, zwei Minuten so stehen und keiner von beiden wollte so recht wieder loslassen. Dann hob Mahala den Kopf.
"Es gibt viel zu erzählen Mikkel. Bist Du in Eile oder hast Du Zeit, mit ins Haus zu kommen? Wir könnten gemeinsam etwas essen und darüber sprechen, wie es uns ergangen ist in den letzten Jahren. Ich habe frische Pilze gesammelt." Sie hob ihren kleinen Korb an.
"Sehr gerne Mahala, das ist eine gute Idee. Ich freue mich darauf, auch Deine Eltern wieder zu sehen."
"Oh! Meine Eltern. Nun, Du kannst es ja nicht wissen. Sie sind leider beide tot. Seit ein paar Jahren schon, aber lass uns ins Haus gehen, dann erzähle ich Dir alles."
"Was," entfuhr es Mikkel betroffen.
Aber Mahala hatte ihn schon bei der Hand genommen und steuerte das Haus an, in dem sie lebte. Einige Menschen denen sie begegneten schauten ihnen nach und schienen sich zu fragen, wer der junge Mann an Mahalas Seite wohl sein mochte.
"Warte", sagte Mikkel plötzlich und stoppte ab. Er liess Mahalas Hand los und ging schnellen Schrittes zur Mitte des Platzes zurück. Die Begegnung mit Mahala hatte ihn für einen Moment glatt sein Pferd mit allen seinen Sachen vergessen lassen. Schnell war er zurück und sie setzten den Weg fort. Das Haus in dem Mahala wohnte, machte keinen guten Eindruck mehr. Es war lange nichts daran gemacht worden. Mikkel hatte den Eindruck, dass dies seit seinem Weggang so gewesen sein muss. Einige Dachschindeln müssten erneuert werden und ein Fensterladen hing schief herunter. Mikkel band sein Pferd vor dem Haus an und sie gingen hinein.
Das Innere des Holzhauses jedoch überraschte Mikkel. Alles war sehr ordentlich gepflegt und die gemütliche Einrichtung fand er sehr einladend. Liebevoll war der Innenraum gestaltet und mit vielen schönen kleinen Dingen dekoriert. Er fühlte sich sofort wohl hier. An einem Holztisch nahmen sie kurz Platz und Mahala zündete zwei Kerzen an und begann dann damit, dass Essen zu bereiten. Mikkel musste Mahala dauernd anschauen. Sie hatte sich zu einer sehr hübschen jungen Frau entwickelt. Mit geübten Handgriffen widmete sie sich dem Mahl, während sie einige Worte miteinander wechselten. Ein paar Minuten später stand eine wohlriechende Gemüsesuppe auf dem Tisch, welche sie mit Genuss verzehrten. Immer wieder schauten sie sich an. Dieses Gefühl in ihm wurde immer stärker. Er glaubte eine gewisse Traurigkeit in ihren Augen erkennen zu können, aber auch ein Leuchten, dass ihn faszinierte.
Als sie geendet hatten, half Mikkel den Tisch abzuräumen. Dann redeten sie. Sie redeten bis es dunkel geworden war und Mahala zündete weitere Kerzen an.
Mikkel erfuhr, dass ihre Eltern vor etwa drei Jahren gefunden worden waren. Erschlagen. Es war auf der Lichtung bei der alten Knorreiche geschehen. Niemand wusste, wer es getan hatte und warum. Ihr Schmerz war noch deutlich für Mikkel zu spüren. Mahala hatte sie auf der Lichtung begraben lassen und an manchen Tagen besuchte sie sie dort, so wie gestern, als sie Mikkel dort gesehen hatte. Mahala hatte im Laufe der Jahre heilerische Fähigkeiten entwickelt und kümmerte sich um die kranken Menschen hier und im Nachbardorf. So verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt. Wald und Feld gaben ihr so Manches zum Leben dazu und so führte sie ein einfaches, aber doch recht zufriedenes Leben. Lediglich für die Reparaturen am Haus fehlten ihr die Mittel, aber das Äussere war ihr nicht so wichtig. Die Menschen hier schätzten sie und waren dankbar für ihre Hilfe.
Mahala erzählte, dass beim Ausheben der Gräber für ihre Eltern auf der Lichtung etwas Merkwürdiges passiert sei. Sie fand einen kleinen Kristall und trug ihn seither an einem Band um den Hals. Seit dieser Zeit hatten sich ihre heilerischen Fähigkeiten enorm entwickelt. Sie legte den Kristall auf den Tisch, um ihn Mikkel zu zeigen. Mikkel nahm ihn in die Hand und sah ihn sich genau an. Er fasste in sein Hemd und zeigte Mahala den Kristall welchen er an sich trug.
"Ich habe einen ähnlichen Kristall, sagte er. Hatora, die Herrin der Kristallstadt hat ihn mir zum Geschenk gemacht." Er legte beide Kristalle auf den Tisch. Plötzlich ging ein seltsames Strahlen von beiden Kristallen aus. Sie schienen sich zu spüren und zu suchen. Verwundert sahen beide dem Schauspiel zu. Ihr Licht traf aufeinander und vermischte sich. Ein kleiner weisser Energieball schwebte über dem Tisch. Dann erstarb das Leuchten.
"Was war das?," fragte Mahala, bewegt von dem Schauspiel.
"Ich weiss es nicht genau, aber sie scheinen eine Verbindung zu haben," entgegnete Mikkel. Sie banden sich die Kristalle wieder um.
Dann erzählte Mikkel Mahala, wie es ihm ergangen war. Der Tod seiner Eltern auf der Lichtung. Die Kristallstadt. Seine Freunde Alturin und Bengolf. Seine Ausbildung. Seine Erlebnisse mit den Gnomm. Die Schlacht mit den Askaden..... Sie vergassen die Zeit und so wurde es Morgen. An Schlaf war nicht zu denken gewesen.
Mahala hatte ihnen einen Tee zubereitet und Mikkel sagte ihr, dass er heute nach dem Haus seiner Eltern sehen wollte. Mahala erzählte ihm, dass es nach seinem Verschwinden verschlossen wurde und dass seitdem niemand mehr dort gewohnt hätte. Der Dorfälteste hatte den Schlüssel an sich genommen und von Zeit zu Zeit nach dem Rechten gesehen. Sie bot sich an mitzukommen, um dem Dorfältesten zu bezeugen, dass er tatsächlich Mikkel war und Anspruch auf die Schlüssel und das Haus hatte. Mikkel willigte ein und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.
Der Dorfälteste war zunächst etwas misstrauisch gewesen, aber nach Mahalas Fürsprache und dem Erkennen des Males auf Mikkels Hand händigte er ihm die Schlüssel aus. Kurz darauf standen beide vor dem Haus von Mikkels Eltern. Es hatte ziemlich gelitten, da sich jahrelang niemand richtig darüm gekümmert hatte. Mikkel ging zuerst um das Haus herum und öffnete sämtliche Fensterläden. Dann schloss er die Tür auf und sie betraten den Innenraum. Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Mikkel öffnete sogleich die Fenster. Abgesehen von einer dicken Staubschicht hatte sich das Bild im Innern des Hauses nicht verändert. Alles war genauso, wie Mikkel es in Erinnerung hatte. Der Essplatz, der Kamin, die Eichenmöbel die Vater meist selbst gebaut hatte, die Kochstelle und ......auf dem Kaminsims lag die Pfeife. Die Pfeife seines Vaters. Er ging darauf zu und nahm sie in seine Hand und sah sie von allen Seiten an.
Erinnerungen kamen in ihm hoch. Erinnerungen an eine glückliche Zeit zu Dritt. Trauer machte sich in ihm breit. Mahala stand hinter ihm und legte mitfühlend ihre Hand auf seine Schulter. Seine Trauer war greifbar, sie fühlte es genau. Mikkel stellte die Pfeife zurück und begab sich in den hinteren Bereich des Hauses. Er wollte in sein Zimmer. Mahala folgte ihm. Langsam öffnete Mikkel die Tür. Er stellte sich in die Mitte des Raumes und sah sich um. Alles war noch da. Sein Holzspielzeug, das sein Vater für ihn gemacht hatte. Ein Pullover lag über dem Stuhl. Mutter hatte ihn für ihn gestrickt. Sein Bett war aufgeschlagen, als hätte Mutter es gerade für ihn gemacht. Mikkel, der Lichtkrieger, der Kämpfer, ein erwachsener Mann, fühlte sich in seine Kindheit zurück versetzt. Mahala sah den Glanz in seinen Augen und nahm ihn in den Arm. Eine Träne rollte über seine Wange.
Sie wischte ihm die Träne ab. "Unser beider Schicksal weist gewisse Ähnlichkeiten auf. Und es hat uns wieder zusammen geführt, Mikkel. Dies wird einen Grund haben, findest Du nicht?"
Als Mikkel sie an sich zog, fanden sich ihre Lippen wie von selbst und dieses starke Gefühl, dass Mikkel erst gerade kennen gelernt hatte, war wieder da. Nur noch viel stärker....