„Der König ist tot! Der König ist tot!“
Ein Junge vom Hofe des Königs rannte über den Markt und schrie die Worte hysterisch heraus, als würde dadurch das ganze Dorf Elend ereilen. Bereits vor dem Tod des Königs hatten die Bewohner von Sajukowo Leid erfahren. Dennoch hielt sich der Hunger mit dem alten König im Rahmen des Erträglichen.
Was würde nun passieren, da der König tot war? Das wusste niemand. Er war ein guter König gewesen, obwohl auch er nichts gegen die harten, kalten Winter und die heißen Sommer hatte unternehmen können, sodass seine Bauern seit langem hungerten.
Im Laufe der Zeit war das Königreich trotz der Mühen seines Herrschers ärmer und ärmer geworden. Durch dessen Tod würde es sich nie wieder erholen. Auch die Krönung des Prinzen würde daran nichts ändern. Vor allem weil die Fußstapfen, in die der Prinz treten musste, ziemlich groß waren.
Mitten in der Bewegung innehaltend sah Misha dem Jungen hinterher. Der Tod des Königs bedeutete eine große Veränderung. Schnell warf der Bauernjunge seine Arbeit hin, ergriff die Zügel seines Pferdes und hievte sich mit einer geübten Bewegung auf den Kaltblüter.
„Wasilisa, los mein Mädchen“, trieb er das Pferd an.
Donnernd schallten die Hufschläge, gefolgt von einem lauten Wiehern in seinen Ohren. Es ließ sein Herz aus dem Rhythmus kommen.
Seit seiner Geburt hatte Misha ein hartes Leben. Von Jahr zu Jahr wurde es immer unerträglicher. Es gab wenig Nahrung. Hunger und Krankheit raubten den Menschen die letzte Lebensfreude. Nun würde nichts mehr so sein, wie früher. Für Misha ging etwas zu Ende. Durch die Krönung des Prinzen verlor er einen Teil seiner Selbst, das wusste er.
Atemlos erreichte er ihren geheimen Platz. Vor neugierigen Blicken verborgen im Dickicht des Waldes. Misha suchte nach dem vertrauten Gesicht, welches er in vielen Nächten geküsst hatte. Er wollte es aus seinem Mund hören. Er brauchte Gewissheit. Vorher würde er es nicht glauben. Doch niemand kam. Die Bäume rauschten im Wind. Klagten über etwas, das Misha nicht verstand. Ein Sturm zog auf.
Kraftlos ging Misha in die Knie. Sein schönes, blondes Haar bedeckte sein Gesicht. Gemeinsam mit den ersten Regentropfen fielen bittere Tränen zu Boden und befeuchteten die trockene, raue Erde. Es waren nicht seine ersten Tränen, aber gewiss auch nicht seine letzten.
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Jeden Tag ging Misha zu ihrem geheimen Treffpunkt. Seine stillen Bitten und kindlichen Hoffnungen blieben unerfüllt. Er wartete so lange er konnte. Niemand kam. An dem Tag der Krönung suchte ihn ein kleiner Junge auf, während Misha auf dem Feld seines Vaters arbeitete. Der Junge überreichte ihm eine sorgfältig gefaltete Notiz. Sofort warf der blonde Mann alles hin und holte sein Pferd. Ohne es zu satteln, galoppierte er los. Die Rufe seiner Eltern ignorierend, die ihn als mahnendes, düsteres Echo begleiteten.
Ungehindert kämpfte Wasilisa sich durch das Dickicht des Waldes. Den feurroten Sonnenuntergang im Rücken. Und plötzlich stand er vor ihm: Prinz Nazar, der heute König geworden war. Er fing das Pferd ab, beruhigte es und nahm die Zügel an sich.
Eine lange Zeit musterten sich die Männer gegenseitig, ohne dass einer von ihnen ein Wort verlor. Langsam rutschte Misha von seinem Pferd herunter. Völlig ausser Atem.
Wie Peitschenhiebe hatten kleine Äste Schnitte auf seiner Haut hinterlassen. Vor lauter Aufregung den Prinzen wieder zusehen, spürte Misha davon nichts. Noch immer schwiegen sie. Prinz Nazar, weil er nicht wusste, wo er anfangen sollte. Und Misha, weil er nicht wollte, dass dieser besondere Moment mit vernichtenden Worten endete.
Mit müdem Wiehern durchbrach Wasilisa die Stille. Allen Mut zusammennehmend streckte Misha seine Finger aus und berührte Nazar an der Hand, der damit die Seine sofort umschloss.
„Ich dachte, du würdest nicht mehr kommen“, flüsterte Misha.
„Ich kann nicht bleiben. Ich muss fort.“
„Fort?“
„Ja“, bestätigte Nazar bitter. Der Abendwind spielte mit seinem dunklen Haar, während sich die untergehende Sonne in dessen Augen spiegelte und diese aussehen ließ wie kleine Flammen. Oder Irrlichter in der beginnenden Dunkelheit des Waldes.
„Wie meinst du das? Fort? Wohin?“
Der frisch gebackene König konnte Misha noch nicht einmal in die blauen Augen sehen, als er weiter sprach.
„Der letzte Wunsch meines Vaters. Eine Prinzessin muss an meine Seite.“
„Eine Prinzessin?“, fragte Misha ungläubig. Abrupt ließ er Nazars Hand los, als hätte er sich daran verbrannt. Der junge Mann hatte das Gefühl, seine Seele zerbrach in tausend Stücke.
Selbst ohne Gold und Juwelen war der Prinz ein begehrenswerter Heiratskandidat. Mit seinem dunklen Haar, den stürmischen Augen und dem verkniffenen Mund wirkte er zwar launisch, zugleich aber auch sehr leidenschaftlich. Seine Stimme war tief, die Hände groß. Mit breiten Schultern und langen, muskulösen Gliedern war er ein vollkommener Mann.
„Ah, verdammt, eine Königin soll an meiner Seite regieren.“
„Eine Königin“, wiederholte Misha. Dünn und brüchig klang seine Stimme. Seine Hände zitterten zur Faust geballt an seiner Seite. Dass dieser Tag kommen würde, hatte Misha gewusst. Der Tod des Königs brach Vieles entzwei. Es aus Nazars Mund zu hören, war wie ein Messerstich in sein Herz. Er hatte diese Worte erwartet, nicht jedoch, dass sie so sehr schmerzen würden.
„Reich muss sie sein.“
„Reich?“
„Misha, spreche ich zu undeutlich, oder hast du was an den Ohren? Das sagte ich doch soeben.“
„Verzeih. Ich bin verwirrt.“
„Das haben wir vorhergesehen“, knurrte Nazar wütend.
„Ja, sicher. Aber-“, Misha unterbrach sich. Dazu gab es nichts zu sagen.
Der junge König dachte nach. Stürmisch nahm er das Gesicht des überraschten Bauernjungen in beide Hände und zog ihn näher zu sich. „Lass uns verschwinden.“
„Wo- wohin?“
„Irgendwohin, Misha, sonst werde ich eine Prinzessin ehelichen und ein Leben in Lüge leben müssen. Wir werden uns nicht mehr treffen, nicht mehr sehen können.“
„Aber, ... wovon sollen wir denn leben?“
„Wir sind zwei junge, starke Burschen, da werden wir sicher eine Lösung finden. Sieh dir das Königreich an. Es ist arm und kann seinen Bauern nicht helfen. Die Leute hungern. Was hast du heute gegessen? Altes Brot und Brennesselsuppe? Das ist kein Leben, Misha.“
Misha überlegte. „Deine Verantwortung aufgeben? Deine Pflicht? Du würdest vor Gott sündigen. Denn er hat dich erwählt diese Menschen zu führen. Würdest du das alles tun? Für mich?“
Liebevoll strich Nazar ihm durchs blonde Haar. „Wer hat denn an dich gedacht? Ich tue es für mich. Natürlich.“ Der König grinste und Misha erwiderte sein schnaubendes Lachen.
„Komm her.“ Er zog Misha zu einem leidenschaftlichen Kuss zu sich. Dann strich er sanft mit dem Daumen über dessen Gesicht. „Heute. Nach Mitternacht. Mach dich bereit. Nimm nicht zu viel mit. Nur das Allernötigste.“
Aufgeregt nickte Misha, bevor sie sich erneut küssten.
„Und Misha? Komme nicht zu spät. Das ist unsere einzige Chance. Sonst werde ich morgen früh eine Prinzessin suchen müssen.“
Sie lachten und trennten sich. Vielleicht meinte das Leben es doch gut mit Misha.
*******
Das Haus des Bauernjungen lag etwas abseits der Mauern des großen Schlosses. Bis Mitternacht konnte Misha kein Auge zumachen. Seine Handflächen schwitzen und seine Gedanken wanderten unruhig in seinem Kopf umher. Er ging alle Möglichkeiten durch, wie ihr gemeinsames Leben aussehen könnte. Was sie gemeinsam unternehmen würden. Ihm blieb keine Zeit, um sie an negative Gedanken zu verschwenden. Zu groß war seine Freude.
Die ganze Familie schlief, als sich der zweitälteste Sohn aus seinem Bett erhob und aus dem Haus schlich. Seine Taschen waren nur mit dem Nötigsten gefüllt. Ganz so, wie er es Nazar versprochen hatte.
Sein Pferd war ein Arbeitstier. Für das Umpflügen harter Ackerböden und zum Ziehen der Kutsche gedacht, nicht zum Reiten. Die Familie teilte sich einen Sattel. Und damit besaßen sie bereits mehr, als manch anderer aus ihrem Dorf. Dieser Sattel war jedoch nicht für lange Ausritte geeignet. Seit seinen Kindheitstagen an war Misha gewohnt ohne Sattel zu reiten. Unbeachtet ließ er den Sattel zurück. Bereits das Pferd zu nehmen fiel ihm schwer. Doch Wasilisa war seine Gefährtin und er brachte es nicht übers Herz sie zurückzulassen.
Leise zog er sie an den Zügeln aus dem Stall in die Dunkelheit der Nacht. Sobald Misha außer Hörweite der Hütte war, sprang er auf den Rücken des Kolosses und galoppierte davon.
Die Könige des Waldes heulten ihr Lied und machten Wasilisa nervös. Auch Misha ergriff die Angst, obwohl er wusste, dass die Wölfe Menschen nicht angriffen, trotz der gemeinen Dinge, die man ihnen nachsagte. Misha glaubte nicht an den bösen, grauen Wolf. Doch nicht nur die Wölfe herrschten über den Wald.
Seine Stute schnaufte und bäumte sich auf, als funkelnde Augen im dichten Gebüsch auftauchten. Hungrige, rote Augen. Und wenn es gar keine Wölfe waren?
„Ruhig! Ruhig!“
Ängstlich tänzelte das Pferd auf einer Stelle, dann galoppierte es wieder los. Diesmal schneller. Obwohl Misha mit aller Kraft an den Zügeln zog, gehorchte Wasilisa ihm nicht. Sie trieb ihn vorwärts, mitten durchs Geäst. Peitschend schlugen die Äste in Mishas Gesicht, rissen an seiner Kleidung, zogen an seinem blonden Haar.
Eine Lichtung tat sich vor ihnen auf. Ein kleiner Fleck, den Sonne und Mond besser erreichten, als den Rest des Waldes. Etwas glänzte am Boden. Reflektierte den Schein des fahlen Mondes.
Abrupt blieb Wasilisa stehen und Misha wäre fast über den Hals des Pferdes nach vorn gefallen, hätte sie sich nicht gleich mit schreckenslautem Wiehern aufgebäumt. Mischa purzelte über ihren Rücken nach hinten und fiel auf den weichen Boden, der dick mit Moos und Blättern bedeckt war.
Unschlüssig trabte Wasilisa einige Schritte von der Lichtung weg, anschließend blieb sie stehen. Da erkannte Misha, was es war, das so geglänzt hatte. Ein Reh. Aber kein Einfaches. Es war das goldene Reh, worüber so viele Märchen erzählt, so viele Legenden niedergeschrieben worden waren. Worüber die Dorfbewohner redeten und träumten. Das goldene Rehe, auf das alle hofften, es aber niemand je erblickt hatte. Es sollte dem Königreich Reichtum und Glück bringen, sofern die Soldaten des Königs es zu fangen vermochten.
Zögerlich trat Misha näher an das Tier. Als der junge Mann in die Hocke ging und seine Hand danach ausstreckte, fing es plötzlich an zu sprechen.
„Tue mir nichts, Mensch.“
Misha zog seine Hand zurück und schüttelte den Kopf.
„Ich tue dir nichts. Habe keine Angst. Was fehlt dir?“
„Ich leide, doch kann ich nicht sterben.“
Mit klopfendem Herzen berührte Misha vorsichtig einen der Pfeile, der in der Brust des Tieres steckte. Er schluckte schwer. Das arme Tier. Es hieß, dass es vor der Krönung gejagt werden sollte, doch die Jäger waren ohne Beute zurückgekehrt, was nicht bedeutete, dass sie aufgegeben hatten.
„Deine gute Seele sehe ich in deinen Augen. Aber auch einen Wunsch, der nie in Erfüllung gehen wird. Ich sehe die Verzweiflung, die in dir keimt und eine dunkle Gier in dir weckt. Hör mich an, Misha, Sohn eines Bauern. Gejagt wurde ich. Verletzt. Doch sterben kann ich nicht. Leid verspüre ich. Töte mich nicht, um deinetwillen. Erlöse mich vom Leid um meinetwillen und ich werde dich belohnen.“
„Was soll ich tun?“, fragte Misha.
„So finde einen dicken Ast von einer jungen Birke. Schnitze mit Silber ein Messer daraus. Wasche es im Wasser, welches am hellsten vom Mond beschienen wird und kehre zu mir zurück.“
Und so tat es Misha. Obwohl es schwer war in der Dunkelheit einen geeigneten Zweig zu finden, so suchte er lange danach. Mit dem silbernen Dolch, den der Prinz ihm einst geschenkt hatte, schnitze er aus dem Holz ein Messer, wusch es ihm Fluss, wo der Mond am hellsten von der Wasseroberfläche reflektiert wurde und kehrte zu dem goldenen Reh zurück.
Sobald er sich vor dem Reh hinkniete, legte das Tier seinen schweren Kopf auf seinen Schoss und seufzte leise.
„Sprich mir nach, Bauernsohn: Von der Natur geschenkt, gebe ich es zurück, alsbald es mir danken wird.“
Und Misha sprach ihm nach.
„Wenn ich tot bin, wickle meine Gebeine in ein weißes Tuch und gieße mein goldenes Blut darüber. Esse nicht von meinem Fleisch. Verkaufe nicht mein Geweih, mein Fell, meine Knochen oder mein goldenes Blut. Jeden Tag sollst du drei Mal mein Grab mit dem Wasser, das der Mond am meisten beschienen hat, gießen. Und die Natur wird dir einen Wunsch deines Herzens erfüllen.“
Misha nickte und erlöste das Reh mit dem Birkenholzmesser, das er geschnitzt hatte. Dann zerlegt er es und wickelte alles in ein weißes Tuch. Langsam verblasste der Mond und der Horizont begann zu brennen, als Misha die Gebeine des Rehs über den Rücken seines Pferdes legte und losgaloppierte.
An ihrem Treffpunkt angekommen, war der König bereits fort. Wie nicht anders zu erwarten. Nazar hatte Misha gewarnt zu spät zu kommen. Der junge Mann vergrub die Gebeine an dem Platz, wo er den König hatte treffen sollen und wo dieser so lange auf ihn gewartet hatte. Misha tat alles, was das goldene Reh ihm aufgetragen hatte. Als er fertig war, hörte er Pferdehufen. Er blickte sich um und erkannte Nazar.
Mishas blauen Augen sahen dem neuen König hinterher, der sich nicht einmal zum Abschied nach ihm umdrehte. Doch Misha war nicht traurig, denn das goldene Reh hatte ihm Hoffnung gegeben.
Monate zogen ins Land. Jeden Tag ging der junge Bauernsohn zum Grab des goldenen Rehs um es drei Mal zu begießen. Obwohl Misha und seine Familie hungerten, hatte dieser nichts von dem Fleisch behalten. Weder verkaufte er das goldene Fell, noch die goldenen Hörner des Rehes. Selbst an Tagen, an denen es regnete, goss Misha Wasser, welches der Mond am meisten beschienen hatte, über das Grab. Er achtete nicht auf das Gerede der Menschen, die hinter seinem Rücken über sein merkwürdiges Verhalten tuschelten.
Bereits nach den ersten Wochen kam ein Sprössling heraus. Die Blätter entfalteten sich, der Kälte zum Trotz. Entschlossen kämpfte er gegen die Natur und die unfruchtbare Erde. Er drängte beiseite, was ihm im Weg war. Schon bald wuchs ein kräftiger, gesunder Apfelbaum heran. Seine Blätter waren aus leuchtendem Silber, seine Äste aus Bronze und seine Früchte glänzten im Schein der Sonne. Sie waren so golden und schön, wie der Sommer selbst.
Niemand konnte den Baum fällen, weil jede Axt an seinem Stamm zerbrach und auch die Blätter konnte niemand abreißen, nicht einmal einen Apfel pflücken, denn die Äste hoben sich gen Himmel, sobald jemand dem Baum zu nahe kam. Die Vögel, die sich darauf niedersetzten, vertrieben auch die Hartnäckigsten unter den Leuten, die versuchten ein kleines Stück der Kostbarkeiten des Baumes an sich zu bringen.
Nach einem langen und schweren Jahr läuteten endlich die Glocken, denn der König kehrte von seinen Reisen zurück. Verbittert sah er seine Bauern an, in deren Augen die Hoffnung auf ein besseres Leben langsam erlosch, als sie merkten, dass er ohne einer willigen, reichen Prinzessin heimgekehrt war. Keine Frau hatte zugestimmt einen König mit solch armen Königreich zu heiraten. Den Wunsch seines Vaters, jemanden zu ehelichen, der ihm Reichtum brachte, konnte Nazar nicht erfüllen.
Als der König an dem Baum mit den goldenen Äpfeln vorbei ritt, blieb er staunend stehen. Er erkannte ihren einstigen Treffpunkt, erinnerte sich daran, wie er hoffnungsvoll und ängstlich zugleich auf Misha gewartet hatte.
„Eine Königin, die diesem Königreich ihre Liebe, Treue und ihren Reichtum schenken wollte, habe ich nicht gefunden“, sprach Nazar zu seinen Bauern, die sich um ihn versammelt hatten. „Wer mir aber einen Apfel dieses Baumes dort bringt, die wird an meiner Seite das Königreich regieren.“
Wie verrückt rannten die Frauen des Dorfes auf den großen Baum zu. Sie bemühten sich redlich dem Baum eines seiner goldenen Äpfel zu entlocken. Manche sprachen zum Baum, baten ihn um seine goldene Frucht, andere erklommen den unbarmherzig glatten Stamm. Doch in dem Augenblick, als eine von ihnen sich den Äpfeln näherte, hoben sich die Äste dem Himmel empor. Keine von ihnen konnte eine Frucht ergattern.
Fluchend, schreiend und fauchend stießen sie einander in die Rippen, versuchten auf die Köpfe der anderen zu klettern, um den Ästen nahe zu sein oder rutschten erfolglos am Stamm des Baumes herunter. Schreiend und krächzend flogen die Vögel herbei und fingen an auf den Köpfen der Frauen zu picken, sie an den Haaren zu zerren oder sie gar mit kleinen Beeren zu bewerfen.
Da trat Misha an den Baum, nachdem er das Trauerspiel eine Weile verfolgt hatte.
„Bäumchen, Bäumchen schenke mir einen Apfel, sodass ich auf ewig glücklich bin.“
So neigte sich ein Ast und einer der goldenen Äpfel fiel in die geöffnete Handfläche des Blonden. Der junge Mann trat an den König heran, verneigte sich tief und ehrfurchtsvoll, dann reichte er diesem die funkelnde Frucht.
Überrascht und zugleich höhst erfreut, beugte sich der König zu Misha herab und küsste ihn auf den Mund.
Alsbald machte der König sein Versprechen wahr, heiratete den Bauernjungen und sie regierten bis ans Ende ihrer Tage. Der Baum schenkte ihnen Reichtum und Glück. Seine goldenen Früchte, die bronzenen Blätter und der silberne Stamm, sie lebten und vergingen mit Misha.