"Sag mal Carrie, was suchst du denn da so lange?", fragte Rachel und machte einen grossen Bogen um ihre Klassenkameradin, die auf dem Boden kniete und in ihrem Rucksack herumwühlte. Der Grossteil ihrer Klasse hatte sie schon längst überholt. "Mein Handy."
"Warum? Empfang hast du da unten sowieso keinen und so interessant sind die Knochen jetzt auch wieder nicht." Gerne hätte Carrie zu einer Erwiderung angesetzt, doch Steve stupste sie mit seinem Schuh an. "Kommt jetzt, sonst gehen die anderen ohne uns los." Tatsächlich drängten sich die restlichen fünfzehn Schülerinnen und Schüler bereits um den Eingang der Katakomben.
"Gefunden", rief Carrie Triumphierend und hielt ihr Smartphone in die Höhe. Tatsächlich traf Rachels zweite Vermutung zu, wenn sie schon mal im Ausland war, fotografierte sie leidenschaftlich gerne. Obwohl man das in Bezug auf die Knochen durchaus etwas makaber nennen konnte.
Jedem Schüler wurde vor dem Treppeneingang ein Audio-Guide in die Hände gedrückt, der sie durch die Katakomben führen- und ihnen alles erklären sollte. So konnte jeder die Katakomben in seinem ganz eigenen Rhythmus erkunden und diejenigen, die keine Lust hatten etwas zu lernen, konnten es auch ganz bleiben lassen. Für das Durchqueren der Katakomben waren zwei Stunden eingerechnet. gemäss Carrie müssten sie also um fünfzehn Uhr wieder draussen sein, es war genau 13:02 Uhr.
Die Treppe, die sie unter aller Tage führte, war eine schmale Rundreppe, weshalb sie im Gänsemarsch hinuntergehen mussten. Chantall und Deborah befanden sich ein gutes Stück vor ihr, waren aber wie gewohnt von allen am besten zu hören.
Der Abstieg dauerte nicht so lange wie sie erwartet hatte und sie gelangten auch nicht direkt in die Katakomben, sondern in einen Vorraum, in dem viele Informationstafeln mit alten Karten von Paris hingen. Dort wurde deutlich, wie weit sich dieses unterirdische Labyrinth erstreckte. "Und das sollen wir in einer Stunde ablatschen?", fragte Dean skeptisch. Carrie und Rachel grinsten sich verschmitzt an, da sie es aber nicht auf einen Streit ankommen lassen wollten, verkniffen sie sich das Lachen. Denn Dean war ebenso schnell eingeschnappt, wie er naiv war.
"Nein", meldete sich Angela zu Wort. Sie war die Schulsozialarbeiterin, die anstelle ihres Lehrers zu diesem Ausflug mitgekommen war. Klaustrophobie und enge Steingänge waren da offenbar keine gute Mischung. "Der Teil den wir heute machen, ist nur ein Bruchteil und führt hier entlang." Sie zeigte auf der Karte die ungefähre Distanz. "Der Rest ist nicht begehbar, da nicht alle Mauern gleich stabil sind und man sich sehr schnell verlaufen kann."
"Ach, nur wenn man blind ist", feixte Chantall und sah nicht gerade unauffällig in Carries Richtung, die für ihre schlechten Augen bekannt war. Dafür auch für ihren Grips.
"Also. Da mir sowieso niemand zuhören würde, wenn ich euch etwas erzähle, lasse ich euch von der Leine. Fasst nichts an, wir treffen uns in zwei Stunden vor dem Touristenshop."
Das liess sich natürlich keiner zweimal sagen- innerhalb kürzester Zeit waren alle in den Katakomben verschwunden.
Hier gab es noch keine Knochen. Die steinernen, schmalen Gänge schafften es aber auch so, die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu ziehen. Immer wieder gab es versperrte Türen und Durchgänge, die in die Finsternis führten. Vor manchen befanden sich lediglich Gitter, wie man sie aus Gefängnissen kannte. Bei anderen waren es massive Stahltüren.
Obwohl der Gang schmal war und sie zu beginn eher hinter- als nebeneinander gehen mussten, bildeten sich schnell kleine Grüppchen. Dieselben wie im normalen Unerricht auch.
Rachel und Carrie gingen schweigend nebeneinander her, lauschten ihren Audioguides und blickten hin und wieder nach oben, wenn sie von einem Wassertropfen getroffen wurden. Die Wände und Decken waren flach, wenn man von den Unebenheiten, die Gestein eben so mit sich brachte absah. Trotzdem schafften es immer wieder einzelne Tropfen den Weg durch den Boden und das Gestein zu finden.
Ihr Audioguide berichtete, dass die Bauarbeiter früher eine Russspur an die Decke sämtlicher Gänge gemacht hatten, an denen sie entlanggekommen waren. So wussten sie am Abend immer, welchen Gängen sie folgen konnten um zurück zu gelangen. An manchen Orten waren diese Spuren noch gut sichtbar, andernorts schon längst verwischt und kaum noch zu sehen.
Es dauerte einige Zeit, biss sie "das Reich der Toten" betraten, wie der Eingang so passend beschrieben worden war.
Nun kam wieder Leben in die Klasse und es wurden die wildesten Spekulationen angestellt, warum gewisse Knochen wie aussahen und wie deren Besitzer wohl zu Tode gekommen waren.
"Vielleicht wurde der hier ja von einer Axt erschlagen", mutmasste Victoria während sie auf einen Schädel deutete, der leicht gespalten war und ihnen schon fast höhnisch entgegengrinste.
Schicht um Schicht waren die Knochen aufgetürmt, alleine im begehbaren Teil des vom Menschen erbauten Höhlensystems mussten es tausende sein.
Rachel, die in Französisch um einiges besser war als sie selbst, blieb stehen um die Inschriften zu lesen.
Der Grossteil ihrer Klasse zog an ihnen vorbei, bis sie auf einmal nur noch zu zweit dastanden.
"Unglaublich, wie viel Arbeit hier reingesteckt wurde..." Normalerweise machte sich Rachel nicht besonders viel aus Architektur oder Geschichte, umso deutlicher wurde es, wie sehr der Ort sie offensichtlich beeindruckte.
Ein lautes Geräusch hinter ihnen liess die beiden jungen Frauen zusammenfahren. Alarmiert blickten sie sich an, ehe sie auf das Geräusch zugingen.
"Das ist nicht euer Ernst, oder?"
Sie wusste nicht wie, aber Dean hatte es tatsächlich geschafft, das Schloss einer der Metalltüren aufzuknacken.
"Sieht so aus, als wird der Ausflug doch noch spannend." Chantall, die dicht neben ihm gestanden hatte, zwängte sich sogleich durch den Durchgang, Dean dicht auf den Fersen. Der drehte sich noch einmal um und blickte abwartend zu Rachel und ihr herüber.
"Das ist eine Straftat."
"Ins Gefängnis gehen wir dafür schon nicht, aber wenigstens können wir sagen, wie waren an einem Ort, an dem noch kein anderer Schüler vor uns war." Rachel hatte sich entschieden. Carrie stöhnte auf. Warum musste ihre beste Freundin auch nur so eine verdammte Mitläuferin sein?