Ari drückte die Tür leise ins Schloss und sah sich einen Moment hilflos um. Ihr Blick fiel auf einen unauffälligen Stoffbeutel, der einsam über der Lehne ihres Schreibtischstuhls hing. Langsam nährte sie sich, ging in die Hocke und griff in die Tasche. Ihre Hand berührte glattes Gewebe und sie schluckte schwer. Mit zitternden Lippen, fischte sie ein schwarzes T-Shirt aus der Tasche und drückte es sich ins Gesicht. Sie atmete tief ein und warf sich damit auf ihr Bett.
Mit dem Shirt kuschelnd, rollte sie sich zusammen und versank in bitter süßen Erinnerungen. Sollte sie noch einen Versuch wagen, dieses vermaledeite Missverständnis aus der Welt zu räumen oder war es längst zu spät? Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie sich auf dem Dach begegnet sind und die Nacht miteinander verbrachten hatten.
Die Stimme ihrer Mutter drang gedämpft durch die Tür. Sie telefonierte. Wie Ari selbst, hatte auch Cornelia die Angewohnheit, währenddessen durch die Wohnung zu spazieren. Sie klang besorgt und riet irgendjemandem zu einem Arzt zu gehen oder besser gleich ins Krankenhaus, weil ihre Dienste nicht mehr ausreichten, um zu helfen. Ari runzelte die Stirn. Sprach sie etwa über Tom? Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Das konnte eigentlich nicht sein, denn sie kam ja gerade von ihm und meinte zu Ari, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging und schon wieder wird. Ihre Mutter stand direkt vor ihrer Tür, als sie sich am Telefon verabschiedete. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt und Cornelia steckte den Kopf ins Zimmer.
„Schläfst du?"
„Mh-mh", verneinte Ari und drehte sich träge zu ihr um, Toms Shirt noch immer an die Brust gedrückt.
„Gehst du Übermorgen noch mal bei deinem Freund vorbei?"
„Er ist nicht mein Freund."
„Ja, was auch immer, du weißt schon. Check ihn einfach noch mal."
„Mkay..." Sie runzelte die Stirn und wich ihrem Blick aus.
„Etwas weniger Begeisterung, bitte."
Ari grummelte etwas Unverständliches.
„Wär's dir lieber wenn ich gehe?"
„Nein", kam es wie aus der Pistole geschossen und Cornelia grinste zufrieden.
„Gut. Ich hau mich jetzt hin. Meine nächste Schicht fängt 21 Uhr an. Wenn du Hunger hast – ich hab Kuchen aus dem Krankenhaus mitgebracht. Michaela hatte Geburtstag."
Ari nickte nur und ihre Mutter verzog sich in ihr Schlafzimmer. Sie ließ den Kopf wieder auf ihr Kissen sinken, zog die Decke über sich, knüllte sich das Slipknot-Shirt vors Gesicht und schlief ebenfalls ein.
Die folgenden beiden Tage vergingen dank der Arbeit in der Praxis wie Flug. Ari blieb beide Male freiwillig länger, weil sie sich fürchtete mit ihren Gedanken und Ängsten allein zu sein. Sie half der Tierärztin beim Impfen, Bandagieren von verletzten Pfötchen, Festhalten und Beruhigen ihrer pelzigen Patienten. Die Arbeit lenkte sie ab und Dr. Tomalik war ihr doppelt dankbar, da eine Festangestellte krank war. Bevor sie sich am Abend verabschiedete, bat sie ihre Chefin am nächsten Tag eine verlängerte Mittagspause machen zu dürfen, da sie einen wichtigen Termin hatte. Dr. Tomalik hatte wie erwartet keine Einwände und entließ ihre Praktikantin in den Feierabend. Wie am Abend zu vor ging sie über Umwege nach Hause und wie zufällig führte ihr Weg sie ganz in der Nähe von Toms Wohnung vorbei. Sie hielt inne und sah zu den erleuchteten Fenstern im dritten Stock auf. Sie stellte sich eine dunkle Silhouette vor, die am Fenster innehielt, hinaus sah und ihre sehnsüchtigen Blicke erwiderte. Doch niemand ging vorbei und Ari riss sich los und lief nach Hause.
Je näher ihre Pause am nächsten Tag rückte, um so nervöse wurde das Mädchen. Sie hatte den Stoffbeutel in ihren Spint gesperrt, bereit, das T-Shirt endlich seinem Besitzer zurückzugeben. Gegen halb 12, nachdem gerade ein Hund mit entzündeten Ohren versorgt worden war, sie dem Besitzer eine antibiotische Salbe und den Rat, zukünftig auf Futter mit Getreide zu verzichten, mitgegeben hatte, verschwand Ari in den kleinen Umkleideraum und zog sich um.
„Ich geh jetzt", rief sie der Sprechstundenhilfe zu. Die nickte bloß, winkte kurz und widmete sich wieder einer nervösen Katzenhalterin und dem Fellknäul, das aus seinem Tragekörbchen heraus maunzte.
Auf dem Weg zu Toms Wohnung wurden Aris Schritte immer langsamer und ihre Nervosität steigerte sich ins Unerträgliche. Ihre Hände waren schweißnass und das Herz schlug ihr bis zum Halse. Mit weichen Knien erklomm sie die Stufen vor der Haustür und starrte auf das Klingelschild. Tief durchatmend hob sie schließlich eine zitternde Hand und presste den Zeigefinger auf den runden Klingelknopf.
Es dauerte über eine Minute, die sich auf Stunden zu dehnen schien, bis es leise im Lautsprecher knackte.
„Hallo?"
Aris Herz setzte aus. Tom war an der Gegensprechanlage. Sie hatte so auf seine Mutter gehofft.
„Ähm...", begann sie stotternd. „Hier ist Ari... -el." Eine Eingebung ließ sie, mit etwas Verspätung, ihren vollen Namen nennen, statt wie gewohnt die Abkürzung. „Meine Mutter, Cornelia, schickt mich, um noch mal nach dir zu sehen."
Stille. Ari hielt gebannt die Luft an. Das Herz rutschte ihr immer tiefer in Hose und sie glaubte jeden Moment umzukippen, als Tom endlich antwortete.
„Verschwinde! Ich will dich hier nicht haben. Ich brauch' dich nicht."
Und damit legte er auf. Das Knallen des Kunststoffhörers riss Ari aus ihrer Starre. Baff und tief verletzt ging sie die Treppen steifbeinig wieder herunter. Jeder Kraft beraubt setzte sie sich für einen Moment auf die kalten Stufen. Die Worte hatten sie tief getroffen und den mühsam aufgebrachten Mut völlig zerschmettert. Sie empfand seine Reaktion als zu tiefst ungerecht. Und statt los zu heulen, schluckte sie die Tränen empört herunter und steigerte sich bewusst in die Wut, die seine Worte geweckt hatten. Sie verliehen ihr neue Kraft und ordentlich angepisst stopfte sie die Tasche mit Toms Shirt durch den Schlitz des Briefkastens. Nach kurzem Zögern, griff sie schließlich noch in ihre Tasche, wühlte nach Stift und Papier und begann aufgebracht eine kurze Nachricht.
„Nicht, dass es noch von Bedeutung wäre, aber was du damals geglaubt hast zu sehen, war etwas völlig anderes! Wenn du dir die Mühe gemacht hättest, auf mein Rufen zu reagieren, hätte ich dir gleich sagen können, dass es mein Cousin war (den ich nur sehr selten sehe) der mich abgeholt hat. Nur, dass du es weißt! Und ich hab BTW versucht, dir dein T-Shirt zurückzubringen. Mehrfach, denn ich wollte dich wieder sehen! Beim letzten Mal war ich aber wohl zu spät, denn du warst wie vom Erdboden verschwunden und keiner wusste wohin."
Ohne ihren Namen unter die Nachricht zu setzten, knüllte Ari den Zettel zu dem Stoffbündel. Gerade rechtzeitig, bevor die dicken Tropfen des einsetzenden Regen ihre Worte verwischen konnten, die der Kerl am Ende noch als Tränen missdeuten würde. Sie schulterte ihre Tasche, zog sich die Kapuze ihres schwarzen Mantels tief ins Gesicht und rannte zurück in die Praxis.
~ ~ ~
„Hey Schatz, bin wieder zu Hause", rief Katrin mit schwacher Stimme. Tom kam sofort aus seinem Zimmer, um ihr Tasche und Mantel abzunehmen. Die Sachen waren nass vom Regen, der seit heute Mittag nicht abgenommen hatte.
„Hey Mama, und was hat der Arzt gesagt?"
„Ach noch nicht wirklich viel", meinte sie etwas aus der Puste und stellte einen riesigen zitronen-gelben Schirm aufgespannt hinter sich in den Flur. „ Es waren noch nicht alle Testergebnisse da und ich hab noch einen Termin für ein MRT bekommen. Aber erst ins zwei Wochen. Vielleicht ist es ja gar nicht so wild, wenn sie mich so lange warten lassen." Sie bückte sich und hob einen hellen Stoffbeutel auf. „Übrigens, das hier war im Briefkasten."
Die Frau reichte ihrem Sohn die Tasche und ein zerknittertes Stück Papier. Erstaunt nahm Tom beides entgegen, faltete den Zettel auseinander und überflog die handgeschriebenen Zeilen. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit jedem Wort. Schließlich warf er einen Blick in den Beutel. Ein schwarzes T-Shirt. Er musste es nicht herausholen, um zu wissen, was für ein Shirt das war. Sein Mund war plötzlich trocken.
„Nicht, dass es noch von Bedeutung wäre...", murmelte er.
„Alles in Ordnung, Tommy?", fragte seine Mutter besorgt und sah ihn mitleidig an. Es war offensichtlich, dass auch sie die Nachricht gelesen und vermutlich die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Sie trat auf ihn zu und zog ihn in eine liebevolle Umarmung. Tom schüttelte den Kopf, als wolle er auch die Gedanken aus sich heraus schütteln.
„Ja, ja, passt schon."
Doch er erwiderte die Geste und drückte die kleinere Frau sanft an sich. Sie fühlte sich so dünn und zerbrechlich an. Auch ihre Haut erschien immer blasser und glänzte wächsern.
„Sei nicht stur und geh zu dem Mädchen. Egal was war, das lässt sich sicher klären", versuchte sie ihn aufzumuntern.
„Nein, ist schon gut so. Ich hab weder Bock noch Zeit für Frauenstress. Mir reicht eine Frau, die mir Kopfzerbrechen bereitet." Er zwinkerte ihr unbeschwert zu und drückte ihr einen Kuss auf den langsam ergrauenden Schopf.
„Du solltest wegen mir nicht auf alles verzichten müssen", sagte sie mit belegter Stimme.
„Ist schon okay, Mama. Leg dich hin, du siehst müde aus. Ich häng dann die Wäsche auf und hol dich, wenn das Abendessen fertig ist."
„Danke, mein Lieblingssohn."
Er antwortete nur mit einem schiefen Lächeln und zog sich in sein Zimmer zurück. Er schloss die Tür hinter sich und atmete schwer. Er hockte sich im Schneidersitz auf sein schmales Bett und strich das Stück Papier, das er bis dahin fest in der Faust gehalten hatte, auf seinem Oberschenkel glatt. Still las er die wenigen Worte noch einmal. Dann griff er in den Beutel und holte sein Slipknot-Shirt heraus. Versonnen betrachtete er den ausgeblichenen Druck.
Er ließ sich zurück auf die Matratze fallen und legte es sich übers Gesicht. Es roch nach ihr. Sie hatte es gewaschen, vielleicht sogar noch einige Male getragen. Mit geschlossenen Augen genoss er den Duft und alte Erinnerungen von ihrer gemeinsamen Nacht überschwemmten ihn. Mit einem Ruck riss er sich das Shirt vom Gesicht, bevor es noch mehr in ihm auslöste und schleuderte es quer durch den Raum, auf einen Haufen Wäsche.
Auch wenn es wehtat, er bereute seine harschen Worte vom Mittag nicht. Selbst wenn seine Mutter recht hatte, und Ari und er die Situation klären und dieses letzte halbe Jahr vergessen könnten, war es dafür zu spät. Er hatte inzwischen ganz andere Probleme und konnte nicht noch eine Frau gebrauchen, die versuchen würde ihn aufzuhalten und drohte, ihn mit ihren Sorgen zu erdrücken und abzulenken.
„Warum, zum Teufel, muss ausgerechnet sie Cornelias Tochter sein?", fragte er sich selbst.
Frustriert erhob er sich wieder und stellte sich vor die Spiegeltür seines Kleiderschranks. Er zog sich sein Shirt aus und warf es dem anderen hinterher, um sich selbst seine Verletzungen anzusehen, zu säubern und mit Salbe zu versorgen. Der Anblick seines lädierten Gesichts entfachte heiße Wut und Scham in ihm. Er hasste die Vorstellung, dass sie ihn so gesehen hatte. Nur mit Mühe hielt er sich selbst davor zurück, auf den Spiegel einzuschlagen.