Ragnar konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Obwohl ein ganzer Stapel Decken und Felle sein Lager in der provisorischen Hütte erträglicher machte und sich bereits Wärme um ihn herum ausgebreitet hatte, sann er immer noch über Vergangenes und Kommendes und fand keine Ruhe. Lathgertha war nicht nicht gekommen. Sie und Björn hätten ebenfalls an den Julfeuern sitzen sollen. So war ihre Vereinbarung gewesen und er hatte daran geglaubt, ja, mit ganzem Herzen darauf gehofft, seine Gefährtin und seinen Sohn noch vor dem Opfertag wiedersehen zu dürfen. Doch sie waren den Feuern fern geblieben und nun fragte sich der Jarl bang, ob dies bereits die Antwort war, die seine Gertha ihm noch geben musste. War es ihr wirklich nicht möglich, ihm zu vergeben? Konnte sie nicht zu ihm zurückkehren, nun, da sie auch seine Schattenseiten zu sehen bekommen hatte?
Ragnar seufzte schwer. Es brachte wohl gar nichts, wenn er sich weiter hier auf seinem Lager quälte. Vielleicht war ja Jorunn noch wach und hatte einen Rat für ihn? Ja gewiss! Die Alte würde in dieser Nacht sowieso nicht schlafen, da sie das Feuer zu unterhalten hatte.
Er schlug die Decken zurück, mit denen er sich vor der beißenden Kälte geschützt hatte und warf sich seinen Mantel aus Schaffell über. Der dicke Pelz war ein guter Schutz im Winter. Dennoch fröstelte es den Jarl und es war nicht so sehr die Kälte, die ihm zu schaffen machte. Heimlich und leise hatte sich erneut Angst in seinen Verstand geschlichen, Angst nun, dass er seine Gefährtin und seinen Sohn vielleicht nicht mehr wiedersehen würde. Auch, wenn Gerthas Bruder auf seinem Grund und Boden lebte, lag das Stammesland ihrer Familie weit weg im Nordwesten, noch hinter dem Skagerag. Wenn sie dorthin zurückkehrte, wären sie und ihr Sohn ohne Widerruf für ihn verloren. Doch noch wusste er ja gar nicht, was Lathgertha aufgehalten hatte. Sollte er dennoch auf das Beste hoffen?
Unentschlossen verließ der Jarl seine kalte Behausung und musterte die nächtliche Ritualstätte. Hier und da hingen die vertrockneten Reste früherer Opfer in den heiligen Bäumen und der Wind ließ die Kadaver gespenstisch hin und her schwingen. Zum Glück war alles um ihn herum gefroren, dachte er, sonst käme zu dem furchteinflößenden Anblick auch noch der alles durchdringende Gestank hinzu, der die Opferstätte im Sommer umgab. Auch so war der heilige Hain für Ragnar kein Ort, an dem er sich wohlfühlte.
Etwas abseits von den drei Hütten sah er, wie erwartet, Jorunn am Julfeuer sitzen. Der Jarl hatte sich ihr bereits zugewandt und wollte ebenfalls einen Platz am Feuer einnehmen, als er ein leises Stöhnen vernahm, das ihn zögern ließ. Was war das? Ragnar verharrte stumm und lauschte in die Dunkelheit. Da war es wieder, ein leiser, scheinbar klagender Laut, dem ein unterdrücktes Keuchen folgte. Waren sie etwa nicht allein im Hain, hatte sich ein Dorfbewohner verletzt oder war erkrankt und litt nun einsam in der Kälte? Schon wollte Ragnar nach dem Rechten sehen, als ein Rascheln zu hören war, das er nun der Hütte Thorsteins zuordnen konnte. Dann vernahm er auch das lustvolle Knurren des Steuermannes und einen ebenso eindeutigen leisen Aufschrei Rúnas, dem sie ein geflüstertes "Bei Gebo, Thorstein, bitte!" folgen ließ.
Die Erkenntnis ließ den Jarl bis an die Ohren erröten. Gerade hatte er ganz offensichtlich das Paar beim Liebesspiel belauscht. Wie nah beieinander die menschlichen Äußerungen von Schmerz und Lust doch manchmal lagen! Einen Moment lang dachte Ragnar darüber nach, ob Thorstein seine junge Frau auch zum Beischlaf zwingen musste. Doch nur kurze Zeit später schalt er sich selbst einen Narren. Die leisen Geräusche aus der dünnwandigen Hütte und die geflüsterten Worte Rúnas, die ihren Krieger immer drängender bat, sie zu nehmen, sprachen eine ganz andere Sprache. Das, was er gerade zu hören bekam, war mehr als nur einvernehmlich. Es war voller Sehnsucht und Hingabe.
Peinlich berührt wandte sich der Jarl ab und ging nun mit langen Schritten auf das Julfeuer zu. Wie bei allen Einherjern hatte er nur glauben können, dass Rúna sich ihm zuwenden würde? So, wie sie Thorstein anhimmelte, hatte er nie eine Chance gehabt, sie zu erobern. Warum war ihm das nicht schon viel früher bewusst geworden?
Doch eigentlich hatte er andere Probleme, als sich Gedanken um etwas zu machen,
das er ja doch nicht mehr bekommen würde. Eigentlich sollte er darüber nachdenken, wie sich der Schaden, den er angerichtet hatte, ein wenig begrenzen ließ.
Stumm setzte er sich neben Jorunn und die beiden schwiegen eine lange Zeit, bevor sie ein leises Gespräch begannen, in dessen Verlauf die Völva dem besorgten Jarl ein wenig Mut und Hoffnung vermitteln konnte. Allerdings hatte auch sie keine Erklärung, warum Lathgertha und Björn nicht erschienen waren. Hierüber konnte ihnen erst ein Bote Auskunft geben, den der Bruder der Vermissten ausgesendet hatte. Dieser erschien am folgenden Tag um die Mittagsstunde und unterbrach damit das Schweigen und Fasten, das die Völva auch Ragnar auferlegt hatte.
Später am Abend sinnierte der Jarl noch lange über einen Satz, den der Mann versehendlich fallenlassen hatte: "Ein Herrscher mit nur einem Sohn ist ein armer Mann, denn er weiß nie, ob sein Erbe nicht verloren gehen wird. Kinder sterben ja so schnell …"
Er wusste, hätte der Sprecher darüber nachgedacht, was diese Worte bei seinem Anführer bewirken würden, wäre er verschwiegener gewesen. So aber hatte er ausgesprochen, was er angesichts des überraschenden Fiebers des kleinen Björn dachte.
Fieber! Der Jarl strich sich hilflos über das Gesicht. Was konnte er schon tun, wenn ihn die Götter nun erneut prüften? Dass Jorunn durch das Julfest hier gebunden war und daher auch noch Rúna ausgeschickt hatte, um seinem Sohn zu helfen - ausgerechnet Rúna! Doch es war nicht zu ändern und auch er würde hier noch einen ganzen Tag lang ausharren müssen, bevor er aufbrechen konnte, um nach seinem Sohn zu sehen. Wenn er denn überhaupt in der Lage dazu war, nachdem er sich Thorstein gestellt hatte …
Für Ragnar war es überhaupt nicht absehbar, wie der Steuermann vorgehen würde. Zwei Schläge mit dem Schwert, dazu die Forderung, dass Blut für die Götter vergossen werden musste - das konnte alles sein oder auch nur wenig. Der Jarl hatte sich schon die unmöglichsten Szenen ausgemalt und war dabei kein bisschen weiter gekommen. Ja, er wusste nicht einmal, was er an Thorsteins Stelle tun würde.
Würde er Rache wollen? In dieser einen Frage war sich der Jarl sicher. Er, Ragnar Loðbrók, würde einen Mann, der sich an seiner Gertha vergangen hatte, nicht ungestraft davonkommen lassen.
Eine ganz andere Frage war das Maß dieser Rache. Und hier zögerte er. Wäre sein Feind ein Fremder - da war er sich sicher - gäbe es für diesen keine Gnade. Doch am kommenden Tag würde er einem alten Freund gegenüberstehen. Würde eine solche Freundschaft etwas für ihn ändern? Der Jarl war sich nicht ganz sicher. Wenn einer seiner Freunde … Doch das würden sie ja gar nicht tun! Nie und nimmer konnte er sich vorstellen, dass Thorstein oder Gylfe seine Gertha … Nur er selbst …
Es gab nur eines, was er tun konnte außer hilflos zu rätseln. Ragnar trat ein weiteres Mal hinaus in den einsamen nächtlichen Hain. Heute vernahm er keine geflüsterten Liebesbekundungen, heute traf er auch nicht auf Jorunn, die das Feuer bis zum nächsten Tag gelöscht hatte, heute Nacht war nur er wach, er und die Stimmen der Götter, die sich flüsternd um ihn herum verständigten. Und diese Götter waren es, zu denen er nun beten würde, eine ganze Nacht lang!
Der Jarl trat an den Steinaltar, der über der Heiligen Quelle erbaut worden war und ging vor den Ewigen auf die Knie. Lange Zeit überdachte er ein letztes Mal, wie es dazu gekommen war, dass er nun hier war. All seine Überlegungen und Erinnerungen ließen ihn nun auch seine Fehler klar erkennen. Wenn dies hier vorbei war, gab es vieles, was er klären musste. Irgendwie musste er Lathgertha überzeugen, dass sich seine Verfehlung nicht wiederholen würde. Und er sollte versuchen, die Freundschaft zu Thorstein zu retten, ganz egal, wie viel Ehre ihn dies kosten würde. Ja, er würde sich ernsthaft bei Rúna entschuldigen müssen, ihr vielleicht mit einer Gabe seinen Respekt erweisen …
Die Pläne machten den Jarl ruhiger und gefasster und als er sich nach einiger Zeit der Stille bereit fühlte, begann er seine Zwiesprache mit den Göttern.
Doch er war nicht der Einzige, der in dieser Nacht wach lag. Auch Thorstein dachte angestrengt über den kommenden Tag nach, obwohl er seinen Weg bereits klar vor sich liegen sah. Jorunns Wünsche und Rúnas Bitten an ihn waren deutlich gewesen. Beide Frauen hatten ihm nahe gelegt, nicht zu hart zu Ragnar zu sein. Dass ihre Gründe für diesen Wunsch unterschiedlicher Art waren, wusste Thorstein. Jorunn sah immer vor allem das Wohl der Siedlung im Vordergrund. Rúna hingegen ging es um die Familie des Jarl und vielleicht auch ein wenig um Ragnar selber. Obwohl der Steuermann es nicht ganz verstand, lag diese Nachsicht tief im Wesen seiner Gefährtin und es sah ihr ähnlich, selbst einem Schänder zu vergeben. Dass Ragnar diese Milde jedoch zu würdigen wusste, zweifelte Thorstein zunächst an.
Dann aber, als jener Bote Lathgerthas von Björns schwerer Erkrankung berichtet hatte, wurde ihm klar, wie viel Macht nun in seinen Händen lag. Allein von ihm hing es ab, ob Ragnar seinen vielleicht sterbenden Sohn noch einmal sehen konnte.
Mit diesem Wissen wurde seine Entscheidung dann plötzlich ganz einfach. Nun aber, als die Nacht sich um den Hain legte, überkam Thorstein der Wunsch, sein Handeln auch den Göttern anzuvertrauen. Leise erhob er sich und trat bald darauf dick in Decken gehüllt ins Freie. Mühsam tastete er sich durch die Dunkelheit, bis der Heilige Altar mit seiner Quelle vor ihm lag. Dann, schon war er nur noch wenige Schritte von seinem Ziel entfernt, erkannte er den tief ins Gebet versunkenen Mann, der bereits vor ihm hierher gefunden hatte - Ragnar.
Thorstein verharrte still und musterte die gebeugte Gestalt, die ihren Kopf auf den kalten Stein gebettet hatte. Es war eine Geste tiefer Verzweiflung, die der Krieger zu erkennen glaubte. Und mit einem Mal war es doch wieder ein Vertrauter, der dort kniete, nicht der zuverlässige, über jeden Zweifel erhabene Mann, der Ragnar vor jener Nacht mit Rúna für ihn gewesen war, aber dennoch ein früherer Freund, ein Krieger, den er besser kannte als viel andere in der Siedlung, sein Anführer, dem er trotz allem viel zu verdanken hatte. Leise trat er näher und als sich Ragnar dem Knistern seiner Schritte zuwandte, nickte er dem Mann zu und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Ein kurzer Druck seiner Hand auf Ragnars Unterarm ließ diesen wissen, dass Thorstein gewillt war, seinen Platz und das Gebet mit ihm zu teilen.