Nadeschda I – Feuer
Es war ein kalter und dunkler Morgen am Bahnhof. Sue lief, die Hände tief in den Taschen vergraben, über den Bahnsteig.
In der Kälte froren ihre Tränen auf den bleichen Wangen fest. Das junge Mädchen war dreizehn, mit großen, verzweifelten Augen.
So früh morgens waren die meisten Gäste des Bahnhofs verschlafen und viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um das Mädchen richtig wahrzunehmen.
Allerdings hätte es auch unter anderen Umständen Niemand geschafft, Sue aufzuhalten.
Mit schnellen, harten Schritten suchte sie sich einen Platz am Gleis, fern von den anderen Menschen. Ein paar fette Tauben sahen auf sie herab. Die Anzeigetafel verkündete die Ankunft des Zuges in sechs Minuten.
Sue wartete, schweigend, sie hielt still, als könnte eine plötzliche Bewegung ein Raubtier auf sie aufmerksam machen. Ihr Herz klopfte, doch sonst gab es kein Anzeichen dafür, dass sie noch lebte.
Innerhalb von nur sechs Monaten war ihr ganzes Leben zusammengestürzt. Die letzte Zeit war eine Achterbahnfahrt gewesen, auf und ab, auf und ab, mal schien es besser zu werden, und dann geschah etwas Furchtbares, das sie nur tiefer in ihr schwarzes Loch stieß.
Jeder Mensch, den sie kannte, hatte sie verraten. Ihre Schwester und ihre Mutter zu beschuldigen nährte nur Schuldgefühle, doch jeder andere Mensch hatte sie willentlich und manchmal auch gewaltsam verraten.
Frierend schlang sie die Arme um den Oberkörper. Ihr würde nicht mehr lange kalt sein.
Sie hatte nicht groß nachgedacht. Das tat sie selten in letzter Zeit. Vor einem halben Jahr war sie in ihrer alten Schule Klassenbeste gewesen, wenigstens in Mathe und in anderen Fächern, die ihr Spaß machten.
Das war genauso Vergangenheit wie ihr Lächeln, die Zeit, die sie mit Freunden verbracht hatte und all ihre Träume.
Die Stimmen ihrer Mitschüler, das leise Getuschel und Geflüster, verfolgte sie auch hierhin. Es trieb sie. Die Spottnamen, die dummen Sprüche, sogar die Lehrer betrachteten sie mit diesem seltsamen Blick, versprachen, sie mit Samthandschuhen anzufassen und verlangten doch die gleiche Leistung wie von ihren normalen Klassenkameraden.
Nein, Sue spürte deutlich, dass sie starb, und zwar seit jenem dritten März am Anfang des Jahres. Immer wieder starb ein Teil von ihr, mal ein größerer, mal ein kleinerer. Es war genau sechs Monate her, und sie hatte in dieser Zeit nicht gelacht.
Nicht ein einziges Mal gelächelt.
Das lag daran, dass vorher ihre Schwester sie zum Lachen gebracht hatte. Sie waren unzertrennlich gewesen, und das sollten sie immer noch sein. Dieses Loch war vielleicht das schmerzhafteste.
Sue fror noch immer. Sie sah auf die Uhr. Noch zwei Minuten.
Es wurde Zeit. Sie trat langsam nach vorne und hielt nach der Ampel Ausschau, deren Licht ihr verraten würde, wann der Zug einfahren durfte.
Die Erinnerung an den gestrigen Abend kam wieder in ihr hoch, und zwar wörtlich. Sie bekämpfte den Würgreiz mit aller Macht und schluckte den säuerlichen Geschmack herunter.
Schwerer Atem, Schweißgeruch, das klebrige Gefühl, das sich nicht abwaschen ließ – Sue verscheuchte die Gedanken schnell in den hintersten Winkel ihrer Bewusstseins. Sie verscheuchte sie mit der brennenden Wut, die sie empfand. Der Hass auf alle Welt vertrieb auch die Kälte und gab ihr die Entschlossenheit, die anderen Menschen an dieser Stelle fehlen würde.
Ihr Herz fühlte sich kalt und schwarz an. Schwer. Sie fühlte nichts, keine Angst, nicht einmal Erleichterung, als der Zug einfuhr.
Und gerade, als sie nach vorne trat, landete eine Hand auf ihrer Schulter.