Nadeschda III – Asche
Das Gespräch wurde lang. Sue wusste kaum, wie ihr geschah. Nadja entlockte ihr die ganze Geschichte, seit dem Autounfall, der ihre Mutter und ihre Schwester getötet hatte. Die ganzen Umzüge, wie ihr Vater sich erst zurückzog und dann gewalttätig wurde, wie er die falschen Freunde in ihr Haus ließ, Nacht um Nacht, von der Stiefmutter, die sie niemals akzeptieren könnte.
Nach einer halben Stunde weinte Sue hemmungslos, und Nadja saß auf einem Stuhl neben ihr und hielt sie fest. Die Gefühle, die plötzlich aus ihr herausbrachen, machten Sue Angst.
Der Spott ihrer neuen Mitschüler. Dass sie ihren geliebten Sportverein hatte verlassen müssen und dass ihr Meerschweinchen gestorben war. Alles erzählte sie der Frau. Irgendwann erzählte sie, dass sie Game of Thrones hatte sehen wollen, um sich abzulenken. Bis ihre Lieblingsfigur geköpft worden war. Dann, dass ihr altes Lieblingskuscheltier, dass sie seit Jahren nicht mehr beachtet hatte, bei einem der Umzüge verloren gegangen war. All diese Einzelheiten, die großen und kleinen Tode, die sie erlitten hatte. Sie zeigte Nadja sogar ihre vernarbten Unterarme und die blauen Flecken am Rücken.
Dann erzählte Sue stockend, wie sie heute Morgen aufgewacht war, fest entschlossen, zu sterben.
„Ich habe nicht die Kraft, um auch nur einen einzigen Tag zu überleben!“, vertraute sie der Fremden an und endete damit: „Ich … kann einfach nicht mehr.“
„Ich weiß“, sagte Nadja: „Du hast Dinge erlebt, die kein Mensch in deinem Alter erleben sollte.“
„Normalerweise müsste ich zu einem Psychiater, oder?“, fragte Sue traurig: „Aber ich möchte nicht in ein Heim gesteckt werden!“
Sie hatte Angst vor Gleichaltrigen. Die anderen waren so … naiv und dabei so grausam.
„Nein, zu einem Psychiater würde ich nicht gehen“, sagte Nadja überraschend: „Auch, wenn das vielleicht vernünftig wäre.“
„Echt?“, fragte Sue.
Nadja lächelte schief: „Ich habe Kopfdoktoren noch nie vertraut. Von denen kennt keiner das Geheimnis, wie man die Jugend überlebt!“
„Die Jugend überlebt?“, echote Sue.
Nadja nickte: „Die Jugend ist die schlimmste Phase im Leben der meisten Menschen. Alles steht Kopf, alle sind verrückt, und man selbst am meisten … und kein Mensch der Welt kann wirklich sagen, wie man all das übersteht. Die ständige Kritik, die Veränderungen.“
Sue nickte langsam: „Und du kannst mir helfen?“
Wieder nickte die Frau: „Natürlich. Ich habe selbst überlebt. Es ist nicht einmal schwierig. Du musst nur, so lange von allen Seiten mit Gift auf dich geschossen wird, den Kopf einziehen und du selbst bleiben.“
„Wie bleibe ich denn ich selbst, wenn ich nicht einmal weiß, wer ich bin?“, murrte Sue.
Das schallende Lachen der Frau überraschte sie. Mit einem Finger tippte ihr Nadja auf die Stirn: „Du weiß schon lange, wer du bist, Sue. Du verheimlichst es nur vor dir selbst. Stell dir selbst die Frage. Wer bist du?“
Sue zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht!“
„Bist du eines von diesen Mädchen, das nur Schminke und Jungen im Kopf hat?“, bohrte Nadja nach.
„Nein!“, beschwerte sich Sue.
„Bist du vielleicht eine Verliererin oder ein Schwächling? Ebenfalls nicht. Du bist Sue.“
Sue schwieg. Sie wusste, dass Nadja recht hatte.
„Du bist Sue, du bist intelligent und stark und talentiert. Und ich sage dir noch was: Du hast viel vor dir. Du schuldest deiner Schwester ein aufregendes Leben, das du führen wirst. Du hast eine Aufgabe, und du darfst nicht einmal daran denken, zu scheitern.“
„Was ist diese Aufgabe?“, fragte Sue.
„Das musst du selbst herausfinden.“
Und dann war Nadja verschwunden.