„Dein Vater und ich kennen uns seit unserer Kindheit“; erklärte seine Mutter ohne auf seine Vorwürfe einzugehen. Sie nahm den Bilderrahmen abermals zur Hand und strich liebevoll über das junge Gesicht des Mannes. Josh hätte sich bei dem Anblick am liebsten Übergeben. „Wir haben uns versprochen immer für einander da zu sein.“
„Das hat er ja super eingehalten“, fauchte Josh und verschränkte die Arme vor der Brust. Er verstand nicht weshalb seine Mutter gerade jetzt mit diesem Plunder zu ihm kam. Seine Tante und seine Mutter hatten ihm immer gereicht und auch wenn er sich als Kind einen Vater gewünscht hatte, hatte er später gelernt den Mistkerl für seine Feigheit zu hassen. Die selbe Feigheit, die er auch ihm vererbt hatte und wegen der er sich nicht selten auch selbst verabscheute.
Er wollte ihr das Bild aus der Hand nehmen und ihr erklären, dass er seinen Vater nicht vermisste, dass sie alles war was er brauchte und sie nicht an einem Kerl hängen dürfe, der sie verlassen hatte, aber seine Mutter entzog sich seinem Griff und sah ihn eindringlich an.
„Das Foto wurde aufgenommen, als die Kräfte deines Vaters erwachten.“ Sie sah ihn abwartend an, studierte seine Reaktion und nahm schließlich eine Hand. „Ich habe gehofft, du wärst von dieser Bürde verschont, aber ich schätze meine Gebete wurden nicht erhört.“
Josh wurde bleich und starrte seine Mutter fassungslos an. Seine Wut verpuffte und gähnende Leere breitete sich in seinem Herzen aus, er wusste nicht was er fühlen sollte und wiederholte schließlich die Worte seiner Mutter. „Seine Gabe?“, fragte er verblüfft. In seinem Kopf herrschte Chaos, in seinem Herzen Leere und sein Verstand wusste nicht, wie er diese neuen Informationen verarbeiten sollte. Konnte es wirklich sein, dass er nicht der einzige Besondere war?
Seine Mutter nickte und strich ihm liebevoll über die Wange. Ihre Sorge wuchs und sie biss sich auf die Lippe. Auch sie wusste nicht so recht, was sie zu sagen hatte. „Dein Vater … wusste Dinge. Ich habe nie verstanden wie genau seine Fähigkeit funktionierte, vielleicht las er Gedanken oder spürte einfach was richtig und falsch war, aber in dem Sommer als er es mir beichtete, entschied ich bei ihm zu bleiben.“
„Was ist passiert?“, erkundigte sich Josh tonlos und starrte abermals auf das Foto. Seine Mutter zuckte mit den Achseln und lächelte bei dem Anblick traurig.
„Wir waren sehr glücklich zusammen, haben geheiratet und als ich schwanger wurde, hätte unsere Freude nicht größer sein können. Du hättest ihn sehen sollen! Er hat sich sogleich mit Tommik im Keller verschanzt und versucht ein Kinderbett zu schreinern.“ Sie lachte bei der Erinnerung glücklich auf. „Am Ende landete es auf dem Sperrmüll, aber er hat mit allen Mitteln versucht der perfekte Vater zu sein.
Er hat dir jeden Abend vorgelesen, dich ins Bett gebracht und mit dir gespielt.“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und sie senkte stirnrunzelnd den Blick. „Aber an einem Abend kam er nach Hause, klitschnass und mit einem wilden Ausdruck in den Augen. Er lief die ganze Nacht panisch durch unser Haus und so oft ich auch versuchte ihn zu beruhigen und eine Erklärung zu verlangte, so oft wollte er nicht antworten. Er sagte, dass er uns mehr alles andere liebe und als ich am nächsten Morgen aufwachte packte er seine Sachen.
Ich war verständlicherweise verwirrt und fragte was los sei und er sagte das gleiche wie schon unzählige Male zuvor: Ich kann es nicht erklären.
Ich vermute nicht einmal er wusste wie seine Gabe funktionierte, aber er schwor mir, dass sein Verschwinden der einzige Ausweg war. Er sagte, er müsse uns beschützen. Am gleichen Tag verließ er uns.“ Rebecca sah trübsinnig auf das Foto und eine Träne bahnte sich ihren Weg übe ihre Wange. Sie wischte sie schnell weg, aber ihre Aua leuchtete nunmehr in tiefen Blautönen.
Josh starrte se mit offenem Mund an, langsam zog er sie in eine feste Umarmung, die sie dankbar erwiderte.
„Dein Vater hat dich geliebt und ich weiß nicht, weshalb er uns verließ, aber es war zu unserem Besten“, versicherte sie ihm und nuschelte die Worte in seine Schulter. Sie drückte ihn ein wenig von sich weg und sah ihm fest in die Augen, in denen nun ebenfalls Tränen glitzerten. „Seine Gabe war eine Bürde und er sagte mehr als einmal, er wünsche sich normal zu sein, aber genauso oft versicherte er mir, alles ins Lot zu rücken. Irgendjemand half ihm dabei, aber dieser Teil seines Lebens war immer ein großes Geheimnis.
Als er uns verließ erklärte er, dass du womöglich die gleiche Bürde trägst und er, wenn es an der Zeit ist, für dich da wäre. Ich fürchte diese Zeit ist gekommen.“
Josh schüttelte geistesabwesend den Kopf. Sich Valentin als liebenden Vater vorzustellen war bereits schwer, aber ihn als einen Besonderen zu bezeichnen war unmöglich. Die Geschichte ergab Sinn, sicher, aber irgendetwas in ihm wollte sie nicht glauben. Er wollte nicht das Monster verlieren, welchem er alle Schuld geben, welches er verfluchen und hassen konnte.
„Ich habe schon seit ein paar Wochen die Vermutung, dass du mir etwas verheimlichst. Natürlich habe ich gehofft es wäre eine Freundin oder meinetwegen auch etwas Illegales, aber diese Last habe ich dir nie gewünscht.
Es ist Zeit deinen Vater zu rufen“, seufzte seine Mutter und fischte ihr Handy aus der Tasche.