TOM
Das rhythmische Rattern des Zuges hatte eine beruhigende Wirkung auf mein aufgewühltes Inneres. Ich lehnte mein erhitztes Gesicht an die Glasscheibe und schloss für einen Augenblick meine Augen. Ich hatte Max geküsst und es war...unbeschreiblich. Noch immer waren meine Lippen leicht geschwollen und mein Herz schlug schnell. Wie konnte ein Mensch nur gleichzeitig glücklich, verstört und traurig sein, denn all das fühlte ich in diesem Moment. Mein Handy vibrierte und ich kramte es aus der Tasche. Eine Nachricht von Annabell. Sie war also zu Hause. Mir wurde flau und leichte Panik stieg in mir auf. In etwa eineinhalb Stunden würde ich bei ihr sein.
Nachdem ich die Feier verlassen hatte, war ich sofort nach Hause gefahren, um mein Fahrrad zu holen. Ich hatte nur kurz meiner Mutter eine Nachricht geschrieben, dass ich zu Annabell fuhr und jetzt saß ich schon im Zug. Nervös kaute ich auf meiner Lippe herum. Wie sollte ich ihr das alles nur beibringen? Ich hatte sie betrogen, mit einem Kerl - den ich liebte. Verdammt. Im Kopf spielte ich hunderte Gespräche durch, doch jedes Mal fühlte ich mich schlechter. Natürlich würde ich mit ihr Schluss machen. Sie hatte so etwas einfach nicht verdient. Warum musste ich mich auch in Max verlieben? Ich seufzte auf. Was er wohl gerade machte? Wahrscheinlich küsste er immer noch Marie. Wut, Enttäuschung und Verzweiflung gärte in mir auf. Warum hatte ich das überhaupt vorgeschlagen? Wie bescheuert konnte ich eigentlich sein? Zwar war Max wahrscheinlich überglücklich und das wollte ich ja - sein Glück - doch ich wäre am liebsten schreiend durch die Kante gerannt. Tränen stiegen mir in die Augen und ich wischte sie genervt weg. Ich würde jetzt hier nicht anfangen zu heulen.
Der Weg zu Annabell zog sich zäh dahin. Das lag wahrscheinlich an mir, denn eigentlich wollte ich dieses Gespräch nicht führen. Ich fühlte mich noch gar nicht bereit, doch ich wusste, dass es wichtig war. Mein Herz drohte mir aus dem Hals zu springen, als ich vor ihrer Tür stand. Los, klopf schon. Mach! Es wird nicht besser werden, wenn du wartest. Noch einmal holte ich tief Luft und klingelte.
Die Tür wurde geöffnet und schon kam mir Annabell entgegen geflogen. „Oh mein Gott, Schatz! Wieso bist du hier? Ich freu mich so." Sie gab mir einen schnellen Kuss und zog mich hinterher. „Hast du den letzten Zug genommen?" Ich nickte. „Oh wie schön. Deine Sehnsucht musste ja groß sein." Mein Herz rutschte mir in die Hose. Hilfe! Wie sollte ich das nur schaffen?
Annabell freute sich so sehr, dass ich kurz vorm Schwanz einziehen war. Vielleicht sollte ich es lieber auf sich beruhen lassen? Ich meine...Maximilian würde nie mit mir zusammen kommen. Warum dann nicht einfach alles weiter wie bisher laufen lassen? Ich betrachtete ihren wohlgeformten Körper. Jede Stelle kannte ich in und auswendig. Sie war besonders empfindlich an ihrem Bauchnabel und drehte fast durch, wenn ich diesen berührte. Das Lächeln stahl sich automatisch auf mein Gesicht, als ich mir unsere ganzen schönen Momente in Erinnerung rief. Max war jetzt mit Marie zusammen, dann konnte ich doch mit meiner Freundin liiert bleiben. Guter Plan...nicht.
Bei dem Gedanken, wie Max das tat, was ich mit Annabell gemacht hatte, wurde mir regelrecht schlecht. Warum konnte er nicht das Gleiche fühlen, was ich für ihn empfand? Warum musste ich diese Gefühle für ihn entwickeln? „Was ist los? Du schaust aus wie ein Trauerkloß." Sie riss mich aus meinen Gedanken und dann kam der Satz, den ich eigentlich nie sagen wollte: „Wir müssen reden." Annabell sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Dann lief sie in ihr Zimmer und ich folgte ihr.
Sie saß auf dem Bett und spielte mit ihren Händen. Als ich neben ihr Platz nahm, zuckte sie kurz zusammen. Eine lange Zeit sagte keiner von uns etwas.
„Hast du mich betrogen?" Mein Herz zog sich zusammen und ich blickte zu Boden. Ich sah im Augenwinkel, wie sich Annabell zu mir umdrehte und mich fragend ansah. „Ja. Ich habe dich betrogen." Annabell sog scharf die Luft ein. „Das hätte ich nie von dir erwartet!" Sie klang so verletzt, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Ich hatte sie enttäuscht und auch mich. „Es tut mir leid." Sie stand auf und blickte mich von oben herab an. „Es tut dir leid? ES TUT DIR LEID? DU ARSCHLOCH!" Dann beschimpfte sie mich und beschimpfte mich und beschimpfte mich, bis sie schließlich weinend auf den Boden sackte. Sie zitterte wie Espenlaub und schluchzte herzerweichend. Ich fühlte mich schlecht und konnte mir gar nicht vorstellen, wie sie sich gerade fühlen musste. Langsam ging ich auf sie zu und kniete mich zu ihr. „Annabell..." Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Vorsichtig berührte ich ihre Schulter, doch sie schob meine Hand weg. Ihre Nase tropfte und Annabell wischte sie sich an ihrem Ärmel ab. „Es tut mir leid. Ich...es war nicht so geplant." Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Annabell zog ihre Nase hoch. „Wie heißt sie? Ist es die Rothaarige oder die Blonde mit dem Piercing?" Mein Herzschlag beschleunigte sich und mir wurde übel. „Max." Ich beobachtete ihre Reaktion. Zuerst schluchzte Annabell noch einmal. Dann blickte sie auf und sah mich an. Ihre Stirn lag in Falten und ich sah regelrecht, wie es in ihrem Kopf ratterte. „Wie Max? Du hast mich mit Max betrogen?" Ich nickte und wartete ihr Verhalten ab. Wieder ratterte es und ihre Augenbrauen bildeten fast eine Linie. Dann zwinkerte sie mehrmals und schüttelte kurz den Kopf, als ob sie ihren eigenen Gedanken nicht glauben würde. „Du bist schwul?" Ihre Stimme klang skeptisch und ihre Tränen waren verschwunden. „Bi." Noch immer konnte sie ihren Blick nicht von mir lassen. „Seit wann?" Ich zuckte mit der Schulter. „Seit Max? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich schon eher. Aber durch Max ist es mir bewusst geworden." Annabell kaute auf ihrer Unterlippe und grübelte. „Deswegen hatten wir solange keinen Sex mehr? Weil du mit Max geschlafen hast?" Vehement schüttelte ich den Kopf. „Nein. Wir haben uns nur geküsst. Einmal." Ihre Kinnlade fiel nach unten und...sie lachte? Annabell lachte immer mehr, bis es schon fast hysterisch klang. Was war denn daran so lustig? Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. „Hab ich das richtig verstanden? Du hast mich betrogen...mit Max...mit einem Kuss...einmal?" Wieder nickte ich.
„Es tut mir leid. Ich bin deswegen gleich zu dir gefahren, um das zu klären. Ich hätte eher unsere Beziehung beenden sollen, bevor es dazu gekommen ist."
„Du hast ihn heute geküsst?"
„Ja."
„Und dann bist du gleich hier her gekommen?"
„Ja."
„Und...jetzt willst du mit mir Schluss machen? Warum?" Sie schaute mich verwirrt an.
„Ich habe dich betrogen."
„Ja. Aber mit einem Kerl. Und nur ein Kuss. Das zählt nicht."
„Was?" Fassungslos blickte ich zu ihr.
„Das zählt nicht. Oder seid ihr dann ein Paar, wenn du dich trennen würdest?" Seufzend schüttelte ich den Kopf.
„Na siehst du. Ist doch nicht schlimm, dass du einen Kerl geküsst hast. Ich hab auch schon ein Mädchen geküsst...oder 2. Klar ist es blöd, dass du das in unserer Beziehung machen musstest, aber jeder hat das Recht so etwas mal zu probieren." Ich dachte über ihre Worte nach. Wie hätte ich reagiert, wenn sie mir gesagt hätte, dass sie eine Frau geküsst hätte? Mhm...Ich hätte es ihr wohl auch verziehen. Verdammt. Jetzt war ich verwirrt. Ich setzte mich auf das Bett und schloss kurz die Augen. Das lief irgendwie anders als gedacht. Annabells Stimme holte mich zurück. „Tom. Alles wird gut. Wir bekommen das schon hin." Doch ich schüttelte den Kopf. „Nein Annabell. Wir bekommen das nicht hin." Sie stand nun vor mir und ich musste nach oben sehen, um ihr in die Augen blicken zu können. „Wieso sollten wir das nicht hinbekommen?"
„Weil ich Max liebe."
Annabell ging mehrere Schritte nach hinten. Ich folgte ihr mit meinem Blick und sah, wie ihr eine Träne die Wange hinab lief. „Du liebst ihn? Wegen einem Kuss?"
„Nein. Ich empfinde schon länger etwas für ihn. Aber der Kuss war dieser berühmte Tropfen... Ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn ich so viel für ihn empfinde." Ihr Kinn bebte und ihre Augen glitzerten. Sie war traurig und verletzt. Ich wusste auch warum. Noch nie hatte ich zu ihr gesagt „Ich liebe dich" und es musste ihr sehr weh tun, dass ich es jetzt sagte - und immer noch nicht zu ihr. „Du liebst ihn..." Sie sprach eher zu sich selbst als zu mir. „Es tut mir leid." Was sollte ich sonst sagen? „Du kannst ja nichts dafür. Ich war halt nicht genug."
„Annabell. Du bedeutest mir auch sehr viel. Aber..."
„Du liebst mich nicht. Ich weiß. Ich habe es schon länger geahnt." Ich wollte zu ihr gehen, doch sie hob die Hand. „Liebt Max dich?"
„Nein. Er ist jetzt mit Marie zusammen."
„Und trotzdem machst du Schluss mit mir?"
„Es wäre sonst nicht fair dir gegenüber."
Annabell ging zu ihren Blumen und fing Stück für Stück damit an kleine Blütenblätter zu zupfen. „Man...das ist doch scheiße...Ich kann nicht mal richtig eifersüchtig sein. Wie soll ich gegen einen Kerl konkurrieren?" Als ich etwas sagen wollte hob sie erneut die Hand. „Du solltest gehen. Bitte. Geh einfach." Sie schaute aus dem Fenster, während ich meine Sachen klaubte und ging.
Ich lief durch die Stadt. Mein Herz war schwer und ich fühlte mich einsamer als je zuvor. Es war spät und dunkel. Es fuhr kein Zug mehr nach Hause und ich brauchte einen Schlafplatz. Die Menschen, die um mich herum waren, nervten mich. Pärchen, die händchenhaltend durch die Straßen liefen, brauchte ich nun wirklich nicht. Warum war das eigentlich so? Immer sah man das, was man nicht sehen wollte.
Nach einer halben Stunde stand ich vor einer Tür und klingelte. Der Summer ging an und ich stieg die Treppen hoch. Oben angekommen wollte ich gerade klingeln, als sich die Tür öffnete. Andi stand mit Jogginghose vor mir. Er trug kein Shirt und seine Haare waren verwuschelt. „Kann ich heute bei dir pennen?" Sofort öffnete er seine Tür etwas mehr und ich konnte eintreten. Er klopfte mir auf die Schulter. „Alter, ich hatte dich eigentlich schon eher erwartet..."
Wir setzten uns auf die Couch und ich sah mich um. „Wo sind denn die Anderen?" Andi lebte in einer WG. Meistens waren seine WG-Bewohnerinnen übers Wochenende ausgeflogen, so wie damals, wo ich mit Max hier war. Mein Herz fing an zu schmerzen, als ich mich an diesen Tag erinnerte. „Es sind Semesterferien. Kiki und Tina sind zu Hause bei ihren Eltern. Es ist nur..." Plötzlich hörten wir, wie sich eine Tür öffnete. Warum zappelte denn jetzt Andi so rum? Ein paar Sekunden später erschien ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren und strahlend grünen Augen. Sie schienen mich regelrecht zu durchbohren. Oha. Wenn Blicke töten könnten, würde hier gleich meine Leiche liegen. Andi bemerkte den Blick, den er mir zuwarf und sah ihn mit hoch gezogenen Augenbrauen an. Sofort drehte er sich um und stolzierte davon. Irritiert sah ich Andi an. „Seit wann bringst du deine Liebhaber mit in die Wohnung? Das sind ja mal ganz neue Sitten." Andis Gesicht wurde blass und er sah hinter sich. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Es war ja nicht böse gemeint, aber normalerweise brachte Andi nie einen Lover mit nach Hause und den Blick beurteilend, den er den Kerl zugeworfen hatte, sah es ganz danach aus, dass etwas zwischen den Beiden gelaufen war. Ich folgte Andis Blick und war irritiert, als der junge Mann plötzlich wieder angestürmt kam und mit hoch rotem Kopf maulte: „ICH BIN NICHT SEIN LIEBHABER UND ER IST NICHT MEIN LIEBHABER! DAS WIRD NIEMALS PASSIEREN. VERSTANDEN?" Wow. Was war denn das bitte schön? Andi verbarg sein Gesicht in den Händen und wirkte verzweifelt. Immer wieder wechselte mein Blick von Andi zu dem Anderen. Ich wurde aus der ganzen Situation nicht schlau. Warum reagierte er so heftig? Naja. Wenigstens lenkte mich dieses Drama von meinem eigenen ab. Der Kerl kam auf uns zu gestampft und stellte sich, mit den Händen an den Hüften, vor uns auf. „Hast du dem Kerl da erzählt, dass wir was miteinander haben oder wieso kommt er auf diese Idee?" Ich zog die Augenbrauen hoch. Seit wann ließ Andi so mit sich reden? „Jetzt halt mal den Ball flach und stell die Diva ab!" Nun war ich selber angepisst. Was bildete der Typ sich eigentlich ein? „Ich bin nur darauf gekommen, weil du mich mit deinem Blick halb getötet hast, als du mich gesehen hast. Daher dachte ich, dass du eifersüchtig bist und das sind meistens ja nur Kerle, die was von Andi wollen." Andi sah mit großen Augen auf und der bis dato zeternde Kerl war ruhig und lief rot an. Aha. Erwischt. Ich grinste und Andis Augen fingen an zu strahlen. „Hat er recht Jojo? Bist du eifersüchtig?" Doch anstatt eine Antwort zu geben, stolzierte er davon und kurz danach hörten wir eine Tür knallen. Dann sah ich zu Andi. „Bitte klär mich auf."
Andi erzählte mir, dass Julian alias Jojo sein neuer WG-Bewohner war. Theresa war ausgezogen. Und warum auch immer, Jojo schien ihn zu hassen. „Ich will doch nur mit ihm befreundet sein. Egal was ich mache, es scheint falsch zu sein." Er raufte sich die Haare.
„Seit wann interessiert es dich denn, was andere von dir halten?"
„Macht es ja gar nicht. Er ist mein WG-Bewohner. Da sollten wir uns doch verstehen."
„Und warum ist er dann eifersüchtig?" Da war es wieder. Andis Augen strahlten. „Alter. Bist du verliebt in Julian oder warum strahlen deine Augen bei der Vorstellung, dass er mich umbringen will?"
„Nein. Nein. Natürlich nicht. Ich...nein. Ich mag ihn. Ja. Aber ich verliebe mich nicht. Niemals. Nein. Keine Chance. Ich war noch nie verliebt und ich fange jetzt nicht damit an. Er ist gar nicht mein Typ. Du hast doch gesehen wie er ist. Nein. Und außerdem würde es nur auf Einseitigkeit beruhen. Er will nichts von mir. Das hat er ja gerade ziemlich verdeutlicht." Dann seufzte er auf. Himmel. Ihn schien es ja ganz schön erwischt zu haben. Ich musste grinsen. Andi Engel war verliebt. Ha! Es gab noch Zeichen und Wunder. „Ich brauch was zu trinken. Du auch?" Klaro.
Anscheinend wollte Andi nicht mehr über Jojo reden, denn er wechselte das Thema. Nun war ich an der Reihe. „So. Du hast dich von Annabell getrennt?" Ich nickte.
„Wie hat sie reagiert?"
„Besser als ich gedacht habe. Sie wollte sogar die Beziehung weiter führen." Erstaunt sah mich Andi an. „Wie soll das denn gehen? Eine Dreiecksbeziehung oder was? In der Woche schläfst du in seinem und am Wochenende in ihrem Bett?" Traurig schüttelte ich den Kopf. „Ich bin nicht mit Max zusammen. Er hat eine Freundin." Andi verschluckte sich an seinem Drink. „Er hat eine Freundin? Weiblich? So mit Brüsten und allem drum und dran? Never ever. Max ist schwul. Da würde ich meine Kronjuwelen drauf verwetten."
„Man. Du und dein dämliches Schwulenradar. Wie oft du schon behauptet hast, dass jemand schwul ist..."
„So wie bei dir?" Er grinste. „Okay. Schwul war nicht 100%ig richtig, aber falsch war ich auch nicht." Touche'. „Aber...Hä?...Wenn er mit dieser Marie zusammen ist, warum hast du dich dann von Annabell getrennt?"
Ich erzählte Andi von dem Kuss. Dieser wundervolle kurze Augenblick des unendlichen Glücks. Es war einfach perfekt. Noch nie hatte ich mich einen Menschen so verbunden gefühlt. Als die Flasche auf mich stehen blieb und Marie sagte, dass ich Max küssen sollte... es war Fluch und Segen zugleich. Ein Kuss. Der Erste und Letzte. Mit einer Sehnsucht, die mich innerlich zerstörte, erinnerte ich mich an diesen Moment, der mir für immer ins Gehirn und Herz gebrannt war. Seine Lippen, seine Zunge, seine Hingabe und seine Hände an meinem Rücken. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wollte dieses Gefühl wieder erleben, ihn spüren und für mich haben. Doch das alles war Utopie. Niemals würde ich mit ihm zusammen kommen - ihm niemals wieder so nah sein. Ein flüchtiger Moment. Doch diesen konnte mir keiner nehmen.
Andi sah mich mitfühlend an und nahm meine Hand. Er lächelte mich schief an und das Einzige, was er entgegnete war: „Never say never. Sag niemals nie."
Es war ein Fehler. Ich hätte niemals so viel trinken sollen. Irgendwann nach dem 4. Drink heulten wir beide und bemitleideten uns gegenseitig. Wir grölten alle möglichen Schnulzenlieder über Herzschmerz und Sehnsucht. Jetzt verstanden wir es. Und es tat weh. Scheiß Liebe. Wer brauchte sowas? Es war doch alles nur ein Konstrukt meiner Hormone. Nicht mehr. Blödes Hormonsystem.
„Könnt ihr bitte leiser Jammern? Da kann ja kein Schwein schlafen." Jojo stand mit verstrubbelten Haaren vor uns. Ich stand auf, ging zu ihm und legte meinen Arm auf seine Schulter. Skeptisch sah er mich an. „Weißt du. Andi ist ein guter Kerl. Ich kenne ihn jetzt fast 10 Jahre und er ist einer meiner besten Freunde. Ist er arrogant? Ja. Sollte er mehr mit dem Kopf denken? Sicherlich." Andi sah mich mit einem Was soll das bitte schön werden-Blick an. Doch ich ignorierte das geflissentlich. „Aber er hat viel Herz, auch wenn er es nicht zugeben will. Du sollst ihn ja nicht gleich heiraten, aber wenigstens eine Chance geben. Diese Freundschaft willst du nicht verpassen. So. Und jetzt geh ich pennen. Nacht." Ich bemerkte noch, wie Julian Andi mit einem undurchdringlichen Blick ansah. Mehr konnte ich nicht machen. Jetzt war Andi am Zug. Gähnend warf ich mich aufs Bett und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen wachte ich so auf, wie ich eingeschlafen war. Neben mir lag ein Zettel. „Sind alle in der Uni. Frühstück ist im Kühlschrank. Bedien dich. Ruf an, wenn du reden willst. Andi."
Zu Hause angekommen begrüßte mich meine Mutter. „Was ist denn mit dir passiert? Du siehst schrecklich aus!" Ich umarmte sie und sie streichelte mir beruhigend über meinen Rücken. „Ich hab mit Annabell Schluss gemacht." Und dann erzählte ich ihr den ganzen Mist, der mich seit Monaten beschäftigte. Wir saßen auf dem Sofa und sie hörte sich den ganzen Irrsinn an. Manchmal sagte sie Mmh oder Ja oder Aha, verkniff sich aber ansonsten jeden Kommentar. Danach umarmte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Es tut mir leid, dass du so unglücklich bist. Alles wird gut werden. Glaub deiner Mutti. Alles wird sich richten. Alles wird gut." Kein Vorwurf. Keine Kritik darüber, dass ihr Sohn einen Jungen liebte. Nur Traurigkeit darüber, dass ihr kleiner Sohn an Herzschmerz litt. Sie war in diesem Moment für mich die wundervollste Mutter der Welt!
Drei Stunden später musste sie wieder auf Arbeit. Ich war allein und fühlte mich einsam. Ich versuchte Klavier zu spielen, aber die melancholischen Stücke, die ich spielte, senkten meine Laune noch mehr. So legte ich mich ins Bett um mich in Selbstmitleid zu suhlen. Wie konnte ein Mensch nur so viel fühlen? Warum musste es so weh tun? Warum musste Liebe so sein? Als es plötzlich klingelte war ich tief in meiner Schwermut gefangen. Mit hängenden Schultern und schmerzendem Herzen öffnete ich die Tür. Für einen kurzen Augenblick war ich fassungslos. Dieses Gesicht! Dieses wundervolle Gesicht. „Max? Was machst du denn..." Und dann umarmte er mich. Tausende Schmetterlinge tanzten Samba in mir und mein Herz schlug schnell. Die Überraschung wich schnell einfacher Freude. Er war da. Egal was der Grund für seinen Besuch war - es war einfach nur schön ihn wieder zu spüren und ihm na zu sein.
Als Maximilian das Haus betrat und die Schuhe ausgezogen hatte, wirkte er wirklich erleichtert hier zu sein. Seine vorher angespannte Körperhaltung lockerte sich und er atmete tief durch, als sich hinter ihm die Tür schloss. Nachdem er seine Jacke auf den Kleiderhaken hing, drehte er sich zu mir um und lächelte mich an. Was verdammt noch mal?! Mitten auf seiner linken Wange erkannte ich einen perfekten Handabdruck. Arno! Dieser elende Drecksack! Deswegen war Max hier. Er war geflohen. Mein Herz wurde schwer und ich sauer. Am liebsten wäre ich zu diesem „Vater" hingefahren und hätte ihn verprügelt. Wie konnte er das seinem Sohn antun? Ich hatte es immer öfters bemerkt. Diese kleinen Hämatome, verteilt auf dem Rücken, Oberarm oder Oberschenkel. Alles Stellen, die man ansonsten übersehen würde. Auch Maximilian konnte diese Spuren gut überdecken. Wenn ich ihn nicht so eindringlich beobachtet hätte oder ihn in der Umkleidekabine intensiver gemustert als unbedingt nötig, wäre es auch mir nicht aufgefallen. Aber so wusste ich davon. Es war das Eine die Gewalt gegen ihn von Max zu hören und eine ganz andere Sache es zu sehen. Ich zerdrückte das eisige Kryopack, welches ich gerade aus dem Tiefkühler zog. Beruhig dich! So hilfst du ihm auch nicht. Sei froh, dass er jetzt bei dir ist. Hier ist er sicher. Du kannst nichts weiter tun, als für ihn da zu sein. Da musste ich mir selbst zustimmen.
Vorsichtig legte ich das kühlende Gelpäckchen, eingewickelt in ein Tuch, auf sein Gesicht. Er zuckte zusammen und wieder spürte ich diese tiefe Traurigkeit. Wie gern hätte ich ihn in diesem Moment in den Arm gezogen, ihn geküsst und alle negativen Gedanken dadurch vertrieben. Doch mir waren die Hände gebunden. Wie ich mich selbst fühlte war hier zweitranging. Wichtig war nur er und dass es ihm gut ging.
Über die Schlüsselaktion hatte ich mir schon länger Gedanken gemacht, eigentlich schon an dem Tag, wo er mir zum ersten Mal von den Prügelattacken seines Vaters erzählt hatte. Doch bisher hatte ich immer gezögert. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde, denn bei Maximilian neigte ich dazu, über das Ziel hinaus zu schießen. Doch diesmal schien ich genau richtig gehandelt zu haben. Seine Augen glitzerten, als wir unsere Umarmung lösten und er betrachtete lange meinen Schlüssel. Mein Gott. Er sah so wunderschön aus. In diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, außer sein Glück. Wie konnte ich nur so egoistisch sein und mich selbst bemitleiden, während er so viel Kummer erleiden musste?
Am nächsten Morgen erwachte ich, weil mir kalt wurde. Ich hatte wunderbar geschlafen. Ruhig und entspannt. Einmal wurde ich in der Nacht kurz wach und spürte Maximilian eng an mich gekuschelt. Seine Haare kitzelten mein Gesicht und ich konnte nicht widerstehen, ihm einen sanften Kuss auf seinen Kopf zu geben. Daraufhin seufzte er im Schlaf und ich musste lächeln. Warum konnte dieser Moment des Glücks nicht ewig bestehen bleiben? Manche würden mich bestimmt für solche Gedanken belächeln, doch dieser Augenblick, eigentlich jeder Augenblick, den ich mit Maximilian zusammen erleben durfte, bedeutete mir die Welt.
3 Wochen später
Eisiger Wind begrüßte mich am frühen Morgen. Der Winter nahte und die ersten Ausläufer bekam ich zu spüren. Ich zog meinen Reißverschluss etwas weiter nach oben und steckte meine Hände in die Taschen meiner Jacke. Mit schnellen Schritten ging ich zu Maximilian, wie jeden Tag, und holte ihn von zu Hause ab. Mit einem lauten Knall fiel seine Tür zu und er kam angerannt. „Guten Morgen." Ich lächelte ihn an. „Morgen." Sein Blick war auf seine Füße gerichtet und er mied meinen Blick. Was ging nur in ihm vor? Seit drei Wochen wurde es immer schlimmer. Max ging mir aus dem Weg und konnte mir kaum noch in die Augen sehen. Wenn ich ihn ansprach, erschreckte er sich oft, da er tief in Gedanken versunken war. Immer wieder fand er einen Grund unsere Nachhilfestunden sausen zu lassen. Beim Fußball suchte er sich einen anderen Trainingspartner und in Zweikämpfen behandelte er mich wie ein rohes Ei. Doch egal wie oft ich versuchte mit ihm darüber zu sprechen, er blockte ab. Sein Verhalten verletzte mich und immer wieder hinterfragte ich mich. Was hatte ich falsch gemacht? Hatte ich mich zu sehr aufgedrängt? Hatte er die Schnauze voll von mir?
In der Schule angekommen rannte Max gleich zu unserer Gruppe. Freundlich begrüßte er alle und ein tiefer Stich des Kummers durchzog mich. Bei anderen konnte er lachen, umarmte sie und strahlte. Wenn er mich ausversehen berührte, zuckte er regelrecht zusammen und wenn möglich entfernte er sich von mir - als ob ich die Pest hätte. Heute setzte er dem ganzen die Krone auf, als er sich einfach neben Andrea setzte. Jetzt war es aber mal gut. „Sag mal, was wird das denn jetzt?" Wütend starrte ich ihn an und wieder einmal zuckte er zusammen. „Ich weiß nicht, was du meinst."
„Willst du mich verarschen? Hast du ein Problem mit mir oder warum meidest du mich."
Er schluckte, sah mir kurz in die Augen, um dann sofort wieder den Blick abzuwenden. „Reg dich doch nicht so auf. Lukas ist krank und Andrea hat mich gefragt, ob ich neben ihr sitzen kann." Schlechteste Lüge aller Zeiten. Nicht nur, weil ich es ihm ansah, dass er die Unwahrheit sagte sondern erkannte es auch an Andrea, die ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah und wohl auch zum ersten Mal davon hörte. Warum tat das nur so weh? Warum erkannte er nicht, wie sehr er mich damit verletzte? Wenn er mich wenigstens anbrüllen würde, mir sagen würde, dass er mich hasst... Doch dieses Ignorieren zerfraß mich. Ich war gar nicht mehr ich selbst und verlor mich immer mehr. So sehr ich versuchte es nicht persönlich zu nehmen und Maximilians Verhalten zu ignorieren - es ging einfach nicht. Wie sollte man jemanden ignorieren, den man liebt?
Nach diesem Tag beschloss ich, ihm aus dem Weg zu gehen. Weder holte ich Max von zu Hause ab, noch stellte ich mich in der Gruppe neben ihn. Mein Herz zerbrach, doch er bemerkte es nicht. Ich müsste ihn doch nur vergessen, doch ich konnte es nicht.
Es überraschte mich, als plötzlich Annabells Bruder anrief. Von ihr hatte ich seit unserer Trennung nichts mehr gehört. Andi hielt mich ein bisschen auf dem Laufenden und erzählte mir auch, dass sie an der Trennung ziemlich zu knabbern hatte. Jedoch wusste niemand den Trennungsgrund. Privatsache meinte sie immer. Ich wusste, warum sie das tat. Sie wollte mich nicht verraten und wieder einmal bewunderte ich sie für ihre Art. Mochte sie auch manchmal oberflächlich wirken, doch sie war ein guter Mensch. Madleen und Ben hatten den Kontakt zu mir komplett abgebrochen. Nette Freunde.
„Hallo?"
„Hi Tom. Ich bin es. Hast du heute Zeit für ein kurzes Treffen?"
„Ähm klar."
„Ich komm zu dir. Dauert auch nicht lange." Dann hatte Annabells Bruder aufgelegt. Was war denn das bitte?
Gegen 16Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Meine Mutter öffnete und schickte ihn gleich hoch zu mir. Bevor er mein Zimmer betrat, klopfte er an und ich bat ihn herein. Christopher setzte sich auf das Sofa und ich stellte mich an die Wand gegenüber. Noch immer wusste ich nicht, warum er hier war. So vergingen bestimmt fünf Minuten, bis er anfing zu erzählen.
„Annabell geht es nicht gut. Sie verkraftet eure Trennung ziemlich schlecht." Ich atmete tief durch. Es war schwer dies zu hören, schließlich waren wir mehrere Jahre ein Paar gewesen und sie bedeutete mir immer noch sehr viel. „Das tut mir leid." Plötzlich sah er mich mit funkelnden Augen an. „Es tut dir leid? Wirklich? Du hast sie doch schon längst vergessen." Schnell schüttelte ich meinen Kopf. „Das stimmt nicht. Ich wünsche mir wirklich, dass sie glücklich ist. Sie ist ein wundervolles Mädchen und hat es nicht verdient unglücklich zu sein." Christopher stand auf und fing an durch den Raum zu tigern. Seine Stimme klang gepresst und ich wusste, dass er wütend war. „Da hast du verdammt noch mal recht! Annabell sollte glücklich sein und nicht wegen so einen Schwanzlutscher verzweifeln." Meine Muskeln spannten sich an und mehrmals musste ich tief durchatmen. „Wie bitte?"
„Du hast mich schon verstanden! Wie konntest du ihr das antun? Sie wegen eines Kerls verlassen. Hast du es so nötig?" Ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich wusste, dass er es nicht verstehen würde. Langsam kam er auf mich zu, während er seine Zähne aufeinander presste und es dadurch aussah, als ob sein Kiefer zuckte. „Schwuchtel." Während er das sagte, schubste er mich etwas nach hinten. „Christopher lass das."
„Wieso? Macht dich das an oder was?" Ich verdrehte die Augen und seufzte genervt. „Wo ist denn überhaupt dein Stecher? Liegt er im Bett und kann sich nicht mehr bewegen oder was? Maximilian? Richtig? Ist er auch so groß, wie es sein Name verspricht? Besorgt er es dir so richtig?" Die Hitze, die in mir aufstieg war so heftig, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. Ätzende Wut zerfraß mich regelrecht und meine Finger zuckten, bereit ihn zu schlagen. „Halt ihn da raus. Maximilian ist nicht mein Stecher. Verstanden?" Christopher lachte hämisch. „Ohhhh. Hat es zwischen euch nicht gefunkt? Hat er dich einmal gehabt und dich dann wie eine kalte Kartoffel fallen lassen? Bestimmt wühlt er sich gerade bei jemanden anderen durch die Kissen und..." Bevor er den Satz aussprechen konnte, hatte er meine Faust im Gesicht. Fassungslos hielt er sich seine Wange fest, bevor er sich mit einem Wutschrei auf mich stürzte. Es war das erste Mal, dass ich mich geprügelt hatte und wäre meine Mutter nicht ins Zimmer gestürzt gekommen mit der Drohung die Polizei zu rufen, läge ich wahrscheinlich im Krankenhaus. Mit dem Gezeter einer Furie schmiss sie Christopher aus dem Haus. Danach verarztete sie mein geschundenes Gesicht. „Nimm es dir nicht so zu Herzen." Verwundert sah ich sie an. „Als er dich angepöbelt hatte, lief ich gerade an deinem Zimmer vorbei, wollte mich aber nicht einmischen. Es tat mir weh zu hören, wie er dich beleidigte. Du weißt, dass ich es nicht in Ordnung finde, wenn man sich prügelt. Doch selbst mir haben die Finger gezuckt." Ich lächelte sie an, verzog aber schnell schmerzverzerrt mein Gesicht, während ich spürte, wie das Blut aus meiner Lippe quoll.
Die nächsten drei Tage durfte ich zu Hause bleiben, weil mir mein gesamter Körper weh tat. Christopher hatte keine Rücksicht genommen und war verdammt stark. Die Auswirkungen bekam ich jetzt zu spüren. Mein Körper war mit Hämatomen übersät, während die Haut um meinem Auge anfing sich von grün, gelb, rot bis violett zu verfärben. Großes Kino. Und warum? Weil ich einen Kerl verteidigt hatte, der mich wie Luft behandelte. Ich war so dämlich...