Es wurde Sommer, das roch Sakura jeden Morgen deutlicher. Sie merkte es auch daran, dass sie bis spät in den Abend auf der Weide bleiben durfte, und dass das Gras dort sehr viel saftiger wurde. Und nicht zuletzt merkte sie es daran, dass die Mücken und Bremsen zurückkehrten.
Eine Zeitlang kam Kyle alle zwei Tage und ritt Sakura gemeinsam mit Amelie. Wenn Kyle nicht kam, so kam Amelie und striegelte Sakura nur.
Dann kam Kyle täglich.
Die Stunden mit ihm waren schön, aber bald merkte Sakura auch, dass es immer anstrengender wurde. Kyle trieb sie und Amelie dazu, sich dem zurückliegenden Unfall zu stellen. Schritt für Schritt glich er die Situation im Stall an jenen Tag an, da Amelie gestürzt und Sakuras Leben aus den Fugen geraten war. Alleine wären Stute und Mädchen niemals so weit gegangen, hätten sich diesem Schrecken niemals stellen können. Doch Kyle war immer dabei, und dank ihm gelangten beide zu mehr Selbstvertrauen.
Eines Tages schließlich betrat Kyle den Stall und verkündete, er hätte eine Überraschung. Sakura spitzte die Ohren. Kyles letzte Überraschung hatte ihr das Leben gerettet – was mochte diese nun sein? Vielleicht endlich ein Apfel?
Doch es war etwas schweres, das nach Leder und Metall roch. Vor den erstaunten Augen von Amelie und Sakura platzierte Kyle die Überraschung auf der Tür zu Sakuras Stall.
Es war ein Sattel. Wenigstens glich die grundlegende Form einem Sattel. Doch daran befestigt waren unzählige Riemen, deren Funktion Sakura nicht ergründen konnte. Dazu kam, dass der hintere Teil des Sattels sehr viel höher war als sie das kannte. Neugierig schnupperte sie an dem Sattel. Woher kam der Geruch nach Metall? Nicht nur die Steigbügel waren daraus, es gab auch Stangen von Metall, die in dem Leder steckten, in dem erhöhten Sattelrücken und dort, wo die Beine des Reiters sein würden.
Auch ansonsten war der Sattel seltsam, wie Sakura feststellte, als Kyle ihn ihr auf dem Rücken schnallte. Hier und da reichte das Leder weiter als bei einem herkömmlichen Sattel, ruhte nah an ihren Schultern und hing zu beiden Seiten viel weiter über ihre Seiten.
Doch der fremde Sattel passte wie angegossen, sogar besser, als Sakuras alter Sattel gepasst hatte. Sie wartete geduldig, bis Kyle mit dem gurten fertig war.
Dann sollte Amelie wieder aufsteigen. Sakura war schon darauf vorbereitet, dass ihre Reiterin lange dafür brachen würde, doch nach einer kurzen Einweisung durch Kyle saß Amelie erstaunlich schnell im Sattel, noch dazu ohne seine Hilfe.
Kyle, statt ebenfalls aufzusitzen, band jetzt Amelies Beine an den Sattel. Sakura wartete, spielte mit den Ohren und sah ab und zu zurück, um zu sehen, wie Kyle hier und dort einen Riemen einstellte.
„Dauert das jetzt jedes Mal so lange?“, fragte Amelie.
„Nein“, antwortete Kyle. „Wir müssen zuerst deine Größe einstellen, danach wirst du nur noch die Schnallen schließen müssen. Ich habe dafür gesorgt, dass das möglichst schnell passieren kann.“
„Und du hast das alles ganz alleine gemacht?“, fragte Amelie.
„Ich hatte Hilfe von einem Profi“, grinste Kyle. „Aber den Entwurf hatte ich selbst gemacht.“
„Unglaublich.“
Dann saß Amelie im Sattel und Kyle trat zurück. Sakura trug, unter der Trense, noch ihr Stallhalfter, und jetzt verstand sie auch, wieso: Kyle führte sie am Strick und Amelie ritt alleine, zum ersten Mal seit dem Unfall.
Sakura ging langsam durch die Halle und spürte, was der Sattel veränderte: Amelie ritt wie früher, vor dem Unfall. Sie saß aufrecht im Sattel, gestützt wohl durch das verlängerte Rückenteil. Ihre Beine waren jetzt am Sattel befestigt und schlackerten nicht mehr. Sakura spürte, wie Amelie nervös die Riemen umklammerte, die vorne am Sattel waren, auf einem breiten, schweren Streifen von Leder.
Nach einer Weile sagte Kyle: „Nimm die Zügel auf.“
Amelie gehorchte, wenn auch zögerlich. Kyle ließ den Druck von Sakuras Strick und sie musste nun auf die Zeichen achten, die von Amelie kamen. Sakura gab sich alle Mühe, auf jeden noch so kleinen Wink zu reagieren, um ihrer Reiterin zu zeigen, dass sie für sie da war.
„Es klappt tatsächlich“, meinte Amelie nach einer Weile, die Sakura im Schritt gegangen war.
Kyle löste jetzt den Strick und trat zurück. Sakura fühlte sich beinahe, als hätte man sie fallengelassen, und Amelie musste es ähnlich gehen. Keine von beiden wollte, dass ihnen Kyles Führung genommen wurde.
„Reite alleine“, sagte Kyle jedoch.
Amelie lenkte Sakura im Kreis.
„Siehst du? Es klappt gut“, meinte Kyle.
„Aber mehr werde ich niemals schaffen“, sagte Amelie traurig.
„Was meinst du?“, fragte Kyle.
Amelie gestikulierte – Sakura spürte die Gewichtsverlagerung. „Ich werde nicht galoppieren können – ich kann sie ja nicht antreiben.“
„Du musst lernen, sie ohne deine Beine zu steuern. Komm, versuch es einmal. Bring Sakura in den Trab.“
Sakura stellte die Ohren auf.
„Ich kann nicht!“, rief Amelie verzweifelt. Dank den letzten Tagen wusste Sakura nun, dass Amelies Wut nicht auf ihr Pferd bezogen war und reagierte wenig auf die ansteigende Angst von Amelie.
„Du kannst. Du hast ein intelligentes Pferd. Versuch es, los“, beharrte Kyle. „Sag ihren Namen und was du von ihr willst. Gibt vielleicht ein Signal mit dem Zügel.“
Amelie schwieg. Sakura spürte, wie ihre Reiterin durchatmete, sich zusammenriss und sich straffte.
„Sakura – Trab!“, sagte sie dann und machte eine winzige Peitschenbewegung mit dem Zügel.
Sakura fiel vom Schritt in den Trab. Amelie lachte überrascht und ausgelassen. Kyle klatschte.
Während Sakura durch die Halle trabte, saß Amelie aus, statt leicht zu traben – doch auch daran hatte Sakura sich gewöhnt.
Kyle redete: „Im Westernreiten gibt es die Möglichkeit, ein Pferd völlig ohne Gebrauch der Zügel zu lenken: Nur mit den Beinen und dem Körper. Du musst das Gegenteil davon lernen. Dann kannst du wieder reiten. Natürlich kannst du nicht jedes Pferd reiten, aber Sakura lernt jetzt genau wie du diese neue Sprache, und das reicht aus.“
„Ja“, sagte Amelie so leise, dass Kyle es unmöglich hören konnte. Aber Sakura hörte es und ihr Trab wurde ein wenig dynamischer.
„Ja, das reicht aus!“, sagte Amelie und war davon überzeugt.