Das kleine Rauchfähnchen über der Schmiede stieg weiter empor und trieb dann mit dem morgendlichen Wind davon. Teitr nahm die Hand vom Blasebalg und wandte sich dann seinem jüngeren Freund zu.
„Die Holzkohle ist heiß genug, Thorstein“, ließ er ihn wissen. „Willst du es im Haus machen oder sollen wir Rúna dazu herausbringen?“
Der Angesprochene schluckte. Teitr würde es ihm heute nicht leicht machen, das sah er schon daran, dass der Ältere ihm keine Entscheidung abnahm und sogar das Offensichtliche nachfragte. Doch es blieb Thorstein auch nichts anderes übrig, als zu handeln. Das, was er getan hatte, zog nun seine unabwendbaren Folgen nach sich. Die Nornen hatten gewiss ihren Spaß an ihm!
Abwartend stand Teitr vor ihm, doch der Steuermann war so in Gedanken, dass er ihm zunächst eine Antwort schuldig blieb. Wenn doch Skuld nur ein wenig Nachsicht mit ihm hätte und Erbarmen für Rúna …
„Urð hétu eina, aðra Verðandi, skáro á skíði, Skuld ina þriðio“, murmelte Thorstein, ohne zu bemerken, dass er die Worte laut aussprach.
„Pær lǫg lǫgðu, þær líf kuru alda bǫrnum, ørlǫg seggia (1)“, fiel der alte Teitr ein. „Doch egal, welche der drei heute am Fuße Yggdrasils sitzt, sie werden Rúna nicht von alleine heilen können. Dafür musst du nun selbst etwas tun.“
Thorstein fluchte leise. Dass Teitr ihn aber auch so gut durchschaute. Ja, es graute ihm vor dem, was er nun tun musste und ja, er würde einiges dafür geben, die Zeit noch einmal um diese zwei Tage zurückdrehen zu können. Doch so gnädig waren die Nornen nicht und es half Rúna nicht, wenn er nun zaghaft war oder unentschlossen. Also blieb ihm nur, das Unvermeidliche so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Der Steuermann rief nach den beiden auf dem Hof verbliebenen Knechten und befahl ihnen, den großen Holztisch heraus zu tragen und abzuwaschen. Er selbst ging mit Teitr ins Haus, um nach Rúna zu sehen. Teitr hatte ihr vorhin noch einmal eine tüchtige Portion seines Weidensuds eingeflößt in der Hoffnung, ihr die kommende Tortur damit ein wenig erträglicher zu machen. Doch das heilende Gebräu half nicht nur gegen Schmerzen. Irgendetwas in der Rinde führte auch dazu, dass das Fieber sank und so kam es, dass die Sklavin nicht, wie erwartet, schlief, sondern den beiden Männern aus verquollenen Augen entgegensah. Mühsam versuchte sie sich auf dem Lager aufzurichten. Die Angst in ihrem Blick, als sie Thorstein erkannte, verriet mehr als alle Worte, dass sie sich an das Vorgefallene nur zu gut erinnerte.
Nur mit Mühe konnte sich der Steuermann einen neuerlichen Fluch verbeißen. Das, was Rúna nun brauchte, war nicht sein Zorn, seine Wut auf sich selber. Mit einem undeutlichen, beruhigenden Murmeln trat er näher und wies die zitternde Frau dann leise an, sich wieder hinzulegen. Dabei half er ihr, sich so zu betten, dass sie auf der Seite ruhte und nicht auf dem geschundenen Rücken. Mit einer knappen Handbewegung schickte er dann Teitr hinaus. Für das, was es nun zu sagen gab, brauchte er keine Zeugen.
Mit wenigen dürren Worten ließ er Rúna wissen, was ihr bevorstand. Wieso war es, verdammt noch einmal, so schwer, ihr beizubringen, dass sie erneut durch seine Hand Schmerzen würde ertragen müssen? Doch ihr Leid berührte ihn auf eine Weise, die er nie erwartet hätte. Thorstein konnte sehen, dass sie ahnte, was ihr bevorstand. Er spürte, wie das Zittern ihres Körpers zunahm und obwohl er glaubte, kein Recht dazu zu haben, zog er die schmale Frau tröstend an seine Brust. Fast hätte er die leisen Worte nicht verstanden, die sie, an ihn gepresst, in seine Skjorta murmelte.
„Tut das nicht, Herr!“, flüsterte Rúna leise, den Kopf noch immer gesenkt an Thorsteins Brustkorb gebettet. „Bitte! Lasst die Wunden einfach, wie sie sind. Lasst mich sterben!“
Sie war schon eine Zeitlang wach gewesen, bevor ihr Herr gekommen war und hatte gespürt, dass ihr Körper nicht mehr viel Kraft aufbrachte. Das Fieber hatte ihre Lippen trocken und rissig gemacht und als sie versucht hatte, aufzustehen, waren ihre Muskeln zu schwach gewesen, um auch nur zu sitzen. So krank, wie sie war, würde sie keine schwere Arbeit mehr verrichten können. Ihr Wert war binnen weniger Stunden zu einem Nichts zusammengesunken. Doch war sie das nicht schon immer gewesen – eine Sklavin, ein Nichts?
Rúna hatte das Gefühl, dass ihr nichts mehr blieb, woran sie sich in diesem Leben festhalten wollte. Die Illusion von Thorstein als rücksichtsvollem, vielleicht sogar ihr zugeneigtem Herrn war seit den Schlägen wie ein unsteter Frühnebel verblasst. Sie war allein, allein unter Feinden. Sie sah keinen Sinn mehr, keine Zukunft, hatte nur noch Angst vor der nächsten Strafe, der nächsten Gewalt. Da lag es wohl auf der Hand, wenn sie nun die Gelegenheit wahrnahm und darum bat, zu Hel gehen zu dürfen.
Thorstein aber erstarrte, als er ihre leise Bitte hörte. Und es war wohl das Schlimmste, dass er sie verstand. Krieger wie er durften selbst dann noch kämpfen, wenn keine Aussicht mehr auf einen Sieg bestand. Der Weg nach Walhalla war allen Helden gewiss und es war ehrenhaft, zu den Einherjern(2) zu gehen. Frauen wie Rúna aber waren dazu verdammt, nach dem verlorenen Kampf ihre Freiheit zu verlieren und den Siegern zu dienen, ihnen zu gehören mit Haut und Haar. Würde er, stünde er an ihrer Stelle, nicht auch den Tod vorziehen? Und doch …
„Du weißt, dass ich das nicht tun kann“, antwortete Thorstein ebenso leise, wie sie geflüstert hatte, dabei über ihr weiches, langes Haar streichend in dem Versuch, sie zu trösten.
„Ich kann dich nicht so einfach davongehen lassen, Rúna“, bekräftigte er dann erneut. „Nicht so und nicht, weil ich dich ohne Recht verletzt habe.“
Thorstein schluckte, als er spürte, wie sich ihre Hände in seine dünne Kleidung krallten. Rúna zitterte nun noch stärker und drückte sich schutzsuchend an ihn.
„Ich habe Angst, Thorstein! Hilf mir!“
Sie wusste, dass es vollkommen widersinnig war, gerade bei ihrem Herrn nach Schutz und Trost zu suchen, bei ihm, der ihr ja erst dieses Elend zugefügt hatte. Dennoch waren die Angst und die Ungewissheit so drohend, dass Rúna nicht mehr klar denken konnte und sich an alles klammerte, was in irgendeiner Form Hoffnung versprach. Und obwohl der Krieger alles andere war als ein weicher, zärtlicher Mann, schaffte er es irgendwie, seine Sklavin zu trösten und ihr ein wenig die irrsinnige Angst vor dem Kommenden zu nehmen.
Dabei war es egal, dass sie nichts anderes im Haus hatten, als ein wenig Branntwein, um ihr den schlimmsten Schmerz zu lindern. Es reichte Rúna, dass Thorstein sie in ihrem Leid nicht allein ließ. Und vielleicht glaubte sie ihm auch, dass er seine unbeherrschten Schläge wirklich bereute. Gehorsam schluckte sie den starken Alkohol, den er ihr einflößte und ließ sich dann ohne Gegenwehr hinaus ins Freie tragen.
Schon bald, nachdem Thorstein sie auf den Tisch gelegt hatte, zeigte der Weingeist seine Wirkung. Nur noch wie im Dämmer nahm Rúna wahr, dass starke, raue Hände ihren schmerzenden Rücken entblößten. Sie spürte, wie Thorstein ihre Haare zur Seite schob und später ihre Wunden auswusch. Das Auf und Ab des Blasebalgs in der Schmiede glich einer einschläfernden Melodie …
Dann griffen vier Hände nach ihren Armen und Beinen und Rúna war wehrlos zwischen Teitr und einem der Knechte gefangen, während Thorstein ihr ein glattes Stück Holz zwischen die Zähne schob. Wieder durchbrach die Angst die beruhigende Wirkung des Branntweins, doch da war es schon zu spät. Gnadenlos hielten Teitr und der Schnitter sie fest, während Thorstein mit fest zusammengebissenen Zähnen das Eisen auf die schlimmste der Wunden senkte. Zischend schnitt die Hitze in die eiternde Wunde. Der unermessliche Schmerz ließ Rúna sich aufbäumen, in hilfloser Gegenwehr gehen die unerbittlichen Griffe der Männer ankämpfen und ihre Qual herausschreien.
Während nun dem alten Teitr die Tränen in die Augen traten und Thorstein all seine Kraft zusammennehmen musste, um das Brandeisen nicht von sich zu schleudern, waren es wohl die Nornen, die Gnade walten ließen und Rúna in eine alles vergessende, wohltuende Ohnmacht schickten. Noch drei Mal fuhr das heiße Eisen in die Wunden der jungen Frau, dann war es geschafft. Thorstein warf es zurück auf den Schmiedeamboss und tauchte beide Hände in den Wassereimer, in dem sonst der Stahl abgekühlt wurde. Dann fuhr er sich mit den nassen Händen über das Gesicht. Man konnte ohne große Mühe erkennen, wie sehr ihn das gerade Erlebte mitgenommen hatte.
Stumm sah er zu, wie Teitr Rúnas Rücken erneut verband, dann trug er die junge Frau zurück auf sein Lager. Hoffentlich würde ihr Skuld noch ein wenig Ruhe gewähren, bevor sie erneut erwachte.
(1) Strophe aus der Völuspá, die von den Nornen, den Schicksalsfrauen, spricht. Die Namen der drei sind in dieser Dichtung Urd, Skuld und Verdandi. In der Snorra-Edda ist ihnen außerdem die Pflege des Weltenbaums Yggdrasil anvertraut.
„Urd heißt die eine,
die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe;
Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose,
das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen,
das Schicksal verkündend.“
(2) Einherjer (auch Einherjar, Einherier; altnord. „der allein Kämpfende“, „ehrenvoll Gefallener“) bezeichnet in der nordischen Mythologie (z. B. in der Edda) die gefallenen Krieger, die nach germanischem Glauben von den Walküren vom Schlachtfeld zum Heervater Odin nach Walhall geführt werden und dort in einem Kriegerparadies sorgenfrei leben (Quelle: wikipedia)
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Liebe Leserinnen,
ich weiß, dass das Ausbrennen der Wunden sich sehr brutal liest. Doch es war auch nicht anders! Zwar enthält Weidenrinde ein wenig Acetylsalicylsäure, die ihr bestimmt aus unserem heutigen Aspirin kennt, doch viel mehr als das und Schnaps gab es nicht. Vielleicht hätte die Völva noch ein wenig Bilsen verabreicht, doch auch das war sehr gefährlich.
Ich hoffe, ich habe euch nicht abgeschreckt. Im nächsten Kapitel geht es dann ruhiger zu - versprochen!
Eure Sophie, die auf eure Meinung zur Entwicklung der Geschichte schon sehr gespannt ist