Sie sitzt auf ihrem Balkon und blickt auf die vorbeifahrenden Autos, in denen sich Menschen befinden, die gestresst, entspannt, oder genervt auf dem Weg zu einem Ziel sind, das sie, dort oben auf dem Balkon, niemals erfahren wird.
Er geht über eine relativ dicht mit Menschen gefüllte Straße. Der Abend ist früh, aber es ist Winter, weshalb der Himmel dunkel über der Stadt liegt. Er trägt Kopfhörer und hört irgendeinen Song, von dem sie, dort oben auf dem Balkon, noch nie gehört hat. Er passiert Massen an anderen Fußgängern. Gestresst. Lachend. Genervt. Schnell. Langsam. Allein. Zu zweit. In Gruppen. Sie alle haben ein Ziel. Fast alle haben ein zu Hause. Sie alle haben eine Geschichte. Er hört weiter seinen Song und achtet nicht auf die Menschen um ihn herum. Im Laufen stößt er mit einem älteren Mann zusammen. Dieser lässt den in Eile zusammengestellten Blumenstrauß, den er in seinen zittrigen Händen hält, fallen. Die Kopfhörer laufen weiter. Keine Entschuldigung. Kein Innehalten. Der alte Mann bückt sich, um die überall auf der Straße verteilten Blumen aufzuheben. „Was will der denn? Der soll mal nicht den Weg versperren. Die Blumen kann er so oder so vergessen.“ Stimmen, die er ausblendet. Menschen, die an ihm vorbeieilen. Menschen, die ihre eigenen Geschichten mit sich tragen. Ihre eigenen Ziele haben. Sein Ziel ist das örtliche Krankenhaus. Sie sind jetzt seit 53 Jahren verheiratet und da erleidet sie einen Herzinfarkt und er muss um sie bangen.
Sie, dort oben auf dem Balkon, erblickt einen alten Mann, der über einem zerfallenen Strauß lilaner Blumen hockt. Wie hässlich die doch sind. Für wen auch immer diese Blumen bestimmt sind, diese Person tut ihr leid. Sie greift nach der Packung Zigaretten neben sich auf der kleinen Bank und zieht eine heraus. Als sie die Kippe angesteckt hat und ihren Blick wieder auf die Straße richtet, ist der Mann verschwunden.
Ihm stehen die Tränen in den Augen. Sie beide hatten schon immer die Tradition, einen Wettbewerb daraus zu machen, wer die hässlichsten Blumen finden und dem anderen schenken konnte. Denn schöne Blumen verschenken kann schließlich jeder. Jetzt liegen diese auf ihre eigene Art vor lauter Hässlichkeit schönen Blumen im Schneematsch auf der Straße und ihn verlässt der letzte Funken Hoffnung. Der Arzt sagt, es wäre ein Wunder, wenn sie das neue Jahr erblicken würde. Heute ist der zehnte Dezember und ihr Hochzeitstag. Frustriert und verzweifelt erhebt er sich mit von all den Jahren schmerzenden Knien und Hüften und setzt seinen Weg über die für seinen Geschmack viel zu volle Straße fort.
Die beiden Kinder kennen seine Geschichte so wenig, wie der Mann mit den Kopfhörern, oder das Mädchen dort oben auf dem Balkon. Sie sehen einfach nur ein paar hässliche, vom Schneematsch durchweichte Blumen und fangen an, darauf herumzutrampeln. Ihr Lachen schallt durch die ganze Straße, bis sie den Spaß daran verlieren und zurück zu ihren Eltern laufen, die vor einem Schmuckgeschäft stehen und die Verlobungsringe im Schaufenster begutachten. „Wie schön es wäre, in 50 Jahren immer noch so glücklich zu sein, wie jetzt.“, sagt die Frau und der Mann legt seinen Arm um ihre Hüfte. „Das werden wir. Wir dackeln irgendwann gemeinsam ins Altersheim.“ Sie lacht. Die kleine Famillie setzt ihren Weg fort und zertritt dabei die ohnehin zerstörten lila Blumen ein weiteres Mal.
Sie, dort oben auf dem Balkon, muss darüber schmunzeln, dass zwei Kinder die hässlichen Blumen des alten Mannes mit ihren Gummistiefeln in den Schneematsch drücken. Sie nimmt den letzten Zug ihrer Kippe und wirft den Stummel dann über das niedrige Gitter ihres Balkons nach unten auf die Straße. Sie kann froh sein, dass sie damit keinen Kopf trifft, obwohl ihr das wahrscheinlich sowieso egal gewesen wäre. Der noch qualmende Stummel fällt auf ein lilanes, nasses Blütenblatt und irgendwie ist das ein wunderschöner Anblick.
Sie ist Hobbyfotografin und erblickt diese traurige Kombination aus zermatschter Blume und aufgerauchtem Zigarettenstummel auf dem Boden vor sich. Eigentlich ist sie in Eile und auf dem Weg zu einem abendlichen Meeting mit ihrem Chef, dem Redakteur des örtlichen Käseblatts. Aber aus irgendeinem Grund hält sie inne und fischt ihr Smartphone aus der Jackentasche, um damit ein Foto zu machen. Als sie später am Abend nach Hause kommt, geht sie durch alle Bilder, die sie heute gemacht hat und löscht die, die ihr nicht mehr gefallen. Darunter befindet sich das Bild von der lilanen Blume und der Zigarette. Dieses Bild erzählt keine Geschichte, findet sie.