Leonie verließ müde das Schulgelände. Missmutig dachte sie an den Fußweg nach Hause, der vor ihr lag. Sie beschloss erst zu Star zu gehen. Sie brauchte dringend etwas Ablenkung. Dabei ignorierte sie ihren knurrenden Magen. Essen konnte sie auch später. Oma Leonie hatte bestimmt etwas Leckeres. Sie bog rechts vom Schulhof auf die Straße uns sah im Augenwinkel einen schwarzen Lamborghini mit quietschenden Reifen anfahren.
Idiot, dachte sie im Stillen und erinnerte sich an die unzähligen Male, wo solche verrückten Autofahrer ihre Pferde verschreckt hatten und es zu schlimmen Unfällen geführt hatte. Das Auto hatte so schnell an Geschwindigkeit zugenommen, dass Leonie zum inneren Rand des Bürgersteiges ging, um nicht eine Ladung Staub abzubekommen. Doch statt an ihr vorbeizufahren, kam das Auto mit quietschenden Reifen neben ihr zum Stehen. Die Fahrertür öffnete sich und ein junger Mann mit dunklen Haaren, in Chino-Shorts und lässigen kurzärmligem Hemd, richtete seine Sonnenbrille auf sie. Leonie stöhnte innerlich. Nico. Wegen ihm war ihre beste Freundin mal wieder sauer auf sie.
„Hey Miss Perfect“, rief er ihr zu und kam und kam ums Auto herum. Leonie konnte den Gedanken, dass sein Lächeln echt gewinnend war, wenn er sich Mühe gab, nicht aufhalten. Sie runzelte die Stirn, um ihm zu zeigen, dass er sich das „Miss Perfect“ immer noch nicht erlauben durfte.
„Steig ein, ich nehme dich mit“, sagte er und es klang verlockend. Er öffnete die Beifahrertür. Und auf einmal machte Leonie sich Gedanken um ihr Aussehen. Es war schrecklich heiß und sie war verschwitzt und müde.
Als könnte Nico ihre Gedanken lesen, lockte er sie: „Ich habe kalte Cola und eine Klimaanlage.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Nein danke“, hörte Leonie sich sagen, obwohl ihr trockener Hals eindeutig „Ja“ zur Cola sagte. Es schien als fielen Nicos Schultern. Leonie sah auf. War das etwa Enttäuschung?
„Du bist sauer auf mich“, stellte Nico fest. Ohne Verbitterung oder einen Vorwurf in seiner Stimme. „Geht es immer noch um die Party?“ Leonie schwieg.
„Ich werde es Oma Leonie beichten.“ Wie ein Schuljunge versuchte er, ihr Vertrauen zurück zu erkämpfen.
„Machst du eh nicht“, behauptete Leonie. In diesem Augenblick kam ihr eine Idee. Nur mit Mühe konnte sie ein Grinsen unterdrücken und ahmte Nicos coole Arte nach.
„Ich komme mit, aber nur, wenn ich am Lenkrad sitze.“ Sie sah, wie Nicos Selbstsicherheit aus seinen Augen verschwand und sein Lächeln erstarb.
„Du willst mit meinem Auto fahren?“, stotterte er.
„Du bist mit meinem Pferd geritten“, entgegnete Leonie.
„Aber das ist ein Lamborghini Aventador SV Roadster mit 740 PS und einem zwölf Zylinder Motor und mit einer Höchstgeschwindigkeit von über 350 km/h.“
Leonie unterbrach seine Schwärmereien und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie hatte die Cola entdeckt und griff danach.
„Star ist tausendmal mehr wert.“ Nico verdrehte die Augen und schloss die Tür. Er setzte sich hinter das Lenkrad. „Hab ich jetzt gewonnen?“, fragte er schelmisch.
„Nein, die Cola.“, gab Leonie zwischen zwei Schlucken zur Antwort. Nico startete den Motor und fuhr los. Er gab nicht an, sondern fuhr erstaunlich gut und vernünftig. Leonie stellte ihre Schultasche in den Fußraum und schloss die Augen. Nico war sie abholen gekommen. Hatte ihr kalte Cola mitgebracht. Plötzlich saß sie kerzengrade im Sitz. Die Sache musste einen Hacken haben.
„Das ist nicht der Weg zu Oma Leonie“, sagte Leonie und spürte wie sie wütend wurde. „Was auch immer du vorhast, lass es!“
Nico warf einen kurzen Blick auf sie. „Was ist das eigentlich für eine Frau, diese Oma Leonie? Wieso heißt du so wie sie?“
Leonie ließ sich ablenken. Sie erzählte, wie Oma Leonie die Erziehung ihres Vaters bewerkstelligte, dass er mehr auf dem Gestüt, als zu Hause war. Sie erzählte, wie Oma Daniela, ihre richtige Oma, ihre Schwiegertochter nicht leiden konnte, da sie ein dunkelhäutiges und uneheliches Kind von ihrem Vergewaltiger geboren hatte. Ihren Bruder Matthew. Sie erzählte, wie Oma Leonie sie ihrer Mutter und ihres Vaters angenommen hatte, als Sammy die hochschwangere Sally zu ihr brachte. Sie erzählte, wie Oma Leonie, Matthew liebhatte und Sallyn half, durch das Kind, nicht immer an den Unfall erinnert zu werden. Auch erzählte sie, dass ihre Eltern schließlich heirateten und schon vor der Hochzeit feststand, dass ihre erste Tochter Leonie heißen würde. Sie erzählte, dass Oma Leonie, das nicht gewusst hatte und wie sie mit Tränen, das Baby Leonie Sue schließlich in den Armen hielt und ihr der Name gesagt wurde.
„Oma Leonie ist der beste Mensch auf der ganzen Welt. Sie weiß einfach, wie es in einem Menschen aussieht, sie findet immer die richtigen Worte oder das richtige Schweigen. Und das für jeden Menschen jeder Altersklasse. Und wenn du es jemals wagen solltest, sie zur verletzen, bekommst du es mit der ganzen Köstring Sippe mitsamt allen Freunden und Bekannten zu tun!“, schloss Leonie ihre Erzählung mit einer Warnung.
Nico runzelte die Stirn, doch Leonie beachtete ihn gar nicht. Sie sah überwältigt aus dem Auto. Nico hatte gebremst und den Motor ausgeschaltet. Leonie meinte Pescara zu kennen, aber hier war sie noch nie gewesen. Ein kleiner, kristallblauer See erstreckte sich zu ihrer Rechten. Im Hintergrund erhoben sich mächtige Berge. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und beleuchtete den Sandstrand, als wäre er aus Gold. Schlanke Plamen ragten in den Himmel.
„Was ist das für ein See?“, flüsterte Leonie, aus Sorge sie könnte diese Harmonie durch ein lautes Wort zerstören.
„Das ist kein See“, erklärte Nico. „Das ist bereits das Meer. Es sieht aus wie ein See, aber dort hinten, ist ein Art Wasserfall und da mündet er ins Meer.“
„Das will ich sehen“, verkündete Leonie und wollte schon aussteigen.
Doch Nico hielt sie arm fest und grinste frech: „Ich dachte ich soll die zu Oma Leonie bringen und was auch immer ich vorhabe, sein lassen?“ Leonie drehte sich zu ihm um und lächelte entschuldigend. Und auf einmal war sie gefangen. Nicht so sehr von seinem Arm, wie von seinem Blick. In seinen Dunkeln Augen lag etwas, was sie sich nicht erklären konnte. Sie konnte ihm vertrauen. In seinem Blick lag tiefes Verständnis für die schwierige Situation mit Daniela. Verständnis für ihre Liebe zu Oma Leonie. Sogar Verständnis für ihre Leidenschaft für Pferde. Leonie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Aber das musste sie auch nicht. Sie fühlte sich einfach geborgen. Ihr fiel auf, dass Nicos Hand immer noch auf ihrem Arm lag, Nicos Augen folgten ihrem Blick und beinahe schuldbewusst seine Hand weg. Leonie stieg aus und atmete die warme Luft ein. Was war da grade geschehen? Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nico eine zweite Kühlbox aus dem Auto holte.
„Noch mehr Cola?“, fragte Leonie stirnrunzelnd.
Nico schüttelte den Kopf und sagte vorsichtig, als hätte er Angst vor ihrer Reaktion. „Das ist Essen drin.“ Er hatte extra nicht Picknick gesagt. Sie hätte sich vermutlich quergestellt.
Doch Leonie lächelte: „Das klingt doch gut, ich bin am Verhungern.“ Nico ging voran, auf den Wasserfall zu. Schon bald zog Leonie ihre Sandalen aus und ging am Wasser entlang. Als sie näherkamen, hörte sie bereits den Mini-Wasserfall, der sich vor ihrem Blick bot, er war wunderschön. Nico suchte einen schattigen Platz unter einer Palme aus, unter der er die Picknickdecke ausbereitete und den Korb öffnete.
„Das Essen ist von Oma Leonie. Ich habe ihr gesagt. Dass wir picknicken.“ Leonie Sue wurde eine Spur rot, aber sie sagte nichts. Sie lud sich ihren Pappteller mit Oma Leonies Leckereien voll und fragte schließlich forschend: „Du wirst es ihr nicht beichten, oder?“
Nico überlegte. Es war das erste Mal, dass er keine coole Antwort parat hatte. „Ich glaube, dass bin ich dir und Sheona echt schuldig“, sagte er ernsthaft. Dann hielt er im Bissen inne und stöhnte. „Ich habe aber keine Lust auf eine Strafarbeit.“
Leonie lachte. Das war dann doch wieder typisch Nico. “Sie wird dich eh nicht bestrafen.“ „Ach ja? Wetten doch? Ich kriege bestimmt alle Ställe zum Ausmisten, die es auf dem Hof gibt.“
Leonie lachte noch mehr. „Alle Ställe wäre ein Ding der Unmöglichkeit.“
Nico schnaubte verächtlich. „Dann halt alle Kaninchenställe.“
Leonie konnte nicht mehr vor Lachen. „Sowas gibt es bei uns gar nicht.“
„Irgendwas wird ihr schon einfallen, um mich so richtig zu quälen“, behauptete Nico.
Leonie streckte ihm die Hand hin. „Okay, lass uns wetten. Ich wette, du bekommst gar keine Strafe. Wenn ich gewinne, musst du reiten lernen.“ Nicos Augen blitzten übermütig.
Er schlug ein und hielt ihre Hand fest. „Wetten ich bekomme eine Strafe aufgebrummt. Was passiert, wenn ich gewinne?“
Leonie spürte das aufregende Kribbeln in ihrem Bauch, als sie sagte: „Denk dir was aus.“
Und in Gedanken hörte sie bereits Danielas Stimme: „Wie kannst du nur einem unberechenbaren, frechen und schwererziehbaren Jungen, solch ein Angebot machen?!“
Nico lächelte verschwörerisch. „Abgemacht.“ Er ließ ihre Hand wieder los und wandte sich seinem Essen zu.
„Ich habe dir von meiner Familie erzählt“, begann Leonie vorsichtig.
Nico grinste. „Und jetzt willst du etwas von meiner erfahren, stimmt´s?“
Leonie nickte zaghaft. „Wenn du nicht willst. Musst du es natürlich nicht.“ Nico schwieg. Leonie kam es so vor, als würde ihn das Thema Familie nicht grade glücklich machen.
„Eine Familie, wie deine habe ich nicht“, doch sein Versuch witzig zu sein scheiterte kläglich. Leonie merkte, wie er nicht mehr versuchte sie andauernd zur Weißglut zu treiben. Er versuchte nicht einmal, den bösen Buben zu markieren. Mochte er sie etwa?
„Wir wohnen auf der Villenseite von Catania und sind dort auch sehr hoch Angesehen. Von meinen Großeltern weiß ich nur, dass sie Unternehmer sind. Meine Eltern haben geheiratet, damit der Zusammenschluss beider Unternehmen einfacher war.“
Leonie unterbrach ihn geschockt. „Aber sie waren doch auch verliebt? Und sind zusammen ausgegangen oder haben verrückte Dinge zusammen gemacht?“
Nico zuckte mit den Schultern. „Ausgegangen sind sie schon, aber auch nur um der Presse zu zeigen, wie glücklich sie sind.“
„Aber dann haben sie sich nach der Hochzeit liebgewonnen?“, unterbrach Leonie ihn wieder. „Sonst wärst du ja nicht entstanden“, setzte sie leise hinzu.
Nico machte keinen doofen Spruch. Es legte sich ein Schatten über seine Augen. „Ich bin ein Produkt eines One-Night-Stands meiner Mutter. Meinen leiblichen Vater kenne ich nicht einmal. Meine Mutter konnte sich nicht mehr an ihn erinnern. Mein Vater forderte die Abtreibung.“
„Das hat zum Glück nicht geklappt“, flüsterte Leonie.
Nico lächelte und erzählte weiter: „Naja meine Mutter hatte nichts dagegen, doch es war schon zu spät. Deshalb wollten sie mich zur Adoption frei geben. Da hatte das Fernsehen schon herausgefunden, dass meine Mutter schwanger war und um ihr Image nicht kaputt zu machen, behielten sie mich und taten so als wäre ich Papas leibliches Kind.“
Leonie Sue war der Schock ins Gesicht geschrieben. „Aber warum weißt du das alles?“
„Ich habe mal einem Kunden von uns angefangen die Wahrheit über unser Unternehmen zu erzählen. Meinem Vater hat das natürlich nicht gepasst. Angetrunken und stinksauer, hat er mir das alles vorgeworfen. Und jetzt zahlen sie mir alles was ich haben will, damit ich bloß nicht den Mund vor der Presse aufmache.“
„Und jetzt geben sie dich unter dem Vorwand „schwererziehbar“ einfach ab“, sagte Leonie Sue niedergeschlagen.
Nico zuckte mit den Schultern. „Ihre Wunschvorstellung wäre, ich würde ins Ausland gehen, damit sie dann von ihrem intelligenten Sohn sprechen können, der die Welt bereist. Ich wollte aber mein Abitur machen. Ich werde niemals in das Familienunternehmen einsteigen, aber ich will trotzdem einen guten Job, um eigenes, ehrliches Geld zu verdienen. Ich will diesen ganzen Dreck endlich hinter mir lassen können.“
„Was willst du denn werden?“
„Kriminalkommissar“, antwortete Nico. „Um Leuten wie meine Eltern, dass Handwerk zu legen.“
Leonie lächelte. „Das macht mein Vater beruflich.“ Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
Nico sah auf. „Meinst du, du er würde mal mit mir reden?“
„Klar, warum nicht?“, fragte Leonie verwirrt.
„Ich bin doch der schwererziehbare von Köstrings Gestüt.“ Er sagte es, als wäre es eine Tatsache. Er sagte es so, wie andere ihren Namen sagten. Leonie erschrak. Wut machte sich in ihr breit. Wut auf diese Gesellschaft, die Menschen wie Nico ausschlossen, nur weil er nicht in ihre perfekte Lügenwelt passte.
Impulsiv legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „Das bist du nicht. Du bist ein Mensch. Ein ganz normaler Mensch. Du hast deine eigene persönliche Geschichte.“
Nico versuchte sie zu beschwichtigen. „Alles gut. Ich kann damit leben.“
„Nein, gar nichts ist gut. Es kann doch nicht sein, dass Menschen dich als schwererziehbar abtuen, nur weil ihre eigenen Geschichten, ihnen ein leichteres Leben ermöglicht haben, heißt es nicht, dass sie alles besser sind als du. Hör auf dich selbst so zu bezeichnen, wie Daniela es tut.“ Ihre Stimme wurde lauter. „Ich kann diese Frau echt nicht ausstehen. Am laufenden Band zerstört Leben!“
Erhitzt wandte sie sich zu Nico um. Überraschst stellte sie fest, dass er lächelte. „Du kannst ja tatsächlich auch mal richtig wütend werden.“ Leonie verdrehte die Augen, aber sie versuchte nicht, das Lächeln zu unterdrücken.
„Du bist unmöglich. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“, fragte sie und bereute im selben Moment ihre Worte.
Doch Nico schien es nicht zu stören. „Jeder“, sagte er leise und hob seine freie Hand um Leonie eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. „Aber noch nie von einem so schönen Mädchen.“
Leonie ertappte sich dabei, dass sie es genoss. Schnell stand sie auf und ging ans Wasser. Wieder fragte sie sie sich: Was passierte hier? Ihr Blick schweifte über das rot Golden schimmernde Wasser. Die Sonne ging grade unter. Sie viele hatten ihr gesagt, dass sie schön wäre, aber sie hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht. Aber Nico schien es ernst gemeint zu haben. Sie würde sich selbst nie als hübsch bezeichnen. Sie machte sich nichts aus Schminke und aufwändigen Frisuren. Sie mochte es im Sommerkleid, mit offenen Locken, auf Star über Wiesen und Wälder zu galoppieren. Dass ihre Haare dabei zerzaust wurden oder sie im nach hinein ein zerknittertes Kleid hatte, war ihr ziemlich egal. Doch dass Nico, sie hübsch fand, bedeutete ihr etwas. Sie verbot sich schnell solche Gedanken und blinzelte in das Licht der untergehenden Sonne. Sie bemerkte nicht, dass Nico auf einmal hinter ihr stand. Als er schließlich eine Hand auf ihre Schulter legte, bewegte sie sich nicht. Sie hielt die Luft an. Er schob ihre Haare auf den Rücken. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn er sie jetzt küssen würde, würde sie ihm eine scheuern. Sie hielt ihre Hand zum Schlag bereit.
Doch Nico flüsterte ihr nur ins Ohr: „Wenn ich gewinne, dann bekomme ich einen Kuss von dir.“ Und plötzlich gab Leonie Daniela Recht. Es war wirklich keine gute Idee gewesen, mit Nico zu wetten.