Joran lehnte an einer Hauswand und beobachtete das rege Treiben auf der Piazza San Giacomo di Rialto. Er war in sein übliches Schwarz gekleidet und bemühte sich um ein möglichst finsteres Gesicht, um allzu neugierige Passanten davon abzuhalten, ihn genauer anzusehen. Er hatte sich mehrere Jahre im Heiligen Land aufgehalten, doch das musste nicht heißen, dass ihn niemand erkannte. Ordelaf Ferroni war der Vorstand eines seit Generationen ansässigen Handelshauses und am Rialto ein wohlbekannter Anblick gewesen. Sicher fragte sich der eine oder andere Kaufmann, was denn aus dem Sohn und vermeintlichen Erben geworden war. Joran hatte jedoch nicht vor, sich in diese Rolle drängen zu lassen. Zu viel hatte sich geändert in den letzten Jahren, auf eine Weise, die er nicht hatte voraussehen können.
Er beobachtete seine Umgebung mit intensiver Aufmerksamkeit und entdeckte den Mann, den er erwartete, lange, bevor dieser ihn bemerkte und auf ihn zukam.
»Könnt ihr liefern?«, fragte Laurenz leise.
»Sicher.«
»Dann folgt mir bitte.«
Die Männer gingen zum Canalezzo zurück und bog hinter der Rialtobrücke nach links zum Fondaco der deutschen Kaufleute ab. Laurenz führte ihn zum landseitigen Eingang und bat ihn einzutreten.
Joran ließ den Blick unauffällig umherschweifen. Er war noch nie im Haus der deutschen Kaufleute gewesen, aber die Aufteilung der Räume unterschied sich nicht wesentlich vom Kontor der Venezianer in Akkon. Um einen offenen Innenhof herum lagen gewölbte Warenmagazine, im Geschoß darüber befanden sich die Wohnungen der Kaufleute.
Das Gedränge wurde dichter, als sie an den Stuben der Schreiber und Kanzlisten vorbeikamen, aber Laurenz ließ sich davon nicht aufhalten. Er führte Joran in einen Raum, der ganz offensichtlich zur Renovierung vorgesehen war. Holzbretter und Gipssäcke stapelten sich in einer Ecke, auf dem Boden lagen Werkzeuge herum.
Laurenz schloss die Tür und wandte sich Joran zu. »Hier sind wir ungestört. Nun zeigt her, was Ihr anzubieten habt.«
Joran zog ein schmales Holzkästchen aus seinem Beutel, öffnete es und hielt es Laurenz zu Begutachtung vor. Mit skeptischer Miene beugte sich der Deutsche über das mit Seide ausgeschlagene Behältnis und betrachtete das vergoldete Reliquiar. »Könnt Ihr mir garantieren, dass der Inhalt echt ist?«
Joran zuckte die Schultern. »Wer kann das schon in diesem Gewerbe? Da wir aber annehmen dürfen, dass unser Erlöser zu seinen Lebzeiten den üblichen kräftigen Bartwuchs besaß, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass eine echte Reliquie die Zeiten überdauert hat. Und diese hier stammt immerhin direkt aus dem Heiligen Land.«
Der Deutsche atmete hörbar aus. »Heißt das, sie kommt aus Jerusalem? Aus einer besetzten Stadt? Habt Ihr Beziehungen dorthin?«
»Die habe ich nicht. Gebt Euch also keinerlei Hoffnungen hin.«
Der Deutsche seufzte. »Nun, das ist höchst bedauerlich. Mein Herr wäre durchaus interessiert, in einen Splitter vom wahren Kreuz zu investieren.«
Joran lachte spöttisch. »Davon gibt es so viele, dass man ein ganzes Rundschiff bauen könnte.«
Laurenz nickte. »Ich verstehe. Dennoch ... mein Herr wäre sehr glücklich, ein solches Stück in seiner Hauskapelle beherbergen zu können.«
»Da ist nichts zu machen, bedaure.«
»Wirklich?«
»Ganz sicher.«
Laurenz machte eine schicksalsergebene Geste und schwieg.
»Nun, immerhin könntet Ihr Eurem Herrn doch etwas Gleichwertiges anbieten.« Joran schloss das Kästchen. »Falls Ihr es denn wollt. Es gibt genügend andere Interessenten dafür.«
»Natürlich nehme ich es«, erwiderte Laurenz grimmig. »Wo denkt Ihr hin?«
»Dann erlaubt, dass ich einen bescheidenen Wunsch äußere«, sagte Joran. Er zog ein eng gefaltetes Pergament aus seinem Beutel und reichte es dem deutschen Kaufmann. Dieser entfaltete es, warf einen Blick darauf, verzog kurz das Gesicht, doch schließlich nickte er zustimmend.
»Nun, also, Ihr dürft es mir schenken«, erklärte er mit einem knappen Lächeln.
»Natürlich.« Joran überreichte ihm die Reliquie. Das kanonische Recht verbot den Handel mit Reliquien, das war nur eigens dazu bestellten kirchlichen Würdenträgern gestattet, doch das Verschenken war erlaubt. Laurenz würde ihm im Gegenzug für ein symbolisches Geschäft eine Lieferung Goldmünzen zukommen lassen, durch die er, wenn er die Wechselkurse geschickt nutzte, noch weiteren Gewinn erzielen konnte.
Joran stieß langsam den Atem aus, den er angehalten hatte, ohne es recht zu merken. Der Betrag, den er auf das Pergament geschrieben hatte, war nahezu unverschämt hoch und er war keineswegs sicher gewesen, ob Laurenz ihn akzeptieren würde.
»Ich würde meinem Herrn ja gerne raten, zukünftig in legale Reliquien zu investieren«, sagte der Deutsche. »Doch diese sind kaum zu bekommen, es sei denn zu Preisen, die einem in den Ruin treiben.«
Joran zog es vor, diese Bemerkung des Deutschen nicht zu kommentieren.
»Es war wie immer sehr angenehm, mit Euch Geschäfte zu machen, Messèr Laurenz«, sagte er stattdessen und machte eine knappe Verbeugung. »Gehabt Euch wohl.«
Wenig später schlenderte Joran erneut Richtung Piazza San Giacomo di Rialto. Bisher hatte er immer genügend Silber mit sich geführt, um seine Geschäfte in bar abzuwickeln. Doch nun brauchte er Lagerräume und ein Konto bei einer angesehenen Bank. Er beschloss, Messèr Pisani aufzusuchen, der ein alter Freund der Familie war und ihm vielleicht das eine oder andere Geschäft vermitteln konnte. Er passierte die Kirche San Giacomo di Rialto und bog auf die Piazza ein, als ihn ein glockenhelles Frauenlachen unvermittelt innehalten ließ. Seltsamerweise wusste er sofort, wem die Stimme gehörte, auch wenn er sie noch nicht allzu oft lachen gehört hatte.
Helena Contarini.
Er drückte sich in den Schatten eines Verkaufsstandes und sah zum Tisch der Banco Pisani hinüber. Und tatsächlich - dort stand sie in Begleitung eines Dieners und einer Magd, einen Henkelkorb am Arm und unterhielt sich angeregt mit Pisani. Eine seltsame Lähmung schien ihm in die Glieder gefahren zu sein, denn er war mit einem Mal nicht in der Lage sich zu bewegen. Aber das musste er, denn sie durfte ihn keineswegs zu Gesicht bekommen. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie seine Welt aus den Angeln gehoben und er war sich keinesfalls sicher, ob er diese Erfahrung wiederholen wollte. Er drehte ihr den Rücken zu und gab vor, sich brennend für die Auslage eines Tuchhändlers zu interessieren. Aber einige Augenblicke später konnte er nicht umhin, sich umzudrehen und sie wieder anzusehen. Er hatte das prickelnde, beinahe körperlich Gefühl, dass ihn jemand anstarrte. Als er in ihre Richtung blickte, stellte er fest, dass ihn das Gefühl nicht getäuscht hatte: Sie hatte ihren Korb auf dem Boden abgestellt, wie nach einem Schrecken und starrte ihn an.
Zögernd machte sie ein paar Schritte auf ihn zu, blieb stehen, ihre Lippen formten seinen Namen, Joran, und dann lächelte sie. Es war ein Lächeln, das sich wie eine sanft heranströmende Welle über ihr ganzes Gesicht ausbreitete und es traf ihn mitten in den Bauch, wobei der Schlag bis in seine Kniekehlen ausstrahlte. Er spürte förmlich, wie ihm jeder vernünftige Gedanke aus dem Kopf wich und er nur noch denken konnte: Oh. Was für eine Frau.
Sie raffte ihren Rock und eilte auf ihn zu. »Joran! Welche Freude Euch zu sehen! Ich wusste gar nicht, dass Ihr wieder in Venedig seid. Wie geht es Euch?«
Zum Teufel mit ihr! Sie wusste vermutlich nicht einmal, was sie ihm antat. Für dieses Dilemma gab es nur eine Lösung: Er musste es ihr mit gleicher Münze heimzahlen.
»Signorina Helena.« Er ergriff ihre Hand, beugte sich mit einem spöttischen Halblächeln darüber, strich mit seinen Lippen sanft über ihren Handrücken und hauchte schmetterlingszarte Küsse auf ihre Haut, bis ihre Finger in seinem Griff leicht zu zittern begannen. Dann hob er langsam den Kopf und musterte sie mit einem wissenden Blick unter halb gesenkten Lidern hervor, der ihr die Röte in die Wangen trieb.