Helena konnte es nicht fassen. Was war aus dem beinahe schüchternen jungen Mann geworden, den sie noch vor einem Jahr mit ihrem unbeholfenen Kussversuch in die Flucht geschlagen hatte? Dieser Mann hier wirkte wie ein Pirat. Seine schwarzen Haare fielen ihm in ungebändigten Wellen auf die Schultern. Er musterte sie mit einem Blick aus unverschämt blauen Augen, der ihr das Gefühl gab, langsam, Stück für Stück entkleidet zu werden. Die unterschiedlichsten Empfindungen stürmten auf sie ein. Sorge, Empörung - oder gar Verlangen? Sie entzog ihm ihre Hand und wich einen Schritt zurück. Sie konnte sich nicht erinnern, je so verwirrt gewesen zu sein. Was bezweckte er?
Helena drehte den Kopf zur Seite, um seinem provozierenden Blick zu entkommen, doch er nahm ihr Kinn in die Hand und zwang sie, ihn wieder anzusehen.
»Diese falsche Scham steht dir nicht«, murmelte er. »Ich durchschaue dich, meine Süße. Ich weiß, was du dir wünschst. Hitze und Leidenschaft. Ekstase. Wie wäre es, wenn ich dich jetzt küsse, hier mitten auf dem Platz? Du würdest dich nicht wehren, nicht wahr?«
Helena konnte ihn nur anstarren, ohne ein Wort herauszubringen. Sie drückte seinen Arm nach unten, bis er sie losließ, und machte einen schnellen Schritt zurück.
Er hatte sich in der Tat verändert. Und das betraf nicht nur sein Auftreten. Seine Züge waren härter und kantiger, seine Haut tief gebräunt. Ein dunkler Bartschatten lag auf seinen Wangen, der jedoch nicht dazu beitrug, die Narbe auf seinem Jochbein zu verbergen. Helena biss sich auf die Unterlippe. Was war mit dem Mann geschehen, der einst alles getan hatte, um das Wohlergehen seiner kleinen Schwester sicherzustellen?
Mit einem Schritt überbrückte er den Abstand, den sie zwischen ihnen geschaffen hatte. Er neigte sich zu ihrem Gesicht herunter. »Du riechst wirklich gut, Helena«, murmelte er dicht an ihrem Ohr. »Wirklich sehr gut. Hat dir das schon jemand gesagt?«
Sein Atem war wie ein Feuerhauch auf ihrer Haut und sandte einen wohligen Schauer über ihren Rücken. Ihre Hände wollten ihn berühren, diese neue Stärke erkunden. Energisch rief sie sich selbst zur Ordnung. Himmel, so hatte sie sich ihr Wiedersehen nicht vorgestellt. Was war nur in ihn gefahren? Und dann ging ihr buchstäblich ein Licht auf. Joran war ihr tatsächlich noch immer böse wegen des Kusses und versuchte es ihr auf diese Weise heimzuzahlen. Beinahe hätte sie ob der absurden Situation losgekichert. Nun, das konnte er haben.
Sie legte ihm eine Hand auf die Brust und strahlte ihn an, während ihre Finger unauffällig auf Wanderschaft gingen. »Ich kenne ein Gasthaus gleich in der nächsten Seitengasse«, hauchte sie. »Was hältst du davon, wenn wir dort hingehen und den Wirt nach einem ungestörten Hinterzimmer fragen?«
Joran starrte sie an, als könne er nicht glauben, dass er sie richtig verstanden hatte. Er sah aus, als träumte er und versuchte verzweifelt aufzuwachen. Sein Blick wurde leer.
Verblüfft registrierte Helena die Veränderung, die mit ihm vorging. Mit einem Mal wirkte er wie jemand, der sich verzweifelt nach etwas sehnte, das außerhalb seiner Reichweite lag.
Das Ausmaß seiner Einsamkeit traf Helena mit voller Wucht.
»Oh, Joran. Es tut mir leid«, murmelte sie.
»Ja, mir auch«, sagte er und wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht, was gerade in mich gefahren ist. Ich ...«
»Du bist böse auf mich, wegen des Kusses damals«, stellte sie fest.
Er sah zu Boden, ohne zu antworten.
»War es so schrecklich?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, war es nicht. Oder doch. Auf seine Weise war es schrecklich.«
»Das verstehe ich nicht, Joran.«
»Das musst du auch nicht verstehen.«
»Ich möchte es aber gern«, beharrte sie.
Sie erhielt keine Antwort.
Helena seufzte. »Nun gut«, sagte sie. »Du willst nicht antworten. So sei es denn.
Kommst du wenigstens mit zu meinen Begleitern? Ich möchte dir gerne etwas zeigen.«
»Was denn?«
»Lass dich überraschen.« Sie führte ihn zu Pisanis Bank zurück und bat ihre Magd, ihr den Korb zu reichen. Sie nahm einen der Glastiegel heraus und bot ihn Joran zur Begutachtung an. »Schaut her. Sind sie nicht wunderschön geworden?«
Er nahm das Gefäß in die Hand, hielt es gegen das Licht und drehte es hin und her. Schließlich öffnete er den Deckel und schnupperte am Inhalt. »Ah. Daher rührt dieser Wohlgeruch. Ihr benutzt es selbst.«
»Natürlich«, gab sie zurück. »Wie sonst sollte ich sicher sein, dass die Ware ihren Preis wert ist?«
»Was verlangt Ihr dafür, Monna Cotarini? Ich würde Euch gerne einen Tiegel abkaufen.« Er griff nach der Börse an seinem Gürtel, doch sie gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. »Betrachtet es als kleinen Dank für Eure Hilfe beim Entwurf, Messèr Ferroni.«
Joran verbeugte sich schweigend.
»Ferroni? Habe ich das richtig gehört?«, fragte Messèr Pisani und kam eilig hinter seinem Tisch hervor. »Tatsächlich! Joran Ferroni. Ich hätte Euch beinahe nicht erkannt. Ihr habt Euch verändert.«
Joran verbeugte sich erneut. »Messèr Pisano. Eine Ehre.«
»Verzeiht, dass ich Euer Gespräch unterbrochen habe, aber ich muss in einer dringenden Angelegenheit mit Euch reden, Ferroni. Ich werde meinen Gehilfen anweisen, Euch in mein Kontor zu führen, sobald Ihr Eure Unterhaltung mit Monna Contarini beendet habt.«
»Das trifft sich ausgezeichnet«, erwiderte Joran. »Ich hatte ohnehin vor, Euch aufzusuchen.« Er griff nach dem Glasgefäß und verstaute es in seinem Beutel. »Habt Dank, Monna Contarini für Eure Bereitschaft, mir einen Tiegel Eurer ausgezeichneten Schönheitssalbe zu überlassen. Meine Schwester wird höchst erfreut sein, endlich in den Besitz dieser Kostbarkeit zu gelangen.«
Helena musterte ihn verblüfft. Bereitschaft, ihm einen Tiegel zu überlassen? Kostbarkeit? Was redete er denn da für einen Unsinn? Seine Schwester Leocadia lebte im Haushalt ihrer Schwägerin Ravena, die die Salbe für sie herstellte. Da musste er doch nicht ...?
Der Bankier trat interessiert einen Schritt näher. »Ich habe die ausgezeichnete Arbeit des Glasmachers schon bewundert. Barovier?«
»Ihr habt ein sehr gutes Auge, Messèr Pisani«, lobte Helena.
»Und Ihr vertreibt darin eine Schönheitssalbe?«
»Nicht irgendeine Schönheitssalbe«, bemerkte Joran tadelnd. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, als müsse er sich gegen unerwünschte Lauscher absichern, bevor er seinen Kopf näher zu Pisani neigte. »Ich habe sagen hören, ein florentinischer Bankier habe das Gewicht seiner Ehefrau in Silber für das Rezept geboten«, murmelte er. »Aber das habt Ihr nicht von mir.«
»Jesus! Will er ein Monopol etablieren?«
»Wer weiß das schon«, murmelte Joran.
Helena war sprachlos angesichts der Dreistigkeit, mit der Joran dem Bankier einen Bären aufband. Er tat dies mit einem vollkommen gelassenen Gesichtsausdruck, als sei alles, was er da von sich gab, nichts als die Wahrheit.
Nun war es Pisani, der näher an Joran heranrückte. »Ist das Zeug wirklich so gut?«, fragte er flüsternd. »Welchen Nutzen bringt es?«
»Ist nicht für einen Mann alles von Nutzen, was die Frauen bei Laune zu halten vermag?«, gab Joran mit einem Augenzwinkern zurück.
»Nun, da habt Ihr recht, Messèr Ferroni«, sagte Pisani. Er war einen schnellen Seitenblick in Helenas Korb. »Vielleicht sollte ich meiner Gemahlin ...?«
Joran machte eine einladende Handbewegung. »Ich kann die Salbe nur empfehlen.«
»Wie bedauerlich«, sagte Helena. »Leider handelt es sich bei der Ware in meinem Korb ausnahmslos um Bestellungen, Messèr Pisani. Obwohl ... weil Ihr es seid, könnte ich Euch wohl zwei Tiegel abtreten, ohne den Zorn meiner anderen Kunden herauszufordern.«
»Gut«, erwiderte der Bankier eilig. »Die nehme ich.«
Helena reichte ihm die Tiegel und nannte einen Preis, der doppelt so hoch war, wie die Summe, die sie üblicherweise verlangte. Pisani akzeptierte, ohne zu handeln.
»Seid so freundlich, die Summe dem Konto meines Vaters gutzuschreiben«, sagte Helena.
»Selbstverständlich. Messèr Ferroni, ich erwarte Euch in meinem Kontor.« Der Bankier wandte sich um und kehrte in sein Geschäft zurück.
Helena blickte zu Joran und errötete ein wenig, als sie sah, dass er sie beobachtete. »Ihr seid ein unglaublich dreister Lügner«, bemerkte sie kopfschüttelnd. »Aber trotzdem danke.«
»War mir ein Vergnügen«, gab er trocken zurück und schickte sich an Pisani zu folgen.
Sie ergriff ihn am Ärmel seiner Tunika. »Wohnt Ihr jetzt hier in Venedig, Joran? Wo kann ich Euch finden?«, fragte sie.
Er machte sich von ihr los. »Überall und nirgends«, sagte er und verschwand im Gebäude.