Als die Kiste mit Helenas Knöpfen angeliefert wurde, war Joran mehr als bereit, Venedig für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Er fühlte sich erschöpft und war dennoch kaum in der Lage in den Nächten durchzuschlafen. Sobald er versuchte, die Augen zu schließen, stürmten Erinnerungen und Empfindungen auf ihn ein, die alles andere als Willkommen waren. Er musste einfach eine Weile fort aus der Stadt und eine Handelsfahrt bot einen Vorwand, den sogar Jacopo gelten lassen musste.
Die Flussfahrt nach Verona verlief ereignislos. Da Jacopo im Haus unabkömmlich war, hatte Joran drei Tagelöhner angeworben, die ihm bei den anfallenden Arbeiten zur Hand gingen. Die Anlegeplätze in Verona waren rar gesät, doch Joran hatte vorsorglich genügend passende Münzen dabei, um den strengen Hafenmeister milde zu stimmen.
Schnell waren die Kisten und Säcke mit den Waren auf einem Karren verstaut und Joran machte sich auf dem Weg zum Palazzo della Ragione. Im Innenhof des Rathauses fand ein Markt statt und Joran hoffte, eine der begehrten Buden zu ergattern.
Und er hatte Glück. Der Marktmeister führte ihn zu einem Stand in der Nähe der großen Freitreppe und Joran befahl seinen Knechten, mit dem Abladen der Waren zu beginnen. Er selbst legte ebenfalls Hand an, was ihm einige verwunderte Seitenblicke eintrug. Das störte ihn jedoch nicht. Er war kein reicher Kaufherr, dessen einzige Aufgabe es war, Befehle zu erteilen. Körperlicher Arbeit gehörte für ihn ebenso dazu, wie das Feilschen mit den Kunden.
In den Gassen zwischen den Buden herrschte reges Treiben. Um ihn herum bevölkerten Bauern, Handwerker und Tuchhändler die Buden und priesen mit lautem Geschrei ihre Auslagen an. Das Gackern der Hühner und das Meckern der Ziegen waren ohrenbetäubend. Zahllose Gerüche hingen in der Luft, nach Dung, Bier, frischem Brot und gebratenem Fleisch. Joran schickte einen der Knechte zum Bäcker, um ihnen eine Mahlzeit zu kaufen. Doch als der Mann zurückkam, blieb ihm kaum Zeit einen Bissen Brot hinunterzuschlingen, denn die ersten Kundinnen umringten seinen Stand und befingerten das Mustertuch mit Helenas aufgenähten Perlenknöpfen. Er öffnete einen der Salbentiegel, ließ die Frauen probieren und sparte nicht mit Komplimenten. Auf diese Weise schwatzte er den Veroneserinen tiegelweise die Schönheitssalbe auf und behauptete dreist, er sei der einzige Händler weit und breit, der so hübsche Perlenknöpfe anzubieten habe.
»Junge, Junge, wie charmant du die armen Frauen doch um den kleinen Finger zu wickeln verstehst«, ertönte eine Stimme.
Jorans Kopf ruckte hoch. Hinter ihm stand sein Halbbruder Rafael von Rodéna, wie aus dem Boden gewachsen und grinste ihn herausfordernd an.
»Du!«
»Ja, ich«, erwiderte Rafael amüsiert. »Und ich stehe schon eine ganze Weile hinter dir, ohne dass du mich bemerkt hast.«
»Schon gut, schon gut«, grollte Joran. »Diese Runde hast du gewonnen.« Er zog eine Münze aus seiner Schatulle und warf sie Rafael zu, der sie geschickt auffing.
Joran musterte ihn verstohlen. Seinen Halbbruder anzusehen war wie ein Blick in den Spiegel und diese Tatsache brachte ihn noch jedes Mal ein wenig aus der Fassung.
»Was führt dich nach Verona, Rafael?«, fragte er. »Du bist wahrlich der letzte Mensch, mit dem ich hier gerechnet hätte.«
Rafael ließ sich auf einer Kiste nieder, zog ein Knie an den Leib und schlang die Arme darum. »Tja, dann bist du noch immer der König der Toren«, bemerkte er grinsend. »Wie du dir unschwer denken könntest, sind Roana und ich auf dem Weg nach Rocca d´Aquila. Ravenas Kind kann jetzt jeden Tag zur Welt kommen und Reni braucht ohne Zweifel ein bisschen moralische Unterstützung. Wenn du willst, können wir zusammen reisen.«
Joran sah zu Boden und schwieg. Die Nachricht war ein neuer Tiefstand im Verhältnis zu seiner Schwester, denn Leo hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm die Neuigkeit zu schreiben.
»Es stellt kein Problem für uns dar, ein paar Tage zu warten, falls du erst noch deine Geschäfte abwickeln willst«, sagte Rafael.
»Ich kann jetzt nicht nach Rocca d´Aquila«, stieß Joran rau hervor.
Rafael musterte ihn aus silbergrauen Augen, die Joran auf verstörende Weise an Lucca erinnerten. In Momenten wie diesen fand er Rafaels Anblick schwer erträglich, obwohl dieser in der kurzen Zeit, die sie sich kannten, zu etwas geworden war, was einem Freund sehr nahe kam.
»Erzählt mir davon.«
»Was?«
»Warum du nicht nach Rocca d´Aquila kannst.«
Joran zwang sich, tief ein - und auszuatmen. »Meine Mutter ist am Leben.«
Rafael dachte einen Moment lang nach. »Ist das gut oder schlecht?«, fragte er dann.
Wie typisch für Rafael, gleich zum Kern des Problems vorzudringen, schoss es Joran durch den Kopf. Er wollte antworten, aber plötzlich wurde ihm klar, dass er die Antwort nicht wusste. Er hatte darüber nachgedacht, von dem Moment an, in dem ihm klar geworden war, wie es um seine Mutter stand, aber nicht sehr intensiv und nicht sehr lange. Es war, als würde sich etwas in ihm weigern, sich länger als einen Augenblick mit der Frage zu beschäftigen.
Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Daran zu denken ist schlimm. Aber manchmal wünschte ich ...«
»Was? Was wünschst du dir?«
»Dass sie besser gestorben wäre.«
Seine Antwort schien Rafael nicht zu überraschen. Er winkte Jorans Gehilfen herbei und trug ihnen auf, die Aufsicht über den Verkaufsstand zu übernehmen.
»He, das ist immer noch mein Stand«, protestierte Joran. »Du kannst nicht einfach über meinen Kopf hinweg ...«
»Setz dich«, befahl Rafael. »Erzähl mir, was geschehen ist.«
Joran schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden.«
»Setz dich«, wiederholte Rafael gelassen. »Sonst helfe ich nach. Das könnte dann allerdings für die restlichen Marktbesucher recht erheiternd werden.«
Grummelnd schnappte sich Joran eine Kiste und ließ sich an Rafaels Seite nieder. »Manchmal hasse ich dich wirklich«, murmelte er.
»Oh, besten Dank auch, für das manchmal«, gab Rafael zurück. »Ich sehe, wir machen Fortschritte.« Er legte eine kleine Pause ein, bevor er fragte: »Hast du selbst deine Mutter gefunden?«
Joran schüttelte den Kopf. »Reni hat sie ausfindig gemacht. Nachdem wir Leocadia befreit hatten, schwor er, nicht eher zu ruhen, bis er Luccas Sklavenhändlerring aufgespürt und bis in die letzten Verästelungen zerschlagen hat. Er wollte, dass ich ihm helfe, aber ich konnte nicht. Ich musste einfach eine Zeit lang weg von alledem.«
»Weglaufen hilft nicht, Joran. Nicht wenn die Sache irgendetwas mit Lucca oder seinen Schergen zu tun hat.«
»Ich weiß.«
Rafael rieb sich das Kinn. »Ich versuche oft, mir vorzustellen, welche Gründe Lucca zu diesem Hass auf seine Söhne getrieben haben. Aber ich kann es nicht.«
»Niemand kann das«, sagte Joran. »Wie dem auch sei. Als Reni meine Mutter in einem Hurenhaus auf dem Festland fand, war sie körperlich in einem sehr schlechten Zustand. Er informierte Jacopo, meinen Diener, und gemeinsam kümmerten sie sich um sie, bis es ihr gut genug ging, um die Reise nach Venedig machen zu können.«
»Und?«
»Und was?«
Rafael sah ihn mit einem Blick an, der bis auf den Grund seiner Seele vorzudringen schien. »Erzähl mir auch den Rest der Geschichte.«
Joran sah auf seine Stiefelspitzen. »Sie war zu lange gefangen, Rafael. Ihr Geist ist zerstört.«
»Wie äußert sich das?«
»Wie sich das äußert?«, stieß Joran hervor. »Sie erkennt mich nicht. Ich bin ein Fremder für sie, vor dem sie sich entsetzlich fürchtet. Ich darf ihr nicht nahe kommen, sie nicht berühren. Manchmal reicht ein Wort von mir, um sie in ein zitterndes, hilfloses Häuflein Elend zu verwandeln. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage, bevor ich ...«
»Hast du mit deiner Schwester darüber gesprochen?«
»Nein.«
Rafael wechselte einen Blick mit seiner Gemahlin, die, einen Mandelkuchen in der Hand, zu ihnen getreten war. »Heißt das, Leo weiß nicht, dass ihre Mutter noch lebt?«, fragte er fassungslos. »Nicht einmal von Reni?«
»Ich habe ihn gebeten Stillschweigen zu bewahren. Ich will nicht, dass Leo ihre Mutter so sieht.«
Roana reichte jedem der Männer ein Stück Mandelkuchen. »Ich kann nicht glauben, dass Reni sich darauf eingelassen hat«, bemerkte sie.
Joran zuckte die Achseln. »Er schuldet mir etwas.«
Rafaels Miene verriet, dass ihn Jorans Antwort nicht glücklich machte. »Ich finde, Leo hat ein Recht darauf zu erfahren, dass ihre Mutter lebt. Ich bin sicher, sie könnte dir bei der Pflege eine wertvolle Hilfe sein.« Es klang kühl.
»Nein, das würde ich nicht sagen. Im Gegensatz zu dir bin ich nicht bereit, meine Schwester dieser Qual auszusetzen. Und ich bin froh, dass sie keinen Kontakt mit mir haben will, weil sich die Angelegenheit auf diese Weise viel einfacher vertuschen lässt. Das ist vielleicht nicht besonders anständig von mir, aber mit diesem Vorwurf kann ich leben.«
Rafael biss in seinen Mandelkuchen und kaute nachdenklich. »Leo fürchtet, nicht länger liebenswert zu sein«, sagte er schließlich. »Ihre Abwehr ist nichts als Fassade, um diese Angst vor dir zu verbergen.«
»Oh, und für wen tue ich das hier wohl alles?«, fragte Joran. »Warum stehe ich auf einem Markt wie diesem und versuche, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, hm? Bestimmt nicht, weil es mir so viel Spaß macht.«
Rafael erwiderte seinen Blick einige Herzschläge lang, ehe er den Kopf wegdrehte. »Weiß sie das denn?«, fragte er beiläufig.
Joran schnaubte. »Sie hält mich für einen armseligen Händler, der sich mit Kleinkram abgeben muss, weil er an die großen Geschäfte nicht herankommt.«
»Ich würde die Münzen nicht als Kleinkram bezeichnen, die heute Morgen schon in deine Schatulle geprasselt sind«, sagte Roana. »Du hast eine Begabung für das Feilschen. Und du kannst ausgesprochen charmant sein, wenn du es darauf anlegst. Das hätte ich nicht gedacht.« Mit einem süffisanten Lächeln drehte sich Roana zu ihrem Mann um. »Besser, wir sagen es nicht weiter, hm? Es könnte seinen Ruf des grüblerischen Eigenbrötlers zerstören.«
Gegen seinen Willen musste Joran lächeln. »Nun ja, ich rede die graue Wirklichkeit bunt, streue silbrigen Sand und rosige Perlen darüber, damit sie Glanz und Farbe bekommt. Was ist daran schlimm?«
»Gar nichts«, sagte Roana. »Mir gefallen gute Geschichten.«
»Tja, nur leider schreibt das Leben selten gute Geschichten«, gab Joran zurück.
Rafael sah ihn an und für Jorans Geschmack verweilte sein Blick ein wenig zu lange auf der Narbe in seinem Gesicht.
»Ich glaube, ich werde ihr erzählen, dass wir dich hier getroffen haben«, sagte Rafael. »Und dass du von früh bis spät arbeitest, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen.«
»Oh, bemüh dich nicht, Rafael. Das steht alles in den Briefen, die ich ihr geschrieben habe. Die sie weder liest, noch beantwortet.«
»Briefe. Also wirklich, Joran«, sagte Roana. »Briefe bestärken sie doch nur in dem Gefühl, dass du ihre Gegenwart nicht erträgst und sie deshalb auf eine einsame Burg verbannt hast.«
Joran stieß hörbar die Luft aus. »Das war ja klar. Du ergreifst immer Partei für sie, egal, wie unmöglich sie sich benimmt.«
Roana betrachtete angelegentlich ihren Kuchen und schwieg.
»Das tut sie nicht«, widersprach Rafael ruhig. »Meine Gemahlin versteht nur ein klein wenig besser als andere, wie es in Leocadia aussieht. Du solltest ihr zuhören.«
Joran schüttelte den Kopf. »Diese Unterhaltung ist sinnlos.«
»Leocadia hat alles verloren, was ihr Leben ausgemacht hat. Gib ihr wenigstens die Mutter zurück.«
Joran sah ihn kurz von der Seite an, dann blickte er wieder zu Boden. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen«, knurrte er.
Rafael lachte leise, um zu bekunden, wie wenig beeindruckt er von der finsteren Miene seines Halbbruders war, dennoch erhob er sich, trat an die Seite seiner Gemahlin und wechselte das Thema. »Wolltest du Ravena nicht ein wenig Pfeffer mitbringen?«
»Ja, ja«, erwiderte Roana abwesend. Ihr Blick wanderte über die ausgestellten Salbentiegel und blieb an dem geöffneten Gefäß hängen. Sie nahm es in die Hand und schnupperte am Inhalt. »Das ist Ravenas Salbe, nicht wahr?«, fragte sie. »Ich dachte, sie produziert ausschließlich für Helena?«
»Stimmt. Aber Helena kann nicht selbst auf die Märkte gehen«, erklärte Joran. »Daher nehme ich ihr gelegentlich ein paar Tiegel ab und verkaufe sie.«
Rafael verharrte seltsam reglos und Joran fühlte sich erneut dem durchdringenden Blick ausgesetzt. »Läuft da etwas zwischen dir und Helena?«, fragte Rafael argwöhnisch.
Joran starrte ihn einige Herzschläge lang sprachlos an. »Das ist eine unverschämte Unterstellung«, sagte er schließlich. »Selbst von dir.«
»Keineswegs«, gab Rafael zurück. »Das Mädchen hatte auf Renis Hochzeitsfeier nur Augen für dich.«
Joran spürte seine Kehle eng werden, auch wenn er beim besten Willen nicht hätte sagen können, warum eigentlich. »Unsinn.«
Roana hatte den Tiegel beiseite gestellt und den Wortwechsel interessiert verfolgt. Jetzt schüttelte sie mit Inbrunst den Kopf. »Es stimmt aber. Helena hat dich beobachtet. Und zwar mit deutlich mehr Interesse, als es einem Mädchen aus guter Familie zusteht.«
Rafael zwinkerte Joran zu. »Ich wette, es wäre ein Leichtes gewesen, ihr einen Kuss zu stehlen, wenn du es darauf hättest ankommen lassen.«
»Hab ich aber nicht«, knurrte Joran. »Und ich rate dir, jetzt besser das Thema zu wechseln, wenn du nicht willst, dass ich ernsthaft beschließe, deine Nasenform zu korrigieren. Ich dulde nicht, dass du Signorina Helenas Tugend infrage stellst. Das steht dir nicht zu.«
Rafael trat einen Schritt zurück, um sich aus Jorans unmittelbarer Reichweite zu bringen. »An deiner Stelle würde ich auf meine eigene Nase achten«, empfahl er grinsend. »Ich kenne ein paar Tricks, von denen du vermutlich noch nie gehört hast.«
»Eingebildeter Affe«, schoss Joran zurück. »Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich würde dich mögen. Tja, das war anscheinend ein Irrtum.«
»Welch ein Glück. Es wäre ein Trauertag für die Welt, wenn wir zwei uns einmal vertragen würden.«