Eine Stadt, deren Paläste auf hölzernen Säulen im Meer standen und deren Schiffe vor den Haustüren ankern konnten ... Renaud d’Airelle musterte die Gebäude mit wachsender Ratlosigkeit, während er über den Landungssteg auf den Kai stieg, den seine Mitreisenden Molo genannt hatten, und an dem Schiffe aus aller Herren Länder lagen, um ihre Ladung zu löschen. Niemand hatte ihn vor der enormen Anzahl der Menschen gewarnt, die die Laguneninseln bevölkerten. Wie sollte er da einen einzelnen Mann ausfindig machen, von dem er nur die Augenpartie gesehen hatte?
Er wusste ja noch nicht einmal, ob sein Instinkt richtig gewesen war, der ihn nach Venedig geführt hatte. In Akkon die Spur des dreisten Diebes zu finden, war äußerst mühsam gewesen und hatte ihn mehr Zeit gekostet, als er gedacht hatte. Mehrere Schiffe waren am Tag nach dem Diebstahl ausgelaufen und hatten sich in alle Winde zerstreut. Er hatte schon geglaubt, sie eingestehen zu müssen, dass er zum zweiten Mal an seiner Aufgabe gescheitert war, als einer seiner Helfer die eingetrocknete Blutspur gefunden hatte. Sie hatte ihn zum Liegeplatz des gesuchten Bootes geführt. Ein kleines Geschenk an die einheimischen Fischer brachte ihm den Namen und eine Beschreibung. Das Boot war eine Nussschale und so wenig bemerkenswert, dass niemand seine Ausfahrt aus dem Hafen beobachtet hatte oder seinen Zielhafen zu benennen wusste. Richtung Griechenland gab es unzählige Inseln, die ein Versteck boten und D’Airelle hätte genauso gut Strohhalme ziehen können. Ein Bauchgefühl veranlasste ihn, zuerst nach Zypern zu segeln, und tatsächlich wurde er dort fündig. Von dort führte die Spur in schließlich nach Venedig. Und hier war er nun, ratloser als an jedem anderen Punkt seiner Suche.
Der Abbé hatte ihm geraten, mit aller Inbrunst zu beten, um sich himmlische Unterstützung zu sichern. D´Airelle erwartete nicht, dass Gott es ihm, dem ungetreuen Wächter, einfach machen würde, indem er ihm einen Stern als göttlichen Wegweiser sandte. Doch er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um seine Aufgabe zu erfüllen; er wollte zu den Heiligen beten, wie er noch nie gebetet hatte, wollte die Märtyrer und Patrone anflehen, ihm bei seinem Werk behilflich zu sein.
Er merkte, wie in seinen Handflächen der Schweiß ausbrach, als er mit klopfendem Herzen über den Platz vor dem Palast des Dogen schritt und der Basilika di San Marco ansichtig wurde. Die Basilika beherbergte die Gebeine des Evangelisten Markus: Eine machtvolle Reliquie, die seinen Fürbitten das gewünschte Gewicht verleihen würde.
Niemand hielt ihn auf, als er durch das imposante Portal schritt und in das golden schimmernde Zwielicht des Hauptschiffes eintauchte. Er suchte sich einen Platz vor dem Hauptaltar, fiel auf die Knie und versenkte sich ins Gebet.