Die Sonne hatte den Horizont schon verlassen und so langsam verschwamm der Blick in das abendliche Land. Der Feldweg in Richtung Sportheim war spärlich beleuchtet und man hatte das Gefühl von Lichtfleck zu Lichtfleck zu gehen, denn jede Lampe strahlte einen gleichmäßigen Kreis auf den geteerten Weg. Die laue Abendluft, das Gold der trockenen Wiesen und das Zirpen der Grillen im Feld schufen ein wunderschönes Sommerflair.
Fabian war auf dem Weg zu einer Party und er spürte den sanften Sommerwind an den Beinhaaren seiner Unterschenkel. Er liebte diese Sommerabende und die luftige Kleidung, aber gleichzeitig schämte er sich für seinen Körper, dessen Silhouette man in T-Shirt und kurzer Hose unschwer erkennen konnte. Seine Arme waren dünn, sein Kreuz schmal und seine Brust eingefallen. Zudem war seine Haut auch im Sommer stets blass, was ihn etwas kränklich aussehen ließ. Seine Beine waren im Vergleich zu seinem Oberkörper recht stämmig, was wohl daran liegen musste, dass Fabian früher einmal Fußball gespielt hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, damals, als er während der Spiele die meiste Zeit auf der Auswechselbank verbrachte und ab und an, wenn er dann mal eingewechselt wurde stets das Gefühl hatte, seiner Mannschaft das Spiel zu versauen. Er hatte großen Respekt vor den anderen, den größeren Jungs seiner ehemaligen Mannschaft, vor denen er sich regelrecht versteckte. Er versuchte immer, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn ihm einmal Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dann um ihn zu mobben, um ihn fertig zu machen. Da er immer wieder verspottet wurde, brannte in ihm die stete Angst, dass es ihn noch schlimmer treffen könne, sobald er eine weitere Schwachstelle zeigen würde. Diese abartigen Angstzustände versuchte er durch ein gewollt cooles Verhalten zu kaschieren, was ihn gegenüber anderen aber umso lächerlicher erschienen ließ.
Den Weg zum Sportheim, wo heute die Party steigen sollte, war er früher öfter gegangen, über die Sommersaison hatte nämliche seine Mannschaft auf dem Kunstrasenplatz neben dem Sportheim trainiert. Das Laufen durch die stille Landschaft machte ihn nachdenklich. Er erinnerte sich an seine Fußballzeit, an die immer fieser werdenden Pöbeleien der Anderen und an die furchtbaren Momente unter der Gemeinschaftsdusche. Momente, in denen er sich neben den anderen wie eine Missgeburt fühlte, wenn er an seinem eigenen Körper hinab sah. Er schwächlich und unterentwickelt neben den anderen und sein kleiner Penis ließ sein Selbstwertgefühl regelrecht in den Boden sinken. Zu dem Unwohlsein im eigenen Körper kamen auch noch die blöden Kommentare der anderen und die gemeinen Witze des Mannschaftskapitäns, über die sich dann die gesamte Mannschaft totlachte. An eine besonders schlimme Situation erinnerte sich Fabian noch gut: Einmal während dem Duschen, wurde er auf den Boden geschubst und so lange mit Schlägen und Tritten am Boden gehalten, bis der Trainer, der seine Schreie gehört hatte, kam, und die anderen von ihm wegzerrte. Diese Situation, in der sich alle über seinen beschämenden Körper lustig machten und ihm aus Spaß skrupellos weh taten, war eine der grausamsten Blößen die Fabian je erfahren hatte. Kurz später hatte er mit der Begründung, dass es ihm keinen Spaß mehr mache, mit dem Fußball aufgehört. Seine besorgte Mutter war nicht erfreut darüber, denn sie wusste, dass Fabian anders fast gar keinen Kontakt mehr zu Leuten seines Alters gehabt hätte, aber was hätte sie anderes tun sollen, als ihren Sohn abzumelden. In der Schule traf er daraufhin immer mal wieder auf die Leute aus seiner Mannschaft. Diese grüßten ihn höchstens mit einer fiesen Beleidigung, ansonsten ignorierten sie ihn. Sie verbrachten lieber ihre Pausen damit, sich an die geilsten Schlampen ranzumachen. Sie pfiffen lieber den in Leggings gepressten Ärschen nach, als mit dem Opfer Fabian Tischtennis zu spielen. Er war also die meiste Zeit allein, es sei denn Marie, ein Mädchen aus seinem Bezugskurs, sprach ihn an. Sie war die einzige mit der er hin und wieder etwas plauderte. Marie wusste wie sehr Fabian unter seiner Einsamkeit litt und da sie über eine wundervolle Empathie verfügte, öffnete sie manchmal ihr großes Herz für ihn, und schenkte ihm ein wenig Geselligkeit.
Marie war auch der Grund warum er am späten Abend noch zum Sportheim ging. Sie feierte nämlich eine lässige Sommerparty, nicht zuletzt, um ihr Image aufzubessern. Es war die erste Party seit langem, auf der Fabian eingeladen war. Die meisten Partys und all die anderen Dinge, die in jungen Jahren sonst noch Spaß machten, gingen an ihm vorbei. Fabian war sich dessen bewusst, aber immer wenn er versuchte Spaß zu haben, lachten sie anderen über ihn, anstatt mit ihm. Heute Abend wollte er seine Einsamkeit brechen und seine Opferrolle, die er Jahre lang gespielt hatte abschütteln. Dass er dies nicht ohne weiteres konnte, wusste er, denn jede Gruppe, jede Klasse brauchte ein Opfer, und dieses Opfer war er. Nur die ganz Großen, brauchten niemanden, um Gewalt abzulassen, denn sie waren sich ihrer Autorität bewusst, sie mussten sich nicht mehr behaupten. Diese Selbstsicherheit hatten aber nur die wenigsten in seinem Alter. Fabian wurde also meistens von jenen gemobbt, die sich selbst unsicher fühlten. Heute war er entschlossen, das Blatt zu wenden, er hatte nämlich lange genug den Sündenbock, den Boxsack gespielt. So dick seine Haut auch mittlerweile war, er ertrug es nicht mehr, Tag täglich den Frust und die Aggressionen der anderen auf sich einprasseln zu lassen. Vielleicht hatten die anderen auch gar nicht bemerkt, wie sehr sie ihm eigentlich weh taten?
Er versuchte seinen Kopf so aufrecht wie möglich zu halten und auch seine Schultern nicht so hängen zu lassen, wie er es sonst immer tat. Sein Blick war meistens nach unten gerichtet, denn er traute sich nicht wirklich aufzuschauen, so groß war seine Angst den anderen in die Augen zu schauen. Heute auf der Party wollte er sich nicht unterkriegen lassen und beweisen, dass er auch einen Stolz hatte. Er wollte etwas mit Marie anfangen, das hätte alle ins Staunen versetzt und seinen Ruf gewaltig verbessert. Sie war ganz hübsch und er kannte sogar jemanden, der auf sie stand. Fabian wurde von allen als übelster Looser angesehen, keiner konnte sich vorstellen, dass der Looser Fabian je ein Mädchen rumkriegen würde. Mädchen in seinem Alter wollen nämlich diese Alphatypen, die, deren Facebook-Profilbilder mindestens 200 Likes hatten und die die coolsten Storys erzählen konnten.
Fabian hatte kein Facebook und viel erlebt hatte er auch nicht. Er war uninteressant und hässlich noch obendrein. Er war nicht einmal gut in der Schule. Er war also Nichts. Nichts, was ihn hätte interessant oder sogar attraktiv machen können. Das ihm keiner etwas zutraute, außer sich zu blamieren, spornte Fabian an diesem Abend besonders an.
Schon viele Male hatte Fabian über sich selbst nachgedacht und immer endete das Ganze in abgrundtiefem Selbsthass. Er hasste sich und seinen Körper und konnte nicht verstehen warum ausgerechnet er bei seiner Schöpfung von Gott so bestraft worden war. Schon öfters hatte daran gedacht wie es wäre, nicht mehr zu sein. Wer würde ihn vermissen? Einmal, da hatte er sogar sein Butterflymesser schon an seinen Pulsschlagadern angesetzt, aber sich umbringen, das konnte er nicht, dafür war er zu schwach.
Fabian ging immer noch den Feldweg entlang und war mittlerweile in Erinnerungen versunken, bis er plötzlich das Sprechen mehrerer Leute hörte. Es war eine Gruppe Raucher, die vor der Tür des Sportheims stand. Marie hatte ihnen bestimmt verboten, drinnen zu rauchen, sie hasste nämlich den Qualm und den Geruch der Kippen. Die Raucher standen da, plauderten und tippten andauernd mit ihren Zeigefingern auf den Zigarettenstummeln herum, solange, bis etwas Asche abfiel, dann rauchten sie weiter. Fabian kannte sie alle, sie waren in seiner Stufe.
Es waren noch ungefähr hundert Meter bis zur Alu-Tür des Sportheims, ihm war schon ein bisschen mulmig und er hatte Angst einer der Raucher würde ihm gegenüber einen dummen Spruch lassen oder ihn auf irgendeine andere Art schikanieren. Zum Glück sahen sie ihn noch nicht, denn ein paar Obstbäume engten das Blickfeld ein. Der Weg ging noch ein wenig bergauf und machte dann eine kleine Kurve. Solange ihn die Raucher noch nicht bemerkt hatten beobachtete Fabian ihre Gesten, ihr Verhalten und lauschte den stumpfen Dialogen, die er, umso näher er kam, immer besser verstehen konnte. Sie tratschten über andere, über die neuesten Affären und wer in der letzten Zeit mit wem etwas hatte. Fabian wünschte sich, er hätte wenigstens einmal in seinem Leben was mit einem Mädchen gehabt und gab die Hoffnung nicht auf, dass heute Abend sein Wunsch in Erfüllung gehen könnte. Er war jetzt nur noch wenige Meter vom Sportheim entfernt, sein Blick war wieder nach unten gerichtet, so konnte es immerhin nicht passieren, dass die anderen sich dumm angeguckt fühlten. Die Raucher beachteten ihn gar nicht, was für ihn eine ungeheure Erleichterung war. Er öffnete die Tür und ging rein und kurz bevor er die Tür wieder schließen wollte hörte er doch noch eine Bemerkung der Raucher.
(Eine dickliche Raucherin): Wie, die hat das Opfer da auch eingeladen?
Die ganze Gruppe lachte über diese Frage. Solche Kommentare kränkten Fabian schon gar nicht mehr wirklich, da war er viel Schlimmeres gewohnt.
Mit dem Schließen der Tür verstummten auch die Stimmen der Raucher hinter sich. Und anstelle der Raucher hörte er den dumpfen, aber dennoch starken Bass einer Anlage, die so übersteuert war, dass ihm die Ohren schon jetzt weh taten. Im Flur des Sportheims war keiner, nur ein paar Jacken hingen da. Als er die Tür der Kabine sah, kamen so viele Erinnerungen wieder hoch, dass er seinen Blick schleunigst wieder abwandte und den Kopf schüttelte. Die Vergangenheit sollte hinter ihm bleiben, ein Neustart, das war es Fabian wollte.
An der Garderobe war noch Patz, aber er selbst hatte keine Jacke an, sondern ein mittlerweile unmodernes T-Shirt, das ihm Marie vor zwei, drei Jahren einmal geschenkt hatte. Es passte ihm noch immer, denn viel war er seitdem nicht mehr gewachsen, weder in die Höhe, noch in die Breite und auch seine Arme füllten die Ärmel genauso wenig aus wie damals. Vielleicht würde er mit dem T-Shirt bei Marie gut ankommen, sie hatte es schließlich ausgesucht. Fabian öffnete die Tür zum Vereinsraum und suchte mit seinen Augen den Raum ab. Als er die ganzen Leute sah verschwand seine Selbstsicherheit genauso schnell wie sie sich zuvor aufgebäumt hatte. Er wollte zuerst zu Marie, denn sie war die einzige Person, bei der er sich sicher sein konnte, nicht dumm angemacht zu werden. Außerdem wollte er fragen, wo er seine Schlafsachen abstellen konnte, es sollte nämlich eine Übernachtungsparty werden. Das erste Mal für Fabian, dass er woanders als zu Hause oder bei seiner Oma übernachtete, weshalb er sehr, sehr aufgeregt war. Es waren noch nicht allzu viele Leute da, (die Coolen kommen ja erst später), darum fand er Marie recht schnell und ging vorsichtig auf sie zu. Sie sah ihn und lächelte ihn einladend an, denn sie hatte ihm angemerkt, dass er noch verunsicherter war als sonst. Als er merkte, dass er bei Marie willkommen war, beschleunigte sich sein Gang und Fabian wurde etwas entspannter. Auch Marie ging nun ein Stück auf ihn zu und wollte ihn sogar umarmen.
(Marie): Hey Fabian, alles klar bei dir?
Im selben Moment, als sie begrüßte, fiel ihr auf, dass Fabian „ihr“ T-Shirt anhatte. Sie musste schmunzeln und sagte mit einer gewissen Selbstironie,
(Marie): schönes T-Shirt hast du da an!
Fabian fühlte sich sofort wohler und musste leise über Maries Bemerkung lachen. Seine Sachen sollte er in ein Nebenzimmer abstellen, wo neben einigen Bierkästen bereits ein paar Schlafsäcke und Isomatten herumlagen. Zuvorkommend, wie Marie war, hatte sie Fabian schon ein Bier aufgemacht und ihm gleich darauf in die Hand gedrückt. Er mochte Bier nicht sonderlich gerne, wollte allerdings ein wenig den Mann spielen und griff grobmotorisch nach dem Bier. Wenn ihm das Bier zu sehr widerstand, schüttete er es in einem unbemerkten Moment aus, sodass nur noch ein Schluck in der Flasche zurückblieb und es so aussah, als hätte er am schnellsten sein Bier getrunken. Wenn er dann die fünfte Flasche austrank konnte er den anderen auch vorhalten, wie viel Alkohol er eigentlich vertrug. Nun hielt er aber vorerst seine erste Flasche Bier in der Hand und stieß mit Marie an, die irgendein Mädchen-Mischgetränk in der Hand hielt.
(Fabian): Auf deine Party!
sagte er und ihr Zuprosten erzeugte ein zärtliches Klirren. Daraufhin tranken sie beide einen großen Schluck, und Fabian nutzte diesen kurzen Moment um Marie abzumustern. Sie hatte ein schwarzes Top an und durch den weiten Ausschnitt konnte sich Fabian ihre spitzen Brüste bestens vorstellen, was er auf der einen Seite geil fand, ihn auf der anderen Seite aber etwas traurig stimmte, denn noch nie hatte er ein Mädchen nackt gesehen, noch nicht einmal Brüste. Er starrte nun schon längere Zeit in den Ausschnitt und bemerkte gar nicht, dass Marie ihr Glas schon längst abgesetzt hatte. Sie bemerkte seine Blicke sofort und gab ihm eine ganz sanfte Ohrfeige, nur so zum Spaß.
(Marie): Du bist schon mal kein Gentleman!
sagte sie mit witzigem Unterton, denn eigentlich fühlte sie sich geschmeichelt. Sie war stolz auf ihren Körper, sie hatte eine tolle Figur und die Blicke der Jungs waren für sie immer eine Art Bestätigung, eine Bestätigung dafür, dass sie attraktiv war. Nun sah auch sie an Fabian herunter. Sie sah seine weiße, pickelige Haut und seine dunkel behaarten Beine. Sein V-Ausschnitt war äußerst unvorteilhaft und zeigte eindeutig zu viel seines schmächtigen Oberkörpers. Fabian war nicht eklig, aber eben unattraktiv, äußerlich zumindest. Marie blickte ihm also lieber in die Augen, denn diese waren eigentlich ganz hübsch, groß und grün-braun. Sie sah in seinen Augen sein Leiden, sie sah einen traurigen, entblößten Jungen, der jeglichen Stolz abgelegt hatte und schon viele Qualen erleiden musste. Marie konnte ihm das erste Mal in die Augen sehen, sonst hatte Fabian immer weggeschaut, er sah nämlich generell weg. Manchmal wirkte er deswegen teilnahmslos, uninteressiert, das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass die Lehrer dachten, er sei im Unterricht mit seinen Gedanken woanders. Fabian konnte aber fast niemandem in die Augen sehen, er fühlte sich dann immer so gedemütigt, aus welchem Grund auch immer. Es war das erste Mal seit Langem, dass er jemand so tief und lang in die Augen sah wie Marie in diesem Moment. Einige Sekunden lang sahen sie sich an, dann blickten sie wieder weg. Beide sahen sich im Partyraum um, wo man bereits auf sie aufmerksam geworden war. Manche Partygäste mussten wohl schon über sie gesprochen haben, denn eine Tussi, die nicht einmal 1,50 groß war, hatte mit dem Finger auf die beiden gezeigt und gleichzeitig etwas ihrer Busenfreundin zugeflüstert. Diese Fingerzeige kannte Fabian bestens, aber trotzdem wurde er jedes Mal aufs Neue peinlich von ihnen berührt. Es war jedes Mal wie eine Blöße, jeder Fingerzeig zeigte auf seine Hässlichkeit und auf seine Schwächen. Marie hatte das Getuschel der beiden auch bemerkt, sie ließ sich aber nicht beirren. Über Lala, so hieß die Tussi, konnte sie manchmal nur lachen. Eigentlich waren die beiden ganz gut befreundet, aber manchmal hasste Marie sie, vor allem wenn sie ihr Lästermaul zu weit aufriss. Sie wendete sich wieder Fabian zu und fragte, ob sie denn nicht mal zu den anderen gehen wollten. Fabian hasste die anderen aber er sagte einfach „na klar“ und ging sogar vor. Heute wollte er ja seine Opferrolle ablegen und endlich mal von seiner Klassengemeinschaft anerkannt werden. Sie beide gingen zu Lala, die noch mit einem anderen Mädchen da stand. Es sah so aus, als hätten sie sich vorher abgesprochen, was sie anziehen, denn beide trugen ein bauchfreies T-Shirt und eine Leggings, die für ihre dicken Beine viel zu eng war.