Alturins Reise
Am nächsten Morgen stand Mikkel bereits auf dem Balkon als Alturin erwachte und schaute herunter auf das Treiben in der Stadt. Alturin hob leicht den Kopf und betrachtete Mikkel. Er sah aus wie ein Zehnjähriger. Die langen blonden Haare fielen über seine Schulter und er hatte schon ein stattliches und recht breites Kreuz für einen Zehnjährigen. Ach nein, er war ja erst Drei! Ein normal gewachsener Dreijähriger hätte nicht einmal über die Brüstung schauen können, ohne einen Hocker zur Hilfe zu nehmen. Es war erstaunlich. Hatora hatte gestern für ihn neue Kleidung bringen lassen und Mikkel hatte sich für eine graue Stoffhose und ein weisses Hemd entschieden. Am meisten hatte sich Mikkel aber über den schönen Gürtel gefreut, der durch die Hosenschlaufen gezogen war. Die kunstvoll gefertigte silberne Schnalle stellte eine Szene dar, in der eine Frau einen Eichensetzling pflanzte.
Alturin richtete sich auf. "Guten Morgen. Schon so früh auf den Beinen, junger Lichtmagier?" Mikkel fuhr herum und strahlte Alturin an. "Ja, ich bin so aufgeregt. Wann gehen wir die Stadt ansehen? Ach und guten Morgen Alturin." Er strich sich das Haar aus dem Gesicht. "Geduld mein Lieber. Zuerst wird gefrühstückt und dann sehen wir weiter." Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg durch die Stadt. Alturin zeigte dem jungen Mikkel alles Sehenswerte und alle wichtigen Orte in der Kristallstadt und am frühen Nachmittag gingen sie zurück in Richtung ihres Quartiers. Hatora erwartete ihn und Mikkel bereits vor der Glasburg. "Ich habe noch etwas für Dich junger Mikkel, dass ich Dir gerne zeigen möchte." Mit einer einladenden Handbewegung forderte sie ihn und Alturin auf, ihr zu folgen. Über mehrere Treppen gelangten sie in die unteren Kellergewölbe. Eine schwere Eichentüre stoppte ihren Weitergang. Hatora fasste in die Tasche ihres Umhanges und holte einen Schlüssel hervor. Er schien aus Kristall zu sein. Was wohl hinter dieser Türe sein mochte, überlegte Mikkel. Dann führte Hatora den Kristallschlüssel ins Schloss. Der Schlüssel begann zu leuchten und ohne ihn zu drehen oder eine Klinke zu drücken, schwang die schwere Eichentür auf und gab den Blick in das Innere frei.
Mikkels Unterkiefer klappte nach unten. Langsam schritten alle nach vorne und betraten den Raum. Kein einziges Licht, keine Kerze und keine Fackel waren in dem Raum und trotzdem leuchtete es hell. Der Raum war angefüllt mit Kristallen. Hatora ging in die Mitte des Raumes, hob ihre Hände und drehte sich einmal um sich selbst. "Dies mein lieber Mikkel ist die Kristallschatzkammer unserer Stadt. Es gibt einige Menschen, die alles dafür geben würden, diese Schätze ihr Eigen nennen zu können. Mögen sie immer in den richtigen Händen liegen, die als Erstes das Wohl der Menschen im Auge haben. Und nun Mikkel, gehe durch die Reihen. Schliesse Deine Augen. Dann bleibe vor genau dem Kristall stehen, der Dich am meisten anspricht. Dann öffne Deine Augen und zeige uns, welcher es ist. Mikkel war sehr egriffen von der Schönheit des Raumes und der Kristalle. Wortlos tat er, wie Hatora ihm gesagt hatte. Er ging durch die Reihen, schloss seine Augen und fühlte. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen. Er drehte sich nach links, öffnete seine Augen und ergriff einen kleinen Kristall.
Mikkel drehte sich zu Hatora und Alturin um und sah, dass Hatora Tränen über die Wangen liefen. "Warum weinst Du, Hatora?," fragte er. Hatora ging auf Mikkel zu und strich ihm über den Kopf. "Ich hatte gehofft, dass Du einen anderen Kristall ergreifen würdest, Mikkel. Jeder der Auserwählten die hier wählen dürfen, wählt mit dem Kristall auch den weiteren Weg seines Lebens aus. Du hast Dir einen Kristall ausgesucht, der einst von einem Mann des vierten Zeitalters ausgesucht und getragen wurde. Sein Name war Usha.... Der Kristall trägt den Namen "Lic-Tac", was soviel bedeutet wie Leben oder Tod." "Und warum weinst Du nun, Hatora," fragte Mikkel abermals. "Weil er keinen schönen Tod fand. Aber dies ist eine alte Geschichte und wir wollen sie nun nicht weiter ausschmücken. Gib mir den Kristall Mikkel. Ich werde ihn für Dich umarbeiten lassen und wenn nun Deine Ausbildung beginnt, wirst Du ihn ab diesem Tage tragen. Und nun lasst uns gehen."
Sie verliessen das Gewölbe und begaben sich in die obere Etage der Glasburg zurück. Hatora bat Alturin zu sich und stellte Mikkel eine junge Dame zur Seite, die ihn hier herumführte. Sie schloss die Türe des Zimmers hinter sich und wandte sich Alturin zu. "Er hat nicht den leichtesten Weg gewählt. Ich muss Dich um Deine Hilfe bitten, lieber Freund. Reite zurück in Mikkels Dorf und höre Dich um, womit sich seine Eltern zuletzt beschäftigt haben. Frage die Ältesten und die Dorfbewohner. Bringe alles in Erfahrung und berichte es mir. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Und Alturin....... breche bitte sofort auf. Etwas tut sich im Osten und ich möchte nicht, dass uns irgendwann die Zeit knapp wird. Wenn Du zurück bist, weihe ich Dich ein und wir beraten uns. Stelle jetzt bitte keine Fragen." Alturins Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck bekommen. Er stand auf, deutete eine Verbeugung vor Hatora an und wandte sich zur Tür. "Ich verabschiede mich nur noch von Mikkel und breche dann sofort auf. Lebe wohl Hatora." "Lebe wohl Alturin und.......gib Acht auf Dich und halte Deine Sinne scharf."
Alturin sprach kurz mit Mikkel und erklärte ihm, dass er dringend etwas erledigen müsste. Hatora würde sich seiner annehmen und sie würden sich bald wieder sehen. Er liess einen überraschten Jungen zurück, der seinem gerade neu gewonnenem väterlichen Freund traurig hinterher sah. Rasch ging Alturin auf ihr Zimmer, packte seine Sachen und fünf Minuten später passierte er das Tor der Kristallstadt. Kurz darauf vernahm er ein leises Rauschen neben sich und sah Undra an sich vorbeischweben. Er durchquerte die Flussmündung und ritt an der Küste entlang, den Weg, den sie gekommen waren. Es war schon sehr dunkel, als er das erste Lager aufschlug. Undra flog ein paar Runden und landete kurz darauf auf einem tief hängenden Buchenast. Ihr Kopf bewegte sich hoch und runter und somit war die Luft rein. Sie sprachen kein Wort an diesem Abend und Alturin legte sich schnell schlafen.
Zwei Tage später erreichten Alturin und Undra die Lichtung. Aufmerksam suchten sie alles ab, doch fanden sie nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Sie setzten ihren Weg fort und erreichten bald das Dorf, in dem Mikkel mit seinen Eltern wohnte. Alturin hielt direkt auf das Haus des Dorfältesten zu, den er schon länger kannte. Er band sein Pferd an, ging die Stufe hoch und klopfte an die Tür. Der Dorfälteste selbst öffnete die Tür und blickte ihn überrascht an. "Alturin!", welche Freude!" Er bat Alturin freundlich herein.
Bei einer Tasse Tee sassen sie an einem kleinen Tisch in der gemütlich eingerichteten Wohnstube. "Wir kennen uns nun schon so lange Andana und ich will nicht lange um den heissen Brei herum reden. Ich komme zu Dir, weil ich Dir vertraue. Hatora schickt mich um heraus zu finden, was auf der Lichtung geschehen ist. Sie macht sich grosse Sorgen, dass hier etwas Schlimmes im Gange ist, dass wir uns aber noch nicht erklären können. Ich muss wissen, womit sich Joohn und Eira beschäftigt haben und was genau sie auf der Lichtung für ein Ritual abhalten wollten. Ausserdem möchte ich mich in ihrem Haus umsehen dürfen, um zu schauen ob dort etwas Ungewöhnliches ist." "Dies sei Dir natürlich gewährt Alturin," antwortete der Dorfälteste. Andana sah sehr nachdenklich aus. Seine feingliedrigen Finger spielten mit dem Teebecher. Als er ihn anhob, um einen Schluck zu trinken, bemerkte Alturin das leichte Zittern seiner Hand. Er sah ihn an. Andanas schulterlanges weisses Haar fiel weich über seine Schultern. Er hatte ein schmales Gesicht und eine hohe Denkerstirn. Seit über 100 Jahren war er der Dorfälteste und sein weiser Rat wurde gern gehört - und auch meist angenommen. Alturin hatte sich immer schon in seiner Gesellschaft sehr wohl gefühlt. Er war ein sehr feinsinniger Mensch, der mehr mitbekam, als die meisten seiner Mitmenschen.
"Eira hat sich immer gut mit meiner Frau Shaila verstanden und sie gingen oft gemeinsam in den Wald, um verschiedene Kräuter zu sammeln. Shaila berichtete mir, dass Eira an einer Krautmixtur gearbeitet hat, welche die Hellsicht und Vorausschau fördern und stärken sollte. Sie wollte so den Menschen ermöglichen, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken und so versuchen, den Menschen ihr Leben etwas zu erleichtern. Joohn hatte zuerst bemerkt, dass das Licht der alten Knorreiche etwas verblasst war und er wollte deshalb sofort etwas unternehmen, deshalb sind sie zur Lichtung gegangen.......und nun sind sie einfach nicht mehr da. Der arme Mikkel - ich hoffe, es geht ihm gut."
"Der Verlust seiner Eltern ist natürlich ein heftiger Schlag für ihn gewesen," antwortete Alturin, "aber sei ohne Sorge, Hatora hat ihn bei sich aufgenommen. Er wird eine vorzügliche Ausbildung erhalten." "Das ist gut zu wissen, es wird schwer genug für ihn werden," meinte Andana. Er fragte Alturin, ob er diese Nacht sein Gast sein und in einem vernünftigen Bett schlafen wollte. Die Aussicht auf ein weiches Bett gefiel Alturin gut und er willigte gerne ein. Am nächsten Morgen wollte er zum Nachbardorf weiter reiten. Anzum war einen guten Tagesritt entfernt und er würde durch die Ebene von Julgat reiten. Es würde ein angenehmer Ritt werden.
So hatte er es jedenfalls geplant.....