Trotz des Zwielichtes bewegte sich Gandar lautlos vorwärts. Er brauchte nicht lange, um die Ursache des Geräusches zu finden, das ihn beunruhigt hatte. Es war tatsächlich das Schnauben eines Pferdes gewesen. Das kostbar aufgezäumte Tier war im Unterholz angebunden, sodass es von der Straße aus nicht zu sehen war. Was ging hier vor? War er etwa unversehens auf etwas gestoßen, das mit dem Verräter zu tun hatte? Gandar huschte vorwärts. Irgendwo, ein Stück weiter vorne erklangen Stimmen.
Vorsichtig pirschte er sich näher heran und spähte zwischen den Zweigen hindurch. Er sah einen ritterlich gekleideten Mann, der eine Frau in den Armen hielt und sie küsste. Eine Bauerndirne, der Kleidung nach. Nun, das schien harmlos genug. Damit hatte er nichts zu schaffen. Gandar wollte sich schon leise wieder zurückziehen, als zwei Dinge zugleich geschahen. Die Frau löste sich aus den Armen des Ritters, trat zurück und stand einige Herzschläge lang im blassen Frühlicht. Es fiel in schmalen Bahnen durch das Laub und ließ das Haar der Frau wie Flammen auflodern.
Gwenfrewi von Brenneberg!
Gandar verharrte reglos und versuchte zu ergründen, was er bei diesem Anblick empfand. Es war nicht so leicht einzuordnen. Diese Frau geht mich nichts an, dachte er. Die Sache dürfte mich daher gar nicht berühren. Aber so war es nicht. Vielmehr fühlte er sich plötzlich müde und elend bis ins Mark.
Der Ritter wandte sich um und Gandar erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Seltsam. Er hätte schwören können, dass er den Mann schon einmal gesehen hatte, ohne dass ihm der Anlass einfallen wollte. War er diesem Kerl bei Hofe begegnet? Darüber musste er nachdenken.
Gwenfrewi lehnte zitternd an einem Baumstamm und wartete ungeduldig, bis Wolfram vollständig aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war. Ganz gewiss war dies das letzte Geheimtreffen, das sie auf sich nehmen würde. Mochte ihre Mutter sich auch im Grabe herumdrehen. Sie war für diesen Unsinn nicht geeignet. Eilig strebte sie dem Waldrand zu. Noch immer schlug ihr das Herz heftig in ihrer Brust. Jeder Laut, jede Bewegung schreckte sie: der Wind in den Gräsern. Der Schrei eines Eichelhähers. Sie befreite den Saum ihres Rockes aus den Brombeeren und steckte ihn sich hinter den Gürtel. Sie wagte sich nicht aus dem Dickicht heraus.
Hinter tief hängenden Buchenzweigen zeigte sich die helle Erde des Feldwegs. Die Morgensonne tupfte Lichtflecke ins Gras und steigerte Gwenfrewis Unbehagen. Sie blickte sich suchend um und entdeckte einen Wildwechsel. Er sah so aus, als verliefe er in die richtige Richtung. Sie ging darauf zu. Zwischen den Bäumen blitzte etwas auf. Eine Waffe? Gwen blieb stehen. Schloss ihre Hand um den Griff ihres Messers und verbarg es in den Falten ihres Rockes. Das Blitzen wiederholte sich. Vor ihr war jemand, der eine Rüstung trug. Himmel! Nahmen ihre Schwierigkeiten mit Männern in dieser Nacht denn gar kein Ende?
Angestrengt blinzelte sie gegen das Licht, um zu erkennen, wer die große Gestalt im glänzenden Kettenhemd war, die ihr den Pfad versperrte.
»Ein anständiges Mädchen sollte um diese Zeit nicht hier draußen sein«, sagte der Mann. Seine Stimme war tief, mit einem leichten Akzent und sie erkannte daran den Gesandten des Kaisers. Ein Gefühl der Erleichterung durchlief sie. Gewiss würde er sie sicher zur Burg begleiten, wenn sie ihn darum bat. Andererseits war seine Anwesenheit höchst merkwürdig. Wenn er nun doch ihr erwarteter Verbindungsmann war? Vielleicht hatte er sich nicht zu erkennen gegeben, um sie zu prüfen. Was, wenn er ihr Treffen mit Wolfram beobachtet hatte und nun vollkommen falsche Schlüsse zog?
»Wie lange steht Ihr schon hier?«, fragte sie alarmiert.
»Lange genug, um meine gute Meinung von Euch gründlich zu revidieren.«
Jesus. Er hatte sie tatsächlich beobachtet! Nun war genau der Fall eingetreten, den sie unbedingt hatte vermeiden wollen. Gewiss würde er in der königlichen Kanzlei melden, wie ungeeignet sie für ihre Aufgabe war. Denk nach, Gwen! Lenk ihn ab! Tische ihm irgendeine Geschichte auf!
»Tja, damit habt Ihr nicht gerechnet, dass ich für bisschen Spaß mit Männern zu haben bin, hm?« Sie trat mit schwingenden Hüften auf ihn zu. »Wollt Ihr eine Kostprobe? Ihr dürft mir sogar unter den Rock fassen, wenn Ihr im Gegenzug schwört über unser kleines Stelldichein zu schweigen.«
»Ich verzichte«, sagte er brüsk. »Für euersgleichen hatte ich noch nie viel übrig.«
»Was seid Ihr doch für ein Langweiler«, gab sie spöttisch zurück. »Nun, dann möchte sich vielleicht Euer Freund ein wenig amüsieren? Gareth, nicht wahr? Wo habt Ihr ihn denn gelassen?«
Sein Gesichtsausdruck wirkte regelrecht schockiert. Und gleichzeitig ...
Oh, oh. Lauf! Gwen wirbelte herum und rannte in den Wald zurück. Aber es war hoffnungslos, einem geübten Kämpfer wie Rodéna zu entfliehen. Er sprintete ihr nach, holte sie ein und trieb sie in einen Kreis eng beieinanderstehender Bäume. Bevor sie es recht begriff, saß sie in der Falle.
Sie wirbelte zu ihm herum. »Ach, nun habt Ihr es Euch wohl doch anders überlegt?«, stieß sie hervor. »Tja, zu spät, mein Lieber. Ihr hattet Eure Gelegenheit. Jetzt lasst mich in Ruhe.«
»Nicht bevor Ihr mir ein paar Fragen beantwortet habt.«
»Ihr habt kein Recht, mich hier festzuhalten.« Sie hörte die leichte Atemlosigkeit in ihrer Stimme, aber sie bezweifelte, dass es ihm aufgefallen war. Eine gefährliche Anziehungskraft ging von ihm aus, die sie gleichzeitig aufregte und alarmierte. Ihre Finger schlossen sich fester um den Griff ihres Messers und drückten es tief in die Falten ihres Rockes. »Geht mir aus dem Weg!«
Sein Blick wanderte über ihren Körper, als müsse er sich erst noch entschließen. Er schlenderte näher, wie ein geschmeidiges, schläfriges Raubtier und sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Dabei stieß sie mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Sein Mund war plötzlich auf einer Höhe mit ihren Augen, eine höchst beunruhigende Tatsache auf diese kurze Entfernung. Er griff nach der Lederschnur, die ihren Umhang zusammenhielt. Seine Finger schlossen den Halsausschnitt und drehten ihn immer enger, bis er fest unter ihrem Kinn zusammengedreht war.
Sie beobachtete ihn wachsam, ein wenig unsicher. Im Moment zumindest schien er damit zufrieden, sie festzuhalten. Mehr durfte sie auf keinen Fall zulassen. Vor allem nicht, dass er ihr Fragen stellte. Nur Mut, Gwen!
Sie neigte sich ihm entgegen, bis ihr Mund den seinen beinahe berührte, und schloss die Augen. Gleich würde er sie küssen.
Doch nichts geschah.
Sie glitt mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Wie viel Einladung brauchte der Kerl denn noch?
Sie drängte sich noch näher. Er roch ... sauber. Ein wenig nach Pferd und Leder, aber über allem lag ein feiner, exotischer Duft, so als sei er gerade aus dem Lager eines Gewürzhändlers gekommen. Der Duft stieg ihr zu Kopf und hinterließ ein nicht enden wollendes Kribbeln in ihrem Körper. Ihr Blick wanderte langsam an seinem Gesicht hoch - bis er sein unwiderstehliches Ziel erreicht hatte. Da waren sie wieder - diese seegrünen Augen, die alle Kraft aus ihren Gliedern zu saugen schienen. Die Augen eines Magiers, schoss es ihr durch den Kopf. So dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Und auf seltsame Weise gequält. Dergleichen hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber es war da, lauerte hinter dem Vorhang. Und es war gefährlich.
Nun komm schon, Gwen. Reiß dich von ihm los.
Aber sie konnte sich einfach nicht abwenden, war gefangen, sah ihn unverwandt an.
Er hielt sich vollkommen reglos. Nur sein Atem ging ein wenig schneller und verriet ihr, dass er nicht ganz so ungerührt war, wie er sich den Anschein gab. Sie berührte mit ihren Lippen seinen Mund, strich darüber, verweilte einen Herzschlag lang in seinem Mundwinkel und kehrte zum Ausgangspunkt zurück. Die sanfte Reibung war unbeschreiblich erregend und Gwen unterdrückte nur mit Mühe einen träumerischen Seufzer. Sie hätte ihm gerne die Hand auf die Brust gelegt, um zu prüfen, ob sein Herz genauso heftig pochte wie ihres. Doch sein Griff an ihrem Umhang hatte sich nicht einmal für den Bruchteil eines Herzschlags gelockert. Im Gegenteil. Mit einer knappen Bewegung schuf er genügend Distanz zwischen ihnen, sodass sie seinen Mund nicht mehr erreichen konnte.
Warum reagiert dieser Rodéna nicht wie andere Männer?
»Wer war der Mann, mit dem ihr Euch getroffen habt?«, fragte er streng. »Welche Geheimnisse habt Ihr ihm verraten?«
Ihr Gefühl des Wohlbehagens zersplitterte wie schlecht gebrannter Ton. Gwen war sprachlos.
»Antwortet mir!«
»Ich pflege die Namen meiner Liebhaber nicht preiszugeben«, beschied sie ihm. »Und für Euch mache ich bestimmt keine Ausnahme.«
»Oh doch, das werdet Ihr. Denn der Mann war alles andere als Euer Liebhaber. Ihr habt keine Ahnung vom Küssen.«
»Ach ja? Da habe ich von meinen Männern aber etwas anderes gehört.«
»Dann sind es anspruchslose Dummköpfe, alle miteinander.«
»Oh«, machte sie. »Und Ihr könnt das beurteilen, weil ...?«
»Sagen wir, ich hatte ausreichend Übung«, knurrte er.
Sie lachte ihn aus. »Eure mangelnde Begeisterung ließ aber auf etwas anderes schließen. Hat Euch noch niemand gesagt, dass man ein bisschen mehr Temperament aufbringen muss, um ein Mädchen zu beflügeln?«
»Jetzt reicht´s aber.« Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, nicht grob, aber auch nicht so ganz zärtlich, und presste seine Lippen auf ihre. Vollkommen. Sanft. Er drückte sie an sich und hielt sie so fest, dass sie nicht wegkonnte. Nicht, dass sie sich gegen ihn gewehrt hätte.
Im Gegenteil.
Sie wollte, dass er bei diesem Kuss ordentlich ins Schwitzen kam. Ja, genau. Deshalb hatte sie sich an ihn gedrückt und erwiderte den Kuss, als hinge ihr Leben davon ab. Deshalb öffneten sich ihre Lippen aus einem eigenen Willen heraus unter seiner drängenden Zunge.
Nur wenige Augenblicke später wusste sie nicht mehr, was sie gerade gedacht hatte. Nie zuvor hatte ein Mann sie geküsst – zumindest nicht auf diese Weise -, und sie hätte sich nie träumen lassen, dass es ein derart erschütterndes Erlebnis sein würde.
Seine Finger vergruben sich in ihrem Haar, starke Daumen massierten ihre Kopfhaut und sie erschauerte voller Wohlgefühl.
Ganz langsam schlossen sich seine Zähne um die Haut in ihrem Nacken. Gefangen zwischen der zärtlichen Berührungen seiner Hände und seines Mundes, fing Gwen an zu zittern. Ihr Körper antwortete in weichen Bewegungen, sodass der erregende Druck seiner Hände sich verstärkte.
Sie wünschte, sie hätte ihn auch streicheln können, ohne dem köstlich sinnlichen Spiel durch ihre Unerfahrenheit ein schnelles Ende zu bereiten. Die Härte seines Körpers war zu einer unwiderstehlichen Verlockung geworden, und seine Kraft erregte sie jetzt mehr, als dass sie sie einschüchterte.
Gott, wie köstlich sie schmeckt, dachte Gandar. Er hatte bis zu diesem Augenblick nicht geahnt, wie gut ihm diese Küsse gefallen würden – oder wie sehr er sich tatsächlich danach gesehnt hatte, diesen Mund zu besitzen. Ihre Lippen waren weich und zitterten unter seinen, und er spürte, wie die Lust seine Lenden durchströmte. Als könnten seine Händeflächen sie schmecken, wenn er nur ganz langsam und ganz sanft vorging, streichelte er sie von den Schultern bis zu den Hüften. Er wiederholte die zärtliche Bewegung, doch diesmal über die Vorderseite ihres Körpers, wobei er der Linie ihrer Brüste und ihrer Taille folgte. Der Druck seiner Hände bewegte sich nach hinten, bis nichts mehr zwischen ihnen lag außer der störenden Schicht ihrer Kleider.
Gleichzeitig mit der Lust überkam ihn jedoch die ungebetene und erschreckende Erkenntnis, dass er mehr von ihr wollte als kurze leidenschaftliche Küsse oder eine hastige Vereinigung auf dem Waldboden. Diàvulu, dachte er. Bin ich tatsächlich gerade dabei mir vorzustellen, wie es sein würde sie als - Ehefrau zu haben? Eine - verlogene Spionin? Von der ich nicht einmal weiß, ob sie mich nicht ebenso kaltblütig verraten würde? Gott, was für Gedanken hatte er da!
Er schob sie von sich. Derb. Und sie wich erschrocken zurück.
Alles umsonst. Dieser Gedanke durchzuckte Gwenfrewi, gemeinsam mit der Erkenntnis, dass sich der Mann vor ihren Augen binnen eines Herzschlages völlig verändert hatte. In den Mann, dem die Sänger den Beinamen der Löwe von Rodéna gegeben hatten. Zum Teufel mit ihm!
Blitzschnell schob sie ihre Hand durch den Reitschlitz seines Kettenhemdes und drückte ihm die Spitze ihres Messers zwischen die Beine. Er erstarrte.
»Bewegt Euch besser nicht«, empfahl sie ihm spöttisch. »Das Messer ist vergiftet. Ein Ritz in Eurer Haut genügt, um einen Ochsen wie Euch zu fällen.«
Sie konnte den Zorn förmlich spüren, der sie aus seinen Augen ansprang. Aber er rührte sich nicht.
»Jetzt lasst mich los. Und dann verschränkt Ihr schön brav die Hände im Nacken.«
Auch dieser Aufforderung kam er ohne Zögern nach, doch Gwen spürte, dass er jetzt gefährlicher war, als in dem Augenblick, in dem er sie verfolgt hatte. Sie machte eine knappe Bewegung mit dem Kinn nach rechts und bedeutete ihm, mit ihr den Platz zu tauschen. Mit schlurfenden Schritten bewegten sie sich in einem Halbkreis, bis er mit dem Rücken am Baum stand.
Doch dann wusste Gwen nicht mehr weiter. Für den Moment hatte sie zwar die Oberhand, aber das würde nicht ewig anhalten.
Was sollte sie jetzt tun?
Er musterte sie spöttisch. »Tja, jetzt habt Ihr mich. Dumm nur, dass es Euch rein gar nichts nützt. Ich brauche nur zu warten, bis meine Männer mich suchen kommen. Wohingegen Euch kaum daran gelegen sein kann, dass man Euer Fehlen bemerkt, nicht wahr? Also, was nun?«
Gwenfrewi antwortete nicht. Ihr fiel absolut nichts ein, was sie hätte erwidern können, um die absurde Situation noch irgendwie zu retten. Und er wusste es. Er stand da und wirkte so verdammt gelassen, als ob die Drohung ihres Messers an seinen edlen Teilen gar nicht vorhanden wäre. Dieser Mistkerl!
»Hm, lasst und Eure Möglichkeiten einmal genauer betrachten«, sagte er. »Ihr könnt die Beine in die Hand nehmen, um Euer Leben rennen und hoffen, dass Ihr ein Mauseloch findet, bevor ich Euch erwische - oder Ihr könnt zu Seite treten und mich einfach gehen lassen. Wofür ich im Gegenzug verspreche, Euch nicht zu folgen.«
Gwen wusste, dass ihr kaum eine andere Wahl blieb, als seinem Wort zu vertrauen.
»Ich wünschte, ich wäre Euch nie begegnet«, sagte sie. Sie versuchte, die Bitterkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten, aber es gelang ihr nicht. Es gelang ihr ganz und gar nicht.
Zögernd ließ sie das Messer sinken und trat zur Seite.
»Dieses Gefühl beruht ganz auf Gegenseitigkeit«, gab er zurück. »Ich wünsche Euch viel Erfolg, bei dem Versuch Eurem zukünftigen Ehemann Eure unversehrte Jungfernschaft vorzugaukeln.«
Sie verharrte auf der Stelle, wie versteinert und begriff erst sehr viel später, dass er fort war.
Gandar ließ seinen Rappen langsam durch das Tor der kaiserlichen Pfalz zu Hagenau gehen. Wie jedes Mal, wenn er hierherkam, war er überrascht, wie laut es im Außenhof der Pfalz zuging. Schweine quiekten, Hunde bellten, Kinder schrien vor Lachen. In der langen Reihe der Ställe stampften die Pferde des Königs mit den Hufen. Kinder, ein bisschen weniger schmutzig als die in den Dörfern, die er unterwegs gesehen hatte, spielten in den Heuschobern bei den Ställen, daneben hämmerte der Waffenschmied die Glieder eines Kettenhemdes zurecht und der Hufschmied beschlug ein Turnierross des Königs. Gandar trennte sich mit einem knappen Gruß von Gareth und Ahmad.
Im Innenhof war es ruhiger. Gandar glitt aus dem Sattel, zog seine staubigen Handschuhe von den Fingern und ging mit steifen Bewegungen auf den Brunnen in der Mitte des Hofes zu. Er hatte in den letzten Tagen alles von sich gefordert, in dem Versuch den Gedanken zu entkommen, die ihm Tag und Nacht keine Ruhe ließen. Gwenfrewi. Verdammt, er musste ihren Namen vergessen. Er musste sie vergessen.
Was sich als beinahe unmöglich herausstellte. Nachdem er wieder bei Gareth und Ahmad angekommen war und sein Pferd besteigen wollte, hatte er eine silberne Haarnadel von ihr in den Fingern gehabt, ohne dass er sich bewusst daran erinnerte, sie ihr aus dem Haar gezogen zu haben. Er wollte sie schon wegwerfen, doch dann hatte er sie in ein Tuch gewickelt und eingesteckt.
»Schickt Lauris von Segeste zu mir«, befahl er dem Knecht, der herbeigeeilt war, um ihm sein Pferd abzunehmen. Allein gelassen lehnte er sich an den Brunnenrand und zog den Schöpfeimer herauf, spritzte sich Wasser in Gesicht und Nacken, um die bleierne Müdigkeit zu vertreiben. Langsam trank er einen Schluck der kalten, klaren Flüssigkeit. Die schimmernde Wasserfläche gaukelte ihm nur neue Trugbilder vor. Was im Wald von Brenneberg als ein Wettstreit begonnen hatte, war zu einem Hunger geworden, den er kaum mehr kontrollieren konnte.
Von den Wohngebäuden kam Manfred, sein Knappe, herübergelaufen.
»Mein guter Herr! Soeben erfuhr ich von Eurer Ankunft. Willkommen! Wollt Ihr essen? Oder zuerst ein Bad?«
Gandar lächelte flüchtig, während er dem Jungen zunickte. »Ein Bad, bitte. Sag mal, Manfred, warum sind so wenig Bedienstete anwesend? Hält sich der König nicht in der Pfalz auf?«
»Nein, Herr. Kaum wart Ihr fort, wurde der König abberufen. Reichsgeschäfte, wie üblich. Einer der Knappen erzählte mir, sie zögen in eine Stadt namens Hallis. Wo das liegt, wusste er allerdings nicht zu sagen.«
»Hm. Irgendwo im Süden, schätze ich.«
»Tja, vielleicht erfahren wir ja noch Genaueres. Herr Lauris hat eine Nachricht für Euch.«
»Und?«, fragte Gandar. »Wo mag er wohl stecken, der Herr Lauris?«
»Hier bin ich, Herr«, sagte der junge Ritter und trat lächelnd näher. Die Männer tauschten Umarmung und Wangenkuss. Gandar erkannte besorgt, wie mitgenommen und müde sein Gefolgsmann aussah. »Wie ist es Euch ergangen?«, fragte er.
»Schwierigkeiten, nichts als Schwierigkeiten und Sorgen!«, knurrte Lauris. »Ich bin froh, dass Ihr zurück seid, weil hier Meuterei droht – von ein paar hergelaufenen Kreuzzugveteranen, verdammt!«
»Lasst mich raten«, sagte Gandar. »Es geht um unsere Sarazenenkrieger, nicht wahr?«
»Was sonst«, erwiderte Lauris missfällig. »Solange der König anwesend war, wagte niemand einen Ton zu sagen. Aber seit Konrad fort ist… obwohl - es hätte friedlich bleiben können, wenn jemand diesem Sänger rechtzeitig das Maul gestopft hätte ...«
»Erklärt mir das näher«, verlangte Gandar.
»Nun«, begann Lauris, »es gibt da diesen neuen Gesang über Euch, mein Herr … Ihr werdet ihn noch nicht gehört haben ...«
»Ich kenne das verdammte Lied«, schnarrte Gandar. »Jeden einzelnen seiner zwanzig Verse!«
»Gandar, bitte! Man hört Euch im ganzen Hof.«
»Soll man mich doch hören«, sagte Gandar mit so viel Bitterkeit in der Stimme, dass Lauris überrascht zu ihm aufsah. »Was macht es denn noch aus, wo wir ohnehin die halbe Pfalz gegen uns haben?«
»Nichts«, gab Lauris zu. »Allerdings beschränken sich unsere speziellen Freunde auf Flüche und Drohungen aus der Ferne. Zumindest im Augenblick.«
»Nett von ihnen«, kommentierte Gandar trocken.
»Nett? Sagt lieber bange. Weil sie nach dem Turnier in Burgund wohl endlich begriffen haben, dass sarazenische Krieger kein Schlachtvieh sind.«
»Daran glaubt Ihr?«, fragte Gandar. »Dass diese hochfahrenden bayrischen Ritter eine - wenn auch eingebildeten - Kränkung ihrer Ehre stillschweigend hinnehmen? Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie aufhören übervorsichtig zu sein. Und diesmal ist kein König da, der sie in ihre Schranken weist.«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Lauris säuerlich.
Gandar schnaubte. »Glaubt mir, in meiner augenblicklichen Stimmung würde es mir einen Heidenspaß machen, ein paar Holzköpfe einzuschlagen.«
»Solche Gedanken sehen Euch gar nicht ähnlich, Gandar. Ist etwas passiert, wovon ich wissen sollte?«
»Die ganze Reise war ein Fehlschlag«, bekannte Gandar. »Nutzlos vertane Zeit. Wir haben nichts in der Hand, was den König von der Existenz des Verräters überzeugen könnte. Aber, verdammt noch mal, ich weiß, dass es ihn gibt. Was seht Ihr mich so an?«
»Leider habe ich noch mehr zu berichten. Es wird Euch nicht gefallen, fürchte ich.«
»Dann ist es wohl besser, wenn Ihr gleich damit herausrückt, Lauris, nicht wahr?«
»Das muss ich wohl. Obwohl es mir weiß Gott keinen Spaß macht, ständig der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.«
Gandar lächelte spöttisch. »Das Schicksal derer, die dem Haus Rodéna dienen ... Also, sprecht! Was gibt es?«
»Seit geraumer Zeit verschwinden Dokumente aus der königlichen Kanzlei ...«
»Weiß ich«, unterbrach Gandar. »Der König selbst hat mir davon berichtet. Er bat mich, seinen Hofbeamten bei der Untersuchung der Vorfälle zu helfen. Wir gaben uns alle Mühe, doch zum Schluss konnten wir nicht einmal einen Verdächtigen vorweisen.«
»Jetzt gibt es einen«, sagte Lauris grimmig. »Gerüchten zufolge handelt es sich um einen engen Vertrauten des Königs. Ein Mann, der Zugang zu jeder Art von Informationen hat. Einer, der viel draußen herumkommt – und sich dabei unauffällig mit Verbündeten und Mittelsmännern treffen kann ...«
Gandar starrte Lauris an. »Diàvulu! Versucht Ihr mir gerade zu sagen, dass man mich verdächtigt?«
»Leider ja«, erwiderte der Ritter. »Die Gerüchte schäumen nahezu über, seit bekannt wurde, dass sich Wolfram von Milanes – dieses Stück Dreck - in der Gegend von Brenneberg aufhält. Sein Oheim ist Siegfried von Eppstein, Erzbischof von Mainz, bekennender Anhänger des Papstes, mit der Ambition, derjenige zu sein, der die deutschen Könige macht. Und nachdem Ihr nun ebenfalls in Brenneberg …«
Lauris sprach noch weiter, aber Gandar nahm nichts mehr davon wahr. Beim Namen Wolfram von Milanes überkam ihn blitzartig die Erleuchtung, die Erkenntnis, das Wissen: Gwenfrewi von Brenneberg war die gesuchte Verräterin. Sie hatte sich mit Wolfram von Milanes getroffen. Auf dieser Waldlichtung. O Gott!, dachte Gandar. Allmächtiger Gott! Das süße, sanfte Mädchen - eine Frau, die gerissen genug war, alle zum Narren zu halten … Und ich habe sie … o Jesus …
»Himmel, Gandar, Ihr seid auf einmal blass wie der Tod«, sagte Lauris. »Ist Euch nicht wohl?«
Gandar blieb stumm. Er blieb stumm, weil er die Dinge, die ihm einfielen, vor Lauris nicht aussprechen konnte und sie sowieso nichts geändert hätten.
»Ich bedaure, keine besseren Nachrichten für Euch zu haben, Herr«, sagte Lauris.
Gandar legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es ist nicht Eure Schuld«, sagte er. »Aber genug davon – kommt, ich möchte Konrads Botschaft lesen.«
Lauris ging, um die Nachricht zu holen, und Gandar machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft. Für gewöhnlich mied er die Badestube der Pfalz. Der Sarazenenbrauch des häufigen Badens unter Verwendung von Parfüm galt in der christlichen Welt als Sünde und, um den ohnehin zerbrechlichen Frieden nicht zu gefährden, zogen Gandar und seine Männer es vor in ihren eigenen Räumen zu baden.
Manfred hatte schon alles vorbereitet und erwartete seinen Herrn neben einem gefüllten Zuber, um ihm beim Auskleiden zur Hand zu gehen. Wenig später saß Gandar zufrieden seufzend im heißen Wasser. Lauris kam und überreichte Konrads Botschaft. Gandar war nicht besonders neugierig auf den Brief, weil er zu wissen glaubte, was er enthielt. Deshalb traf ihn das, was er zu lesen bekam völlig unvorbereitet.
Begebt Euch unverzüglich zur Glouburg und tragt Sorge, dass dort nichts aus dem Ruder läuft. Ich verlasse mich auf Euch.
Schmerz griff mit kalten Fangarmen nach seinem Herzen. Oh Gott, oh Jesus, dachte er. Richard muss etwas zugestoßen sein und Konrad wagt nicht, es mir zu sagen …
Das Blatt entglitt seinen Händen. In ihm war schwarze Galle und Übelkeit. Wovor er sich fürchtete, seit er seinen Bruder gefunden hatte, das war nun reduziert auf einen schlichten Brief - zwanzig Worte, die ihm die Hälfte dessen nahmen, wofür er lebte. Benommen starrte er auf das Blatt, sah, wie es langsam im Wasser versank, die Schrift sich verwischte.
Er musste irgendeinen Laut von sich gegeben haben, denn Manfred und Lauris wandten ihm beinahe gleichzeitig den Blick zu. Bemerkten seinen Schrecken und eilten zu ihm.
»Lasst mich«, stieß er hervor.
»Herrgott, Gandar. Redet!«, drängte Lauris. »Sagt mir, was in diesem Brief steht.«
Wie verwundert lauschte Gandar dem Klang seiner Worte hinterher. Seine Lippen bewegten sich ein - oder zweimal, bevor er antworten konnte. »Das weiß ich nicht.«
Lauris sah ihn fassungslos an.
Gandar lächelte wehmütig. Er hatte jetzt wieder Gewalt über sich, über seinen Schmerz, seine Übelkeit. »Ich würde es Euch sagen, wenn ich nur wüsste, was ich von dieser Nachricht halten soll«, erklärte er sachlich. »Sie ist schrecklich vage – sie kann alles bedeuten – oder auch gar nichts. Ich soll umgehend zur Glouburg und dort nach dem Rechten sehen.«
»Lasst mich nachdenken«, sagte Lauris. »Nein – mir sind keine Gerüchte über Unruhen in dieser Gegend zu Ohren gekommen.«
»Hm.«
»Um ehrlich zu sein, wäre mir ein Ortswechsel durchaus recht, wenn ich hoffen könnte, dass er unser Dilemma kuriert. Aber ich fürchte, nur eine Rückkehr nach Sizilien kann dieses Wunder vollbringen.«
»Ja, vermutlich«, räumte Gandar ein. »Doch wie dem auch sei. Ich reite bei Sonnenaufgang. Lasst Gareth und Ahmad benachrichtigen. Und sorgt für frische Pferde. Der Tross kann später folgen.«
»Darf ich Euch begleiten, Herr?«, bettelte Manfred.
»Nein, Junge«, sagte Gandar. »Ich möchte, dass du dich während meiner Abwesenheit um Atair kümmerst. Er hat sich ein paar Tage Ruhe verdient.« Damit stieg er aus dem Zuber, trocknete sich ab und griff nach dem sauberen Hemd, welches Manfred bereitgelegt hatte. »Und nun kommt, lasst uns essen.«