Als der Landrover zum Tor kam, war das bereits geöffnet. Ein deutliches Zeichen dafür, dass man sie bereits erwartete. Als Robert die Allee entlang fuhr, hielt Dallas genauesten Ausschau, ob er im Dunkeln den Abzweig zum Wildgehege sehen würde, doch da hatte er kein Glück. Indem sie den alten Kastanien folgten, kam das Haus bald in Sicht. Es war offensichtlich sehr alt, denn es wirkte wie eine Zusammenstellung ursprünglicher Gebäudeteile und weiterer Anbauten im Laufe der Jahrhunderte. Der älteste Teil, linker Hand, bestand aus zwei runden Ecktürmen, die noch Schießscharten und nur kleine, vergitterte Fenster aufwiesen. Diese flankierten einen massiven, mehrstöckigen Pallas, der offenbar in mindestens drei historischen Phasen angebaut wurde. Die unterschiedlichen Größen und Formen der Fenster und schließlich sogar Erker und Porticos entsprachen sicher der jeweiligen Stilrichtung in der Architektur. Typisch für das Revival des Mittelalters im 19. Jahrhundert gab es auch kleinere, zusätzliche Türmchen, an denen Rosen und Efeu emporrankten. Am Ende der Auffahrt gab es zwei große Laternen, die den derzeitigen Haupteingang zwischen scheinbar mittelalterlichen Säulen einrahmten. Das gesamte Gebäude schien auf einer alten Wehranlage erhöht zu stehen, weswegen die Auffahrt letztendlich ihrem Namen alle Ehre machte. Robert fuhr einfach bis direkt vor die Tür, etwas unsicher, ob da vielleicht noch ein extra Parkplatz wäre. In dem Moment öffnete sich auch schon die Tür und ein älterer Herr im Livree öffnete. Dallas hatte bis zu diesem Moment glatt vergessen, dass so ein riesiges Anwesen wahrscheinlich mehr als den Traum seiner schlaflosen Nächte und dessen Torwächterin beherbergen würde. Mister Fitzgibbons begrüßte die Gäste, beruhigte Robert, das Auto könne dort stehen bleiben und führte alle dann in eine riesige Empfangshalle. Die war tatsächlich anders als zu erwarten. Offensichtlich ging es dem Laird von Lanark nicht darum, seine Gäste in einem Museum zu begrüßen. Rechts und links führten große Treppen aus antiker schottischer Eiche noch oben, wo sie in einem Umgang der zweiten Etage endeten. Aber direkt über der Halle war eine gläserne Kuppel, durch die man sicherlich den Sternenhimmel sehen könnte und in der Mitte des Raumes gab es ein rundes Bassin mit einem glitzernden Mosaik und Seerosen. An den Wänden hingen Gemälde und Fotografien und andere Arten moderner Kunst. Das Einzige, was an einen uralten Herrensitz erinnerte, war eine ebenfalls moderne Version des Familienwappens an der Balustrade. Darunter, wenn man um die Seerosen herumging, war eine große Tür mit zwei Flügeln. Die öffnete sich jetzt und Dugan stand vor ihnen. Er sah umwerfend aus, in einem dunkelblauen Anzug und einem aquamarin- farbenen Hemd, das exakt seiner Augenfarbe entsprach. Nachdem der erste Moment alle sprachlos gemacht hatte, ergriff Fitzgibbons professionell das Wort. „My Laird, Ihre Gäste sind da.“
„Ich seh’s“, sagte Dugan, wobei er den Blick zuerst auf Dallas und dann höflich in die Runde schweifen ließ, „Wilkommen auf Lanark. Ich bin Dugan Roarke McLanark, der neununddreißigste Laird. Ich hoffe, sie haben gut hierher gefunden.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Als er wieder auf Dallas schaute fiel dem ein, dass es seine Aufgabe wäre, die anderen vorzustellen. Er fing mit Janice an. Ladies first. “Dugan, das ist meine Kollegin Janice Taylor, sie organisiert die Reise, dann haben wir unseren Fahrer, Robert Bean und last but not least, unseren Techniker, Tariq Kang.“
Dugan lächelte. „Freut mich sehr, ich hoffe, dass wir ebenso schnell Freunde werden, wie Dallas und ich.“
Er schien ein echter Profi darin zu sein, erst einen imposanten Auftritt hinzulegen und dann gleich darauf das Eis zu brechen. Dallas war erleichtert und wieder einmal beeindruckt. Janice war jetzt die Erste, die das gebrochene Eis für sich nutzte. „Wow, Dugan, tolles Haus! Wie habt ihr euch denn so schnell angefreundet?“
Dugan war bereits im Begriff zu antworten, als Dallas das lieber eilig übernahm: „Wir haben ein Spielzeug für die jungen Wölfe aufgehängt.“ Er nickte, wie um seine Aussage zu bestätigen.
Dugan blinzelte ihm beinahe unmerklich zu und bekräftigte dann mit einem Lächeln: „In der Tat. So war das.“
„Wow.“
„Bitte geht doch hinein, Miss Fitzgibbons hat alles vorbereitet“, mit diesen Worten deutete Dugan in den Saal hinter der Tür, in dem ein riesiger Kamin brannte und ein großer Tisch stand. Janice ging vor, gefolgt von den anderen, Dallas blieb absichtlich bei Dugan zurück. „Du bist umwerfend“, flüsterte er ihm zu.
„Dann wirf mich um“, kam es in tiefem Flüstern zurück. Hellfire! Dallas würde hoffentlich im Laufe des Abends herausfinden, wann und wie sie das tun könnten. Für’s Erste zwinkerte Dugan ihm zu und ging dann vor, Dallas hinterher und sie setzten sich zum Essen. Während des Essens redeten sie über verschiedene Dinge, die erstmal dafür sorgten, dass sich alle Anwesenden entspannten. Das Wetter, die Schönheit der Landschaft, die schottische Gastfreundschaft. Irgendwann, so mit dem Nachtisch und nach ein oder zwei Gläsern Wein, kamen sie auf die Fotoreise zu sprechen. Dallas erklärte den eigentlichen Anlass, den Auftrag der BBC und sein eigenes Anliegen, besondere Orte und besondere Dinge festzuhalten und durch Fotografien begreifbar zu machen.
„Du bist auf der Suche nach Schönheit“, stellte Dugan da fest.
Das stimmte. Nur hatte Dallas es noch gar nicht so gesehen, geschweige denn so formuliert. Am ehesten hätte er gesagt, er sei auf der Suche nach einem Gefühl von Heimat, Herkunft, Dazugehörigkeit. Also, wie konnte Dugan das so messerscharf kombinieren, wenn es ihm selbst noch nicht klar war? Bevor Dallas antworten konnte, ergriff Tariq das Wort. „Bestimmt gibt es hier Einiges zu sehen, an Schönheit, meine ich. Das Haus ist wirklich `ne Wucht!“
„Das Haus?“, erwiderte Dugan etwas überrascht.
„Ja sicher“, kam Janice dazu, „was da alles in der Eingangshalle hängt, ist doch bestimmt ein Vermögen wert!?“
„Ich denke nicht, dass man Schönheit mit Geld gleichsetzten sollte“, gab Dugan zurück, „es gibt Dinge, deren Wert wir gar nicht ermessen können und solche, die wir für Geld nicht kaufen können.“
„Was zum Beispiel?“, fragte Robert neugierig.
„Freundschaft, Liebe, Seelenfrieden, solche Dinge.“ Die Bestimmtheit mit der Dugan das sagte, verdeutlichte unmissverständlich, dass er darüber längst nachgedacht hatte. Dallas allerdings war der Einzige, dem das Wort Seelenfrieden einen beinahe sehnsüchtigen Unterton zu haben schien. Er wollte ein wenig für Erheiterung sorgen. „Die Arbeit für die Wölfe, draußen, die ist doch sicherlich sehr zufriedenstellend?“
Dugan nickte bestätigend. „Leider kann ich nicht genug tun. Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen, bei denen ein Tier verletzt oder gar getötet wird. Menschen können sehr unwissend sein oder aus Unwissenheit und Angst sehr schreckliche Dinge tun. Ein Schaf zu reißen, mag in der Natur des Wolfes liegen, aber ich mag nicht glauben, dass es in der Natur des Menschen liegt, den Wolf auszurotten.“
„Von so einem Zwischenfall hab‘ ich im Pub gehört“, fiel Janice ein.
„Was für ein Zwischenfall?“, wollte Dallas wissen.
„Da war ein Mann, der hat erzählt, dass vereinzelte Wölfe immer in der Gegend waren. Aber in Vollmondnächten, da sammeln sie sich und es sind keine normalen Wölfe. Er hat gesagt, es seien Werwölfe. Und gemeinsam machen sie Jagd auf Jungfrauen. Die Tochter eines Fischers hier in der Nähe habe neun Monate später ein lebensunfähiges Kind zur Welt gebracht. Es hatte überall Haare am Körper.“
„Ammenmärchen!“, entfuhr es Robert.
„Völlig irrer Aberglaube“, setzte Dugan mit Nachdruck hinzu. „Warum sollte ein Wolf Jagd auf Jungfrauen machen!?“
„Nicht ein Wolf, ein Werwolf!“ Tariq fand die Geschichte offenbar faszinierend.
„Völliger Unsinn. Keiner der Wölfe in meinem Schutz ist jemals etwas anderes als ein Wolf“, stellte Dugan in einem Ton fest, der verriet, dass er keine Geduld mit solchen Ammenmärchen hatte. „Die Tiere sind angeschossen, angefahren, in eine Falle getreten oder von ihrem Muttertier verlassen. Keines würde jemals einen Menschen angreifen oder schwängern. Das ist absurd!“
„Ich habe zwei von ihnen gesehen. Sie schliefen friedlich, das war wunderschön.“ Dallas musste einfach Partei für die Wölfe und Dugan ergreifen.
„Es wäre aber bestimmt `ne tolle Story für die BBC, wenn hier Werwölfe ihr Unwesen trieben,“ fand Janice.
„Auf gar keinen Fall verbreiten wir so einen ausgemachten Schwachsinn!“ Dallas fuhr sie erbost an. Wie konnte sie überhaupt mit so einem Irrsinn anfangen!
„Die Lösung“, ging Dugan jetzt beschwichtigend dazwischen, „ist, dass ihr euch die Tiere morgen anseht. Nachts sind sie in ihrem Element und wollen nicht gestört werden. Morgen bei Abenddämmerung, da wachen sie auf und ich zeige sie euch.“
„Wir können sie sehen?“, fragte Tariq.
„Deswegen seid ihr doch gekommen.“ Dugan schaute von einem zum anderen. Er hatte gewiss recht, aber Dallas war auch noch wegen etwas Anderem gekommen.
„Nun, ich denke, es ist spät genug und morgen ist ein neuer Tag, richtig?!“ Robert wollte sicherlich die Situation auch friedlich lösen.
„Na schön. Dann sehen wir uns das alles morgen an.” Janice schien etwas enttäuscht und Dallas fragte sich, ob sie weniger enttäuscht wäre, wenn sie ein Werwolf jetzt und hier schwängern würde.
„Dann wollen wir mal…“, Tariq begann damit sich zu verabschieden und alle bedankten sich nochmal für die angeregte Diskussion, das hervorragende Essen und die Einladung für morgen. Dann machten sie sich auf zur Tür. Dallas wollte nicht glauben, dass das alles war und schaute zu Dugan. Nein. Das war nicht alles. Sein Blick, wenn auch nur flüchtig, sagte ganz deutlich: Lass die anderen fahren, du bleibst. Dallas ließ alle zum Wagen vorgehen und einsteigen, dann schüttelte er den Kopf. „Fahrt ihr ruhig. Ich gehe lieber zu Fuß. Ich brauche noch etwas frische Luft.“ Im Halbschatten der Laternen konnte er lügen, ohne rot zu werden. Als der Wagen losfuhr ging er noch ein paar Schritte in die Richtung des Wegs, doch kaum war der Wagen um die erste Biegung, da drehte Dallas um. Die Tür war nur angelehnt…