Die Badewanne war wirklich riesig und das heiße Wasser tat gut. Die beiden wuschen sich abwechselnd das Haar und blieben dann einfach eine Weile so im Wasser liegen. Jeremy lehnte zurück an der Wanne und Rufus lehnte sich zurück an ihn. Mit den Armen hielt der kräftigere Mann den jüngeren umfangen und aus irgendeinem Grund, vielleicht, weil das jetzt so ungemein entspannend war, fing er an, leise vor sich hinzusummen. Er hätte nicht einmal im Nachhinein sagen können, was es war. Vielleicht etwas Romantisches von Schubert oder etwas von Beethoven. Hymne an die Nacht könnte es gewesen sein. Rufus hörte andächtig zu und schien ganz in dem Moment versunken. Dann irgendwann war es soweit, sich für den Besuch „auf der anderen Seite“ fertig zu machen. Jeremy küsste Rufus an die Schläfe und flüsterte, dass es Zeit wäre. Rufus nickte und bald darauf waren sie angezogen und auf dem Weg zum Herrenhaus. Sie nahmen das Motorrad, denn der See war nicht gerade klein und zu Fuß wären sie bereits zu spät gekommen. Zum Haus führte eine Allee mit großen, alten Kastanienbäumen und die halbrunde Auffahrt war noch aus der Zeit, als man dort mit Kutschen vorfuhr. St. Aubyn Manor selbst war riesig und Jeremy fragte sich, wie viele Menschen wohl darin wohnen würden. Rufus überlegte kurz und meinte, es wären wohl die vier Familienmitglieder, Richard, seine Frau Miranda mit ihren zwei Töchtern und etwa zwanzig Hausangestellte. Das beantwortete gleichzeitig die Frage, ob es noch Eltern gäbe. Offensichtlich nicht. Noch bevor Rufus und Jeremy die Tür erreicht hatten, öffnete ihnen Hopkins und führte sie direkt durch die Eingangshalle mit Ritterrüstungen und einen Flur bis in den Wintergarten. Dort saß ein Mann am Tisch, der ganz eindeutig Familienähnlichkeit mit Rufus hatte. Ebenfalls groß, schlank, rötliches Haar, aber deutlich heller als das von Rufus, keine Locken, helle Augen. Er musste vielleicht Anfang dreißig sein. Seine Frau saß neben ihm. Eine sehr zierliche, blonde Frau. Vielleicht knapp dreißig. Beide standen auf und kamen ihnen entgegen. Richard umarmte seinen Bruder herzlich und hieß auch Jeremy herzlich willkommen. Miranda wartete kurz ab, bis sich die Brüder begrüßt hatten, dann umarmte sie Rufus ebenfalls und reichte Jeremy die Hand. Rufus begann, Jeremy vorzustellen. „Also das ist Jeremy Harrison. Wir haben uns auf der Premierenfeier kennengelernt.“
„Dann bist du auch Schauspieler?“, fragte Miranda neugierig.
„Nein, nein, ich bin Sänger. Wir waren zufällig im selben Pub.“
„Rufus, du wolltest uns doch Karten besorgen. Wir möchten dich unbedingt sehen“, fiel Richard dazwischen.
„Er ist toll“, kam es von Jeremy, „ich habe ihn gestern gesehen.“
„Ja, ich bin auch echt stolz auf meinen kleinen Bruder. Die Kritiken in der Times sind hervorragend. Und was singst du?“
„Jeremy singt Oper. An dem Abend hat er aber unsere Hymne gesungen.“
„Waaaas? Nicht echt?“ Jeremy konnte sich natürlich nicht erinnern.
„Doch und dann die andere, die von euch.“ Rufus grinste.
„Er hat die Yankee-Hymne in einem Londoner Pub gesungen?“ Richard war nicht wenig erstaunt. Jeremy auch. „Also eigentlich bin ich gar kein Yankee“, setzte er zu erklären an, was aber nicht viel half. Als Hopkins mit dem Tee und Kuchen kam, waren alle schon mitten in Gesprächen über Shakespeare, die viel zu niedrige Kulturförderung in England und die völlig sinnlose Idee, eine neue Brücke an der Southbank zu bauen. Rufus erklärte kurz mit einem Naserümpfen, dass sein Bruder in der Politik sei. Richard meinte, das sei überhaupt kein Grund die Nase zu rümpfen, alle Sommerford St. Aubyns seien immer politisch gewesen. Irgendwann kamen die beiden Mädchen noch dazu. Sie erzählten begeistert von ihren Pferden, die natürlich der Grund für die Verspätung seien. Und sie erzählten, sie hätten mit ihrer Lehrerin auch schon über Shakespeare gesprochen. Die Kleinere fand es unfair, dass ihr Daddy sie für zu jung für einen Theaterbesuch hielt. Jeremy musste erklären, dass er als Opernsänger ohne Mikrofon singen könnte. Das wollte die Größere nicht glauben. Und dann kam Miranda auf die Idee, es doch einfach zu beweisen. „Rufus geh doch an den Flügel und spiel die Nationalhymne“, schlug jetzt Richard vor. „Welche?“, wollte Rufus noch wissen. „Na welche wohl. God save…“, weiter kam Richard nicht, denn Rufus war im Nu am Flügel und begann „The Star-Spangled Banner“. Jeremy stieg sofort mit ein, „Oh, say can you see by the dawn’s early light…” Hopkins hatte inzwischen den Wintergarten verlassen, aber die Sommerfords und ihr Gast blieben noch eine ganze Stunde zusammen beim Tee. Erst als die Sonne begann unterzugehen, wollten Rufus und Jeremy sich langsam verabschieden. Richard ließ Rufus noch in die Küche gehen, um einen Picknickkorb mit Abendessen zu holen, dann kam er kurz zu Jeremy. „Er bringt nicht jeden seiner Freunde hierher, weißt du das?“ So wie Richard das sagte, klang es wie ein Kompliment. „Nein, also, ich habe gar nicht darüber nachgedacht“, musste Jeremy zugeben. Richard nickte jetzt nur. Er hatte fast alles gesagt. „Pass auf ihn auf“, setzte er dann noch hinzu. Jetzt nickte Jeremy.
„Wo bleibst du denn? Der Korb ist schwer!“, hörte man dann Rufus im Gang rufen.
„Ich komme!“
Jeremy verabschiedete sich von Miranda und den Kindern, dann ging er mit Richard zu Rufus und hinaus auf den Hof. Dort fuhren die zwei ab und Richard winkte ihnen noch nach.