Der Rest des Tages bis zum frühen Abend war eine Mischung aus schnell lieb gewonnener Routine -gemeinsames, ausgiebiges Bad mit Rasur für Jeremy- und routinierter Pflichterfüllung -beide telefonierten mit Agentur und Manager. Rufus las ein bisschen in Drehbüchern und Jeremy studierte eine Partitur. Das ging recht gut und eigentlich sogar richtig gut, wenn sie dabei aneinander gekuschelt auf dem großen Chesterfield- Sofa saßen. Jeremy saß hinten und hatte Rufus zwischen den Beinen. Das war etwas, was sie untereinander inzwischen die Badewannenposition nannten. Jeremy hatte die Partitur auf der Lehne des riesigen Sofas, Rufus hatte seine Bücher auf den Knien. Ab und zu schaute Jeremy über seine Schulter hinein. Ein Historiendrama für die BBC, eine Fantasyserie mit Zwergen und Drachen für HBO, ein Familiendrama in LA… Hin und wieder summte Jeremy etwas aus „Tannhäuser“, dann hörte Rufus genau zu und legte den Kopf an seine Schulter. Irgendwann wurde es Zeit für die Vorbereitung zum Diner. Jeremy musste wohl oder übel bald aufstehen. Rufus holte sich telefonisch noch ein paar Tipps von Richard. Es würde hauptsächlich darum gehen, dass er die Familie repräsentierte und ein paar Hände zu schüttelte. Rufus notierte sich ungefähr dreißig Namen von Leuten, die er auf gar keinen Fall übersehen sollte. Jeremy fand es lustig, wie Rufus bei dem einen oder anderen leicht genervt die Augen rollte. Schließlich musste er sich als erster mit dem Taxi in die Stadt aufmachen, weil er im Hotel eingekleidet und gestylt werden sollte. Peter hatte das für ihn und June mit einem Stylisten organisiert. Sie standen also auf und Rufus versprach, dass er nicht mit dem Motorrad, sondern auch mit einem Taxi kommen würde und er würde sich „anständig“ zurechtmachen. Er brachte Jem zur Tür und zog ihn für einen Kuss zu sich. Er hatte einen Arm um Jems Mitte gelegt und lehnte sich an ihn. Mit der anderen Hand fuhr er erst durch Jems Haar, hinunter bis zum Kinn, dann hielt er ihn so und küsste ihn erst zärtlich auf die Oberlippe, bald küssten sie sich richtig, dann mit einem plötzlichen Anfall von Verlangen, so als ob schon eine Trennung für Stunden unerträglich wäre. Jeremy schien nicht genug von Rus Himbeerküssen zu kriegen, dann hupte plötzlich das Taxi und der Fahrer winkte. „Wir sehen uns nachher, ich vermisse dich jetzt schon“, sagte er. Er konnte sich nicht helfen, er hatte ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache. Rufus bemerkte sehr wohl, dass Jeremy irgendetwas hatte und lächelte dann erst recht, um ihm Mut zu machen. „Nachher ist nur nachher. Ich freu mich auf dich. Und jetzt zeigst du denen von der Jury, wer einen Preis verdient hat!“ Jeremy nickte, dann ging er zum Taxi. Rufus blieb noch einen Moment in der Tür und sah dem Taxi nach. Wenn Jeremy sich wirklich Sorgen machte, dann gab es eigentlich keinen Grund dafür. Der „Plan“ seines Managers war perfekt und wenn alle mitspielten, konnte nichts schiefgehen. Rufus war bereit mitzuspielen. Aus diesem und keinem anderen Grund nahm er sich vor, am Abend umwerfend auszusehen. Er würde die perfekte Show liefern für diejenigen, die sowas interessierte. Der Marquess von Sommerford St. Aubyn, jüngerer Sohn einer der bedeutendsten und ältesten Familien des Vereinigten Königreichs, jung, charmant und kunstinteressiert. „Auf in den Kampf“, hörte er sich sagen, dann ging er ins Haus und suchte die Tüte mit dem Frack.
Etwa drei Stunden später betrat Rufus die Floral Hall des Royal Opera House. Die riesige Glaskonstruktion, die an die Palmenhäuser der Viktorianer erinnerte und die Balkone darin boten den idealen Ort für ein Galadiner der nominierten Künstler. Alles glitzerte und glänzte, unzählige Kerzen schimmerten und ein kleines Orchester spielte im Hintergrund. Rufus hatte die Halle selbst noch nie zuvor betreten, wusste aber, dass sein Vater nicht gerade wenig Geld dazu beigesteuert hatte, als man das ROH vor etwa zwanzig Jahren renoviert hatte. Eigentlich müsste diese Halle Sommerford St. Aubyn Halle heißen. Die Türsteher am Eingang fragten nicht nach seinem Namen. Vielleicht erkannten sie ihn oder sie wagten nicht, ihn im White Tie überhaupt anzuhalten. Rufus hatte keine genaue Vorstellung, was an dem Abend genau passieren würde, also nahm er einen Programmablauf von einem Typen im Livree des Hauses und suchte sich einen Platz an einer Bar. Er ließ sich einen Champagner geben und verschaffte sich einen Überblick. Es würde Reden geben, viel zu viele, vom Bürgermeister, vom Generalintendanten… oh je. Eine Podiumsdiskussion mit den nominierten Künstlern vor der Presse. Doppeltes oh je. Musik. Das Diner im Crush Saal. Präsentation der nominierten Produktionen und Künstler. Und eine Tanzversteigerung. Dreifaches oh je. Nach einem zweiten Champagner machte sich Rufus auf, um sein eigenes Pflichtprogramm zu erfüllen. Er ging zu den ausgewiesenen Balkonen für Mäzene und Förderer, wo er sicherlich die meisten Leute von Richards Liste finden würde. Dort stellte er sich verschiedenen Leuten vor, die allesamt höchst erfreut waren, den jüngeren St. Aubyn kennenzulernen. Der eine oder andere behauptete, er hätte Rufus bereits erkannt, denn die Familienähnlichkeit sei nicht zu übersehen oder sie seien sich schon mal begegnet. Rufus blieb charmant und plauderte über Kunst und Musik. Nach einer Weile wunderte er sich, dass diese Wohltäter der Kunst ihn als Richards Bruder und Marquess von Sommerford erkannten, aber keiner erkannte ihn als Schauspieler. „Ich habe Sie schon einmal irgendwo gesehen“, bemerkte ein Mann, der Duke von Kent und als Rufus gerade vermuten wollte, es sei vielleicht aus dem Theater oder dem Film, da fiel dem Mann ein, dass es auf einer der Jagden in Sommerford gewesen war.
„Das ist schon lange her“, fand Rufus, „bestimmt mehr als zehn Jahre.“
„Das kann man wohl sagen, mein Junge, schade, dass Richard diese Tradition nicht fortführt.“
„Das war unserer Entscheidung. Und wir hatten unsere Gründe.“ Rufus schaute den Mann ernst an. Er hätte keine Lust darüber zu reden.
„Wie geht es den Kindern?“, wechselte der Duke das Thema nun gekonnt.
„Bestens , Rosemund und Rowena sind wohlauf und talentierte Reiter.“
Mitten im Gespräch ertönte plötzlich das Orchester lauter als zuvor. Das war wohl ein Zeichen dafür, dass der offizielle Teil des Abends beginnen würde. „Wir sollten zur Bühne gehen“, schlug jemand vor. Rufus nickte und verabschiedete sich. Bei der Bühne würde er bestimmt Jeremy und June finden. Auf dem Weg dorthin begegnete er der älteren Lady, mit der er eine Loge geteilt hatte. Sie erkannte ihn und er begrüßte sie höflich. Er führte sie zu ihrem Platz und suchte dann seinen. Er war inzwischen so spät dran, dass er sich lieber auf einen Platz am Rand setzte, als bis zu seinem Platz in der Mitte der Stuhlreihen durchzudrängeln. Dann ging das Programm auch schon los und ein Typ aus dem Fernsehen, Rufus kam nicht auf den Namen, begann zu moderieren. Jeremy war in den vorderen Reihen nicht zu sehen, also war er wohl irgendwo anders, von wo man ihn auf die Bühne holen würde. Rufus stellte sich auf einen langen Abend ohne ihn ein…
Die Reden waren zu lang, der Moderator war redegewandt und hatte Humor, das musikalische Programm war erstklassig, aber es dauerte mehr als eine Stunde, bis die Aufforderung zum Diner erfolgte. Rufus schob sich mit all den anderen hochoffiziellen Gästen in den Crush Saal. Dort gab es Platzkarten und er wurde zu einem Platz geführt, der neben anderen wichtigen Förderern war. Rufus kannte jetzt immerhin schon einige und so konnte er sich während des Diners ganz gut mit ihnen über klassische Musik und die Höhepunkte des Abends unterhalten. Am völlig anderen Ende des Raums konnte er immerhin einen Blick auf Jeremy und June und den Dirigenten des Grimes erhaschen. Jeremy schien ihn auch zu sehen, denn er hob den Kopf und zwinkerte. Dann widmete er sich wieder dem Gespräch mit June und einem anderen Künstler. Rufus dauerte das alles zu lang und er merkte, wie er innerlich immer unruhiger wurde. Also beschloss er, etwas zu tun, was er zuletzt auf der Schule in Harrow getan hatte: Heimlich rauchen. Er ließ sich entschuldigen und suchte einen Weg zu einem der Balkone, die einen Ausgang zur Dachterrasse hatten. Da war er mit seinem Vorhaben bestimmt nicht allein und könnte eine Zigarette schnorren. Da waren ein paar Herren mit Zigarren und eine Frau mit Zigarette. Rufus hatte Glück. „Ist ganz schön offiziell da drinnen, stimmt’s?“, bemerkte sie und machte einen Rauchkringel. Sie zündete ihm die Zigarette an und wartete, bis er den ersten tiefen Zug getan hatte. „Kann man wohl sagen. Sind Sie Künstler oder Publikum?“, fragte er.
„Regie, ich bin nominiert. Und Sie?“
„Publikum. Mein Bruder steckt Geld in den Laden.“
„Das ist aber erst die halbe Geschichte“, folgerte sie beim nächsten Zug, „darf ich raten?“
Rufus nickte.
„Unglücklich verliebt.“
Jetzt verschluckte er sich vor Überraschung am Rauch. „Chhhh, ziemlich dicht dran.“
„Tja, gehört zu meinem Job. Ich kann Menschen gut einschätzen.“ Sie lächelte halb entschuldigend, halb erfreut, weil sie so richtig gelegen hatte. „Wo liege ich daneben?“
„Glücklich verliebt, aber unglücklich. Wir dürfen nicht offiziell zusammen sein. Zumindest nicht im Moment.“
„Und der Moment ist zu lang.“
„Genau.“
„Dann wünsche ich Ihnen und Ihrer Liebsten alles Gute.“
„Danke. Sie sind sehr…nett.“ Rufus lächelte ein bisschen und musste wohl so aussehen, als hätte sie wieder etwas daneben gelegen.
„Welcher Teil stimmt nicht?“
„Er ist mein Liebster“, sagte Rufus und fand überhaupt nichts dabei, es dieser völlig fremden Frau zu erzählen.
„Er ist dumm, wenn er Sie hier allein lässt.“ Das war nicht mehr und nicht weniger als eine klare Feststellung. Dann drückte sie ihre Zigarette aus, lächelte zum Abschied und ging hinein. Rufus rauchte noch allein zu Ende. In der Hosentasche summte sein Handy. Text Message. Wo bist du, ist alles in Ordnung? Kisses. Rufus überlegte kurz. Dann schrieb er: An der Luft. Love u.
Die Podiumsdiskussion begann gleich nach dem Diner. Rufus hatte auch hier einen reservierten Platz auf Richards Namen, tauschte aber mit jemandem weiter hinten. Er wollte nicht wirklich dicht an der Bühne sein, wenn Jeremy mit June interviewt wurde und das war auch gut so. Wenn man Jeremy kannte, war seine Nervosität nicht zu übersehen. Er saß viel zu aufrecht in seinem Sessel und strich sich immer wieder mit den Händen über die Schenkel, was seine Anspannung verriet. June legte ihm wie zufällig eine Hand auf den Arm und drückte ihn. Das wirkte vertraut, war es aber nicht. Trotz allem kam Jeremy souverän und sympathisch rüber. Er beantwortete Fragen, ob er gern in England singe, sehr charmant und schwärmte glaubhaft von Brittens Musik. Und ja, der Grimes habe für ihn eine besondere Bedeutung in seiner Karriere, denn es sei eine Partie, in der man sich mit einem so großen Vorbild wie Peter Pears messen müsste. Und ja, er sehe vor allem das Menschliche in der Rolle, nicht das Ungeheuer. Im Vergleich zu Jeremy blieb es June überlassen von der Produktion an sich zu schwärmen und dem besonders herzlichen Verhältnis, dass sie miteinander hätten. Sie drückte wieder Jeremys Arm und lächelte ihn an. Rufus kam sich ein bisschen vor, wie in einem Boulevard Stück. Das müsste eigentlich jeder merken, dass sie hier etwas inszenierte, was Jeremy nur passiv geschehen ließ, aber wenn sich Rufus bei den Leuten ringsum umschaute, dann fiel denen dabei wohl nichts auf. Er verspürte schon wieder das Bedürfnis nach einer Zigarette. Irgendwas war hier faul. Er wartete ab, bis Jeremy und June die Bühne verließen und das Orchester etwas Musik machte, bevor das nächste Interview folgte. Wenn das so weiterginge, könnte er nicht ständig Zigaretten schnorren. Er ging zur nächsten Bar und fragte den Keeper, ob er Zigaretten hätte. Der grinste entschuldigend und meinte, bei den Toiletten im Keller gebe es einen Zigarettenautomaten. Rufus zögerte. Wenn er jetzt nachgab und eine Packung kaufte, dann könnte er wieder von vorn anfangen mit dem Aufhören. „Machst du Cocktails?“
Der Barkeeper nickte.
„Dann bitte einen Himbeer Daiquiri.“
Der Barkeeper ging ans Werk und Rufus sendete jetzt noch einen Text. Lass‘ uns abhauen, sobald es geht. xxx. Die Antwort kam umgehend. Kann es kaum erwarten bei dir zu sein. Halbe Stunde. Rufus lächelte für sich. Wahrscheinlich hatte Jeremy genau das gleiche gedacht und genau zeitgleich getextet. Er war so verliebt in den Mann… Jetzt stellte der Barkeeper den Himbeer Daiquiri vor ihn hin. „Danke.“
„Also bist du es!“, sagte plötzlich jemand schräg hinter Rufus. Kannte er die Stimme?
„Hey, Posh Boy, ich habe dich fast nicht erkannt, mit dem dunklen Haar! Was machst du hier so allein?“
Rufus fuhr herum und bemühte sich um Fassung. Das konnte nur er sein. Oh, bitte nicht. Oliver.
„Nenn' mich nie wieder so“, zischte er ihn an, „und verzieh dich.“
„Wer wird denn so nachtragend sein, nach all den Jahren.“ Der Mann, Oliver, setzte ein Grinsen auf, an das sich Rufus nur zu gut erinnerte. Es bedeutete so viel wie stell dich nicht so an.
Das reichte. Rufus stand sofort auf und wandte sich zum Gehen. Oliver trat ihm in den Weg und hielt ihn am Arm. „Hey, komm, was ist schon dabei, wenn wir was zusammen trinken und uns unterhalten?“
Rufus widerstand dem Impuls, dem Mann eine reinzuhauen, stattdessen wand er seinen Arm frei und blickte ihn voller Zorn und Abscheu an. „Ich gehe jetzt und dich habe ich nie gesehen!“ Das musste reichen. Er ging direkt in Richtung Ausgang, ohne sich umzudrehen, aber mit unwillkürlich geballter Faust. Er ignorierte die Leute rechts und links und ging einfach. Draußen winkte er eilig ein Taxi heran. „Fahren Sie mich nach Hampstead.“ Dann versuchte er, sich im Taxi wieder unter Kontrolle zu bringen. Es war so dumm, jetzt noch so zu reagieren, nach all den Jahren. Beruhig dich. Ganz ruhig. Endlich nahm er sein Handy und wartete kurz, bis seine Hand nicht mehr zitterte. Er textete. Komm heim. Bin schon los. Hab’s vor Langeweile nicht ausgehalten.