Zwei Dinge weckten Dallas spät am nächsten Morgen. Ein wiederholtes „Hatschiiieh“, von seinem definitiv erkälteten Werwolf- Freund und der Duft von frischem Kaffee. Er beschloss nachzusehen, was sich in der Küche tat und schnell unter die Dusche zu springen, solange Dugan noch schlief, dann ginge es schneller.
„Guten Morgen“, grüßte er, als er sah, dass da Robert mit dem Wasserkessel am Herd stand und Tariq dabei war, den Tisch zu decken. Da waren neue Einkaufstüten, also war wohl irgendwer schon aus dem Haus gewesen, ohne dass er das mitbekommen hatte. Na, kein Wunder.
„Guten Morgen, du Langschläfer.“
„Morgen, Laddie. Wo ist deine Lordschaft?“
Dallas grinste. „Der schläft noch, ist erkältet. Wenn ihr sowas wie Erkältungstee findet, das wäre cool. Ich bin im Bad.“
Tariq und Robert sahen sich etwas verdutzt an. „In dem Wolfspelz kann das nicht passiert sein…“
Dallas duschte nur kurz und als er damit fertig war, kam auch Dugan ins Bad. Er sah noch immer müde aus. „Guten Morgen, Hellfire.“
„Dir auch.“ Dugan kam direkt für einen Guten Morgen Kuss ans Waschbecken, wo Dallas stand. Der genoss den Kuss und stellte sich vor, wie es von nun an immer so sein würde. Als Dugan so schnell nicht locker ließ, lachte er und schob ihn von sich.
„Bild dir nichts ein, es gibt gleich Frühstück und wir haben nicht unendlich Zeit.“
„Nicht?“, beschwerte sich seine Lordschaft.
„Heute Morgen nicht. Wir gehen zu dieser Beerdigung.“
Mehr musste Dallas gar nicht erklären. Natürlich würden sie das tun, wenn Dallas es so wollte. Aber eines wollte Dugan doch wissen:
„Was willst du da? Wir haben uns doch von Andy verabschiedet.“
Dallas schaute sehr ernst. „Ja. Aber ich will wissen, was das für eine Familie ist, die nicht ins Krankenhaus kommt, sich nicht um die Kater kümmert oder sonst was.“
Dugan nickte. „Okay, ich beeil mich.“
Dann sah er zu, dass er unter die Dusche kam. Dallas ging inzwischen schon zu Tariq und Robert. Er wollte fragen, ob sie auch mitkommen wollten.
Natürlich wollten die zwei mitkommen. Robert fand, er habe Andy zwar nicht gekannt, aber er wollte ihm gern die letzte Ehre erweisen. Tariq ging es ebenso und ähnlich wie Dallas. Er wollte sehen, was für eine Familie das war, die sich so von ihrem Sohn abwandte. Er wusste, dass seine eigene Familie Janice akzeptieren und aufnehmen würde, wenn sie sich erst kannten und besser kennenlernten. Mit Homosexualität hätten sie als Muslime wahrscheinlich ihre anfänglichen Schwierigkeiten, aber sie lebten lange genug in England und wären niemals ihrem eigenen Fleisch und Blut gegenüber so herzlos. Das brachte Dallas in Gedanken unweigerlich zu der Frage, wie seine Leute wohl damit klarkämen, dass sich sein Freund einen Wolf verwandeln konnte. Seine Mum hoffte ganz sicher noch immer, dass er das richtige Mädchen finden könnte. Stattdessen hatte er einen Werwolf gefunden. Er lächelte vor sich hin, bei dem Gedanken. Allerdings müsste er diese Frage nicht heute und nicht morgen beantworten und das war auch verdammt gut so. Als Dugan dann zu ihnen an den Tisch kam, musste Dallas ihm einfach ein riesengroßes Lächeln schenken. Nach der letzten Nacht war klar, dass es nichts und niemanden gab, der sie wieder trennen könnte. Kaum saß Dugan, da schob Dallas ihm eine Tasse Erkältungstee hin. Sein Wolfsfreund lächelte dankbar zurück.
„Du siehst gerade aus, als wolltest du mich fressen“, bemerkte er.
„Da könntest du Recht haben“, fand Dallas.
Tomnahurich Cemetery lag auf einem Hügel über der Stadt. Es war ein alter Friedhof, mit zahlreichen historischen Grabmälern und Engelsfiguren, die hier unter Bäumen die steilen Wege säumten und Dallas fand es beinahe tröstlich, dass Andys Familie ihn hier bestatten ließ. Der Ort hatte etwas Besonderes und wirkte wild romantisch. Aber Robert, der so ziemlich jede Geschichte aus den Highlands zu kennen schien, erzählte, dass der Hügel angeblich von Feen behaust wurde und nicht ganz geheuer war. Das war der Grund, warum Gräber hier, außerhalb der Stadt und im neueren Teil des Friedhofs besonders günstig waren. Wer es sich leisten konnte oder wollte, der ließ seinen Angehörigen auf einem Friedhof bei den Kirchen der Stadt beerdigen. Dugan merkte sehr wohl, dass Dallas nun in eine Stimmung verfiel, die am ehesten eine Mischung aus Trauer, Wut und Ohnmacht war. Er legte einen Arm um ihn, während sie einem bewachsenen, steinigen Pfad folgten, der zu Andys Grabstätte führte. Was könnte er sagen? Immerhin gäbe es ein Grab für Andy. Das war mehr, als es für seinen eigenen Vater gab. „Nimm’s nicht so schwer“, flüsterte er ihm zu, „das sind nur seine sterblichen Überreste. Er hat uns in diesem Krankenhaus verlassen. Und du warst bei ihm.“ Dallas versuchte tapfer zu lächeln, während er einen Strauß aus Frühlingsblumen trug. Er wusste, dass Dugan die Wahrheit sprach, aber es tat dennoch so weh, sich vorzustellen, dass dieser Ort nicht aufgrund der Schönheit seiner Natur gewählt worden war, sondern aus Gründen der Kostenersparnis. Das war jedoch noch nicht das Schlimmste. Als sie mit Robert und Tariq um die nächste Biegung kamen, erblickten sie unter einem alten Baum das Loch im Boden, in den sechs Träger den Sarg bereits herabließen. Dabei standen eine nicht mehr junge Frau in grauem Mantel, die eine Sonnenbrille trug, offenbar Andys Mutter und ein junger Mann mit einer jüngeren Frau im Arm, womöglich Bruder und Schwester oder ein Paar. Es gab keine Blumen, Kränze oder irgendwas, was an eine Zeremonie erinnerte. Ein Bestatter gab mit wenigen Worten Anweisungen, das Grab zu schließen. Dugan blieb mit Dallas stehen und war nicht sicher, ob sie wirklich zu diesen lieblosen Menschen gehen sollten. Auch Robert und Tariq standen da und schienen nicht zu glauben, was sie sahen. Dallas machte ruckartig einen Schritt vor und Dugan hielt ihn zurück. „Was willst du da?“, fragte er. „Lass uns warten, bis die weg sind.“
Dallas sah das anders. Er blickte Dugan entschlossen an. „Nein. Die kommen mir so leicht nicht davon.“
Dugan gab nach und folgte mit den anderen, während Dallas mit festen Schritten voranging. Sie stellten sich zu den Angehörigen und als sonst niemand den Eindruck machte, als wolle er etwas sagen, trat Dallas mit dem Blumenstrauß vor, um genau das zu tun. Die Worte von letzter Nacht kamen ihm wieder in den Sinn und sie schienen ihm genau richtig in diesem Moment.
„Hier liegt nun Antony Fraser, einer der besten Männer, die mir je begegnet sind. Er war viel zu jung zum …sterben und er hat es nicht verdient, so zu sterben. Er war ein fantastischer Tänzer, ich nehme an, er war auch ein guter Friseur. Er mochte Queen und die Sex Pistols, seine Kater und mich. Es war mir eine Freude, ihn gekannt zu haben und eine Ehre, seinen Tod zu rächen. Wir werden dich nie vergessen.“
Mit den letzten Worten warf Dallas die Blumen auf den Sarg, der schon zum Teil mit Erde bedeckt war. Dann traten nacheinander Dugan, Tariq und Robert an die Grube und ließen ihren letzten Gruß zurück. Dallas fühlte sich, als würde ein Teil von ihm mit in der Tiefe liegen, doch mit der allergrößten Beherrschung, die er nur aufbringen konnte, hielt er seine Tränen zurück. Er würde nicht vor diesen Leuten weinen. Als er zu der Mutter sah, wirkte die wie versteinert. Der junge Mann daneben schaute ihn direkt an, aber da war nur Abscheu in seinem Blick. „Verzieht euch hier, ihr Schwuchteln“, presste er hervor und Dallas entschied einfach nur, dass es keiner von denen wert war, dass man ihnen erklärte, was sie wohl nicht verstehen konnten. „Keine Sorge. Wir verziehen uns“, sagte er so ruhig, dass es schon unheimlich war. Dugan legte ihm einen Arm um die Schulter und schaute nur verächtlich von der Frau zu den anderen, was die drei tatsächlich einzuschüchtern schien. Vielleicht war es unter dem alten Baum dunkel genug, sodass sie das Reflektieren in seinen Augen sahen. Dann gingen sie. Robert konnte sich ein „Komm, Schwuchtel, wir gehen“, nicht verkneifen und hakte sich bei Tariq ein. Erst jetzt, auf dem Rückweg, ließ Dallas seine Tränen laufen.