Jeremy kannte sich inzwischen recht gut in der Stadt aus und suchte sich erst einmal einen Platz, wo er versuchen konnte, klar zu denken. Er wollte nicht direkt zurück ins Hotel und war erst um ein paar Ecken gebogen, als er bemerkte, dass ein kleiner Durchgang zum Garten der St. Paul’s Church geöffnet war. Hier war er noch nie und der kleine Garten wirkte einladend, also ging er hinein und suchte sich eine Bank unter einem Baum. Er brauchte ein paar Minuten, in denen er nur dasaß und dem Vogelgezwitscher lauschte. Dann entschied er, dass es niemandem helfen würde, wenn er zum Donmar ging, um Rufus direkt alles zu erzählen. Dort würde die Vorstellung bald beginnen und er wollte nicht noch eine Vorstellung platzen lassen. Er würde eine Nachricht hinterlassen, damit Rufus wüsste, dass er bereits in Hampstead sei und er solle sich deswegen keine Sorgen machen. Dann fiel ihm ein, dass er Peter anrufen müsste oder sogar ein Treffen mit ihm vereinbaren sollte. Bestimmt wüsste sein Manager schon Bescheid, aber es wäre das einzig Richtige, ihm die Situation selbst zu erklären. Also rief er an. Peter war tatsächlich schon informiert. „Was hat dich nur so aufgebracht, dass du vor der Vorstellung einfach herausstürmst?“ Das war wohl die naheliegendste Frage. Jeremy versuchte sachlich zu bleiben, während er alles so gut wie möglich erklärte. Es hatte einen heftigen Streit mit June gegeben und er war zu aufgewühlt, um zu singen. Und wenn es möglich sei, dann wolle er die Preisnominierung rückgängig machen. Sie hätten von vornherein ehrlich sein müssen, jetzt sei alles aus dem Ruder geraten. Jeremy ließ aus, dass June ihn mit abfälligen Äußerungen über Rufus und ihn zutiefst enttäuscht hatte. Peter reagierte überrascht, jedoch professionell, versprach sich zu erkundigen und fragte, ob er sonst etwas für ihn tun könnte. „Das ist nett von dir, aber ich weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht.“
„Beruhige dich. Wir haben einen Tenor aus dem Chor als Zweitbesetzung. Vielleicht sieht alles in zwei Tagen schon wieder anders aus.“
Jeremy wünschte sich, er könnte den Optimismus seines Managers teilen. „Meinst du?“
„Ja. Beruhige dich, fahr zu deinem Freund und lass mich alles regeln. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“
„Danke dir.“
„Keine Ursache.“
Jeremy legte auf und schaute nach oben in die Blätter des Baumes. Er fühlte sich noch immer schlecht wegen June und weil er jetzt alle im Stich zu lassen schien. Aber er war sich sicher, das Richtige zu tun. Wenn es keine Preisverleihung mehr gab, dann gab es auch kein Druckmittel mehr. Auf dem Weg zur Straße holte er sich noch eine heiße Schokolade, dann nahm er sich ein Taxi und fuhr nach Hampstead. Er schrieb Rufus eine Nachricht. „Erwarte dich zuhause. Alles ist gut. Dinner gibt’s aus Camden. Luv XXX“
Rufus kam nach der Vorstellung wie immer schnell in die Garderobe. Auf dem Schminktisch lag sein Handy mit der Nachricht. Da stimmte doch etwas nicht. Wie könnte alles gut sein, wenn Jeremy nicht seinen geliebten Grimes an dem Abend sang?! Rufus zog sich um, entfernte das Bühnen Make-Up mit routinierten Handbewegungen und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Das war schon merkwürdig. Warum hatte Jem seine Vorstellung abgesagt? Okay, da stand auch, es sei alles in Ordnung. Vielleicht hatte Jeremy sich einfach auf dem Motorrad oder im Park verkühlt und konnte deshalb nicht singen. Rufus grinste bei dem Gedanken, wie er dafür sorgen würde, dass Jeremy das Bett nicht verließ… Dann schaute er durch ein kleines Fenster zum Hinterhof, um zu sehen, was sich am Bühnenausgang tat. Es war Montag, also war nicht so viel los, wie an anderen Tagen. Ein paar seiner Kollegen und Kolleginnen waren schon durch. Er beschloss, es einfach hinter sich zu bringen und schnappte sich seinen Helm. Der war ein gutes Zeichen dafür, dass er ganz sicher bald nachhause wollte und normalerweise respektierten seine Fans das. Draußen gab es erst einen kleinen Applaus, als er vor die Tür kam, dann war er auch schon von ein paar Leuten umringt, die unbedingt ein Autogramm oder ein Selfie wollten. Sie waren noch aufgeregt nach der Vorstellung, teilweise auch völlig neben sich – ein Gruppe Mädchen – aber alles in allem sehr freundlich und nett. Rufus beantwortete ein paar Fragen und schrieb seinen Namen ungefähr dreidutzendmal auf alles Mögliche von Eintrittskarten und Programmheften bis zu Gipsverbänden und T-Shirts. Er blinzelte in die Blitzlichter der Handys und versuchte dann so langsam einen Rückzug in Richtung Motorrad. „Es ist spät, ich bin müde und fahre noch ein Stück“, sagte er. Das sahen die restlichen Theaterfans ein und verabschiedeten sich. Sie zogen durch einen Zugang zur Straße ab und Rufus wollte noch einmal auf sein Handy schauen, ob es weitere Nachrichten gäbe, als plötzlich jemand aus dem Schatten des Hinterhofes hervortrat, sodass die Lampe über dem Bühneneingang sein Gesicht traf. Rufus erkannte ihn sofort. Oh shit, Oliver. Und er grinste, als wäre es die normalste Sache der Welt, in einem Hinterhof jemandem aufzulauern. „Was willst du hier, verzieh dich!“, zischte Rufus und hoffte, dass man seiner Stimme nicht anmerken würde, wie sehr er sich gerade zusammenreißen musste.
„Nicht doch, nicht doch. Kriegen etwa alle ein Autogramm, nur dein alter Freund Oliver nicht?“ Olivers Stimme klang gespielt empört und er kam noch immer näher. Rufus war klar, dass ein lautes Rufen bestimmt ein paar Leute aus dem Theater locken würde, also bestand keine unmittelbare Gefahr und er versuchte, sich nicht einer irrationalen Angst zu ergeben. Stattdessen schaute er Oliver verächtlich an.
„Du hast 'ne sexy neue Haarfarbe“, fuhr Oliver fort und schien es zu genießen, „nicht sehr originell, aber effektiv. Und du bist tatsächlich Schauspieler. Da wäre ich so schnell nicht darauf gekommen, dass du es bist. Danke, dass du so nett warst, mir zu zeigen wo du wohnst.“
Rufus hielt es noch immer für das Beste, nichts zu sagen. Vielleicht würde Oliver einfach den Spaß an diesem dummen Spiel verlieren, wenn er gar nicht darauf einging. Rufus kramte in seiner Jackentasche nach dem Zündschlüssel. Wo war das verfluchte Ding?
„Und wie eh und je bereitest du nichts als Schwierigkeiten“, machte Oliver hämisch weiter, „Dieser arme Ami kriegt den Preis nie, wenn die herausfinden, dass er dich fickt.“
Rufus hatte den Schlüssel jetzt gefunden und steckte ihn ins Schloss. Er wollte gerade starten, da packte Oliver seine Hand auf die von Rufus und hielt ihn davon ab.
„Jetzt hau doch nicht gleich ab. Willst du denn gar nichts für ihn tun?“
„Es gibt wohl nichts, was ich tun kann. Du bist völlig irre. Lass mich in Ruhe.“ Rufus wollte jetzt starten, doch Oliver drehte ihm die Hand am Zündschloss weg. Rufus riss sie sofort aus seinem Griff und startete den Motor.
„Schade, echt schade. Du versuchst es nicht mal. Ich dachte, der Typ wäre dir mehr wert.“
Widerwillig schaltete Rufus den Motor wieder aus. Was sollte das alles? Worauf wollte Oliver bloß hinaus? „Hör zu, du hast deinen Spruch gemacht und wenn du einen Kick davon kriegst, dass du herausgefunden hast, was Jeremy und ich verheimlichen, dann nur zu. Freu dich. Krieg deinen Kick. Aber glaub nicht, dass ich so blöd bin zu denken, dass du wegen Geld aufhörst.“
„Wer hat denn was von Geld gesagt? Ups!“
„Also raus mit der Sprache, was willst du?“ Rufus versuchte, so abgebrüht wie möglich zu klingen. Auf gar keinen Fall würde er Oliver den Triumph gönnen, dass er Angst zeigte.
„Ach komm, du weißt es doch“, sagte Oliver jetzt in einem seltsam sanften, unheimlichen Ton.
Rufus wusste nicht und er wollte es auch nicht wissen. „Sag schon oder hau endlich ab!“
Oliver grinste. „Du und ich, wir hatten doch auch schöne Zeiten und ich habe dir `ne Menge beigebracht.“
Rufus konnte nicht verhindern zu blinzeln. Schöne Zeiten, war das sein Ernst? Schlug er allen Ernstes vor, dass sie Sex hätten? Was hatte er ihm sonst beigebracht? „Du bist echt der Letzte mit dem ich jemals wieder irgendetwas…“
„Ach komm schon. Wie man sieht, stehst du doch auf ältere Typen. Ich hab’s immer gewusst!“
„Das ist etwas völlig Anderes. Und das weißt du. Und du redest Scheiße!“ Rufus‘ Stimme wurde lauter. Das war nicht gut. Auf gar keinen Fall Angst zeigen!
„Gut, gut. Sag was du willst. Aber wundere dich nicht, wenn demnächst in der Zeitung steht, mit was für einem geilen Burschen sich dein Ami eingelassen hat. Ich bin sicher, die Leser finden das alles höchst interessant. Vielleicht erzähle ich denen auch was von all den schönen Abenteuern, die wir hatten.“ Olivers Spott war unerträglich und Rufus biss sich inzwischen selbst auf die Unterlippe, um einen klaren Kopf zu bewahren. Oliver drohte nur. Es war doch auch nicht in seinem Interesse, wenn man ihn mit einem Minderjährigen in Verbindung brachte, der unter Drogen stand.
„Das sind alles leere Drohungen“, brachte er heraus.
„Dann lass es doch darauf ankommen. Es sind nur noch ein paar Tage. Genug Zeit, um den Ruf deines Sugar Daddys zu zerstören. Nicht genug Zeit, um alles zu erklären, was dich angeht.“
Rufus schluckte. Auf eine perfide Art hatte Oliver Recht.
„Ich kann’s kaum erwarten“, hörte er Oliver sagen und sah, wie der sich die Lippen leckte.
„Du kannst mich mal“, spie er verächtlich aus und startete wieder den Motor.
„Oh ja. Das werde ich auch. Spätestens übermorgen, sonst landet alles in der Zeitung.“
Rufus ließ die Maschine aufheulen und jagte davon. Er wünschte sich, alles so schnell hinter sich lassen zu können, wie diesen Geist aus der Vergangenheit im Hinterhof.