Am nächsten Morgen dauerte es lange, bis irgendeiner von beiden sich entschließen konnte, wirklich zuzugeben, dass er wach war.
„Rrrrrufus, bist du wach?“
„Mmmmhh, neiin. Schlaf weiter.“
Dann, etwa eine Stunde später: „Jeremy? Jeeeeemmmh? Schläfst du noch?“
„Jjjjaaa.“
Irgendwann, noch später, als draußen ein Hund bellte: „Jetzt bist du wach, oder?“
„Nein, sei leise.“
„Ich war das nicht.“
„Trotzdeemmm.“
Irgendwann summte ein Handy ziemlich penetrant, sodass Jeremy glaubte, es sei seins und deswegen aus dem Bett rollte, um es zu suchen. Als er es fand, stellte er fest, dass es nicht seins war. Seins hatte keinen Strom mehr. Er gab das penetrante Ding an Rufus. „Hier, deins. Ich liebe dich trotzdem“, nuschelte er.
„Wann, jetzt gleich oder später?“
Jeremy grinste. Die freche Antwort war einer der Gründe warum, aber das brauchte er nicht zu sagen. „Guck mal auf die Uhr. Später, würde ich sagen.“
Rufus drückte den Anruf weg. Bestimmt war das seine Agentur. Niemand sonst würde ihn überhaupt am Vormittag anrufen, vorausgesetzt es wäre noch Vormittag. Er blinzelte den Wecker an. Nein, es war bereits kurz vor eins. „Oh je, wann ist dieser Pressetermin?“
Jeremy gab seinem Handy Strom. „Keine Ahnung, wir sollten einfach sehen, dass wir in die Stadt kommen. Vielleicht gibt es auch was Neues von der Polizei.“ Er machte das Teil an. Drei Anrufe in Abwesenheit. June, Peter und Unbekannt. Das wäre jetzt wohl auch schon egal.
Rufus hatte bereits einen kleinen Vorsprung und sich eine Jeans angezogen. Jetzt suchte er nach einem Hemd. Okay, wenn Rufus ein Hemd anzog, dann würde Jeremy das auch tun. Er fand keins mehr in seiner Tasche, aber bestimmt wären welche im Hotel. Er schnappte sich eins von Rufus‘ T-Shirts, was er ja neuerdings sowieso viel aufregender fand und stellte fest, dass Blutflecken auf seiner Hose von gestern waren. Also würde er sich im Hotel wohl nochmal rasch umziehen müssen. „Beeil dich“, bat er Rufus.
„Ja, ja. Wir sind vielleicht zwei Langschläfer.“
„Hast du alles?“
„Glaube schon. Sieh zu.“
Im Handumdrehen waren sie in den Motorradjacken und Jeremy hätte sich in der Eile beinahe sogar einen Helm aufgesetzt, wenn ihn Rufus nicht gerade noch rechtzeitig davon abgehalten hätte. Er lachte, dann schob er Jeremy aus der Tür und sogleich ging es in Richtung Covent Garden und Hotel.
Dort angekommen, war Jeremy nicht sicher, wo er sich mit Peter treffen sollte und er rief ihn jetzt auf dem Handy an, während er mit Rufus zu seinem Hotelzimmer ging. „Hi Peter, wir sind im Hotel. Wo sollen wir hinkommen?“
„Jeremy? Du machst mir Spaß. Ich habe dich vor drei Stunden angerufen. Wieso gehst du nicht ran?“
„Sorry. War beschäftigt.“
„Ich bin ziemlich sicher was du meinst, aber die Polizei hat versucht, dich zu erreichen.“
„Ja, sorry. Also, was geht?“
Peter kam direkt zur Sache. Er war mit zwei Journalisten in der Crush Bar und Jeremy und Rufus sollten auch dahin kommen und nach Möglichkeit repräsentabel aussehen. Peter wusste natürlich von der angebrochenen Nase und er hätte schon gut damit zu tun, den beiden von der Presse zu erklären, worum es eigentlich bei dem Outing ging, aber die würden ihm auch schon wegen der Sache am Donmar in den Ohren liegen. Jeremy versprach, sich zu beeilen.
Jetzt hatten er und Rufus das Hotelzimmer erreicht und Jeremy kramte nach einer anderen Hose, während Rufus ein Hemd auswählte. „Das hier“, fand er und hielt Jeremy eines in Lapislazuli hin, das Jeremys Augenfarbe unterstrich. „Ich finde, dein T-Shirt steht mir besser“, maulte der.
„Wenn das jetzt so wichtig ist, dann lass es drunter, aber in einem Hemd wirkst du mehr wie ein Opernstar.“
„Wirke wie? Was soll das heißen? Ich bin einer.“
„Ist doch alles nur Tarnung, du Sexgott.“ Rufus grinste.
„Hör auf, sonst krieg ich glatt `ne Erektion. Das fehlt noch, wenn wir zu `nem Interview müssen.“
„Also ich find’s sexy.“
„Ahhhhh, hör bitte auf!“
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“ Rufus lächelte eindeutig zweideutig, gab Jeremy dann aber einen vorsichtigen und beinahe keuschen Kuss, ohne die Nase zu gefährden. Jeremy zischte trotzdem und bat um Gnade. Rufus rollte scherzhaft mit den Augen, dann ließ er sich von Jeremy aus dem Zimmer schieben, bevor sie wirklich anfangen würden, nicht zum Pressetermin zu gehen.
In der Crush Bar saß Peter mit den Journalisten- ein Schreiber, ein Fotograf? - an einem kleinen Tisch und hatte bereits irgendwelche Zeitungsartikel oder Papierkram vor sich liegen. Jeremy und Rufus steuerten den Tisch direkt an. Rufus flüsterte Jeremy zu, der Fotograf sei gay. „Woher weißt du das?“
„Guck, wie der guckt“, wisperte Ru zurück. Jeremy versuchte unauffällig zu gucken und nicht zu grinsen. Dann stellten sie sich kurz vor, setzten sich und Peter ließ Kaffee und Kekse für alle kommen. Sah man den beiden etwa an, dass sie ohne Frühstück unterwegs waren? Vielleicht war Peter auch einfach echt gut in seinem Job. Er erkundigte sich erstmal nach Jeremys Nase. „Geht schon. Ich denke, ich kann so singen und auftreten. Kein Problem mit der Luft, keine Gehirnerschütterung“, gab Jeremy zurück.
„Das hatte ich gar nicht gemeint, aber das ist auch schön zu hören.“ Peter nickte. Er hatte den Journalisten bereits erzählt, was passiert war und jetzt ging es eben darum, einen Artikel zu verfassen, der eben offen darstellte, was eigentlich los war.
„Was wissen Sie denn schon?“, wollte Jeremy von den Typen wissen.
Der Schreiber meinte, es ginge um ein Outing und sie hätten den Artikel der Opera Now und einen von der Times gelesen, in denen es eher den Anschein hätte, dass Jeremy und seine Kollegin ein Paar wären. Das wäre dann wohl zu korrigieren. „Vielleicht erzählen Sie einfach ihre Version und dann werde ich bestimmt ein paar Fragen haben. Eventuell auch an Sie, Mr. Sommerford, wenn das okay ist?“ Er wandte sich an Rufus.
„Ja sicher. Ich bin deswegen ja dabei.“
Jeremy hatte sich schon gedacht, dass es so laufen würde und erzählte eine kurze aber wahrheitsgetreue Version. Er hatte Rufus am Premierenabend kennengelernt, okay, das war ein bisschen unpräzise, aber nicht falsch und sie seien seitdem zusammen und frisch verliebt, das klang doch richtig gut. Die Nominierung für einen Preis bei eher konservativer Jury habe ihn dazu bewogen, sich bedeckt zu halten, auch um Musiker- Kollegen einen Gefallen zu tun, was ein Fehler war, denn jetzt sei die Situation eskaliert. Er habe sich mit seiner Kollegin überworfen, eine Vorstellung geschmissen und ein Erpresser habe seinen Freund bedroht. Gestern Abend gab es deswegen eine Prügelei am Theater, wo Rufus arbeitet.
Der Typ nickte, als Jeremy geendet hatte. „Okay, Mr. Harrison, da packen wir ein bisschen mehr vom gewissen Etwas hinzu, was die Leser gern wissen würden. Waren Sie mal verheiratet oder in einer langfristigen Beziehung?“
„Nicht verheiratet, aber in einer festen Beziehung mit einem Mann, ja, fünfzehn Jahre , bis zu seinem Tod.“
„Das war wann?“
„Vor sechs Jahren. Seitdem war ich Single.“
„Gibt es Grund zu der Annahme, dass sie eine Beziehung zu Miss June hätten?“
„Außer, dass man das theoretisch annehmen könnte, wenn man nicht weiß, dass ich mich nicht für Frauen interessiere, keinen.“
„Okay. Könnten Sie mir Mr. Sommerford beschreiben?“
Jeremy wurde etwas verlegen. „Er sitzt doch da.“
„Ich meine für unsere Leser und mehr so seine Eigenschaften oder wenn es was Besonderes gibt.“
„Also gut. Er ist charmant, intelligent, unglaublich talentiert, musikalisch, kann nicht kochen, könnte aber nur von Schokolade und Himbeerkaugummi leben. Er ist mutig und stärker, als er selbst weiß. Auch wenn’s altmodisch klingt, ist er kultiviert, ein Familienmensch. Und er hält sich nicht an Verkehrsregeln oder Konventionen. Sonst hält er sich an seine eigenen Regeln, soweit ich weiß.“ Jeremy schaute zu Rufus, der gebannt zugehört hatte und etwas verlegen lächelte. „Kann ich auch?“, fragte er den Journalisten.
„Ja gern. Beschreiben Sie Mr. Harrison.“
„Jem ist voller Leidenschaft für alles, was er macht, vor allem für Musik. Er ist klug, gebildet, ernsthaft in allem. Was er nicht tun will, tut er nicht und erst recht tut er nichts halbherzig. Er kann kochen oder zumindest tut er so. Er ist treu, zuverlässig und er kann zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Wenn er sich an Regeln hält, dann, weil er sie für gut hält. Sie können mit ihm Pferde stehlen und er hilft auch, wenn Sie sie dann doch wieder zurückbringen wollen. Und er steht auf Black Sabbath.“
Jetzt grinsten alle, sogar Peter, der Jeremy wohl am längsten kannte. „Black Sabbath war mir neu“, sagte er. Der Journalist machte einen zufriedenen Eindruck. „Daraus lässt sich was machen“, fand er. „Können Sie mir sagen, was Ihnen dieser Preis als Sänger des Jahres bedeuten würde?“
Jeremy zögerte mit der Antwort. Das war tatsächlich nicht so leicht. „Wissen Sie, im Grunde bedeutet das gar nichts. Ich dachte, dass es das tut. Ich habe sehr intensiv an der Rolle des Grimes gearbeitet. Das habe ich wirklich, denn es ist für mich nicht irgendeine Rolle. Ich trete damit in die Fußstapfen von richtig legendären Vorbildern wie Vickers und natürlich Pears. In der Partie hat man entweder was zu sagen oder man lässt es besser. Mein Grimes ist kein grobschlächtiges Ungeheuer oder Unmensch. Ich glaube, dass man zeigen muss, inwiefern er auch Opfer ist, bevor er zum Täter wird. Die gesellschaftlichen Bedingungen, Vorurteile und Hilflosigkeit führen in die Katastrophe. Wenn das Publikum das erkennt, dann habe ich meine Sache gut gemacht. Und dafür hätte ich gern eine Auszeichnung bekommen. Aber nicht, wenn nicht meine Leistung im Vordergrund steht. Wenn das Publikum nicht mehr unvoreingenommen sein kann, weil ich wie Pears homosexuell bin, dann ist es nicht mein Publikum.“
„Glauben Sie also, dass es einen Unterschied macht?“
„Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht, aber es wurde mir suggeriert, dass es so sein könnte.“
„Okay. Eine Frage zu gestern Abend. Wussten Sie, dass der Mann am Theater auftaucht und dass er gefährlich ist?“
Jeremy schaute kurz zu Rufus, nur um sicher zu gehen, dass er nichts sagte, was nicht stimmte. „Um ehrlich zu sein, nein. Ich bin da nur hin, weil ich ein ungutes Gefühl hatte. Aber ich habe ihn für sehr gefährlich gehalten. Das klingt etwas paranoid, aber, wenn man … schon mal mit Anfeindungen zu tun hatte, dann entwickelt man einen Instinkt für … sowas.“ Jeremy hatte es so noch gar nicht betrachtet, aber das war es wohl. Er hatte tatsächlich schlechte Erfahrungen gemacht und zwar mehr als einmal. Der Journalist schien zu merken, dass er an einem wunden Punkt angekommen war, wo er, wenn er sensibel wäre, nicht weiterfragen sollte und reagierte unerwartet verständnisvoll. „Also, reden wir doch jetzt über die Zukunft. Wie sehen ihre Pläne aus?“
Jeremys Miene erhellte sich deutlich. Wie es schien, hatte Peter den Mann und seinen Fotografen wirklich gut ausgesucht. „Als nächstes kommt der Tannhäuser in New York“, erzählte er stolz, „und wenn Rufus hier mit dem Orlando fertig ist, dann kommt er nach für ein Broadway Engagement.“
„Wie schön. Dann ist es also was Ernstes“, erlaubte sich der Journalist einen Kommentar.
„Aber ja.“
„Darf ich Sie noch etwas fragen“, wandte sich der Mann dann an Rufus.
Rufus nickte. „Sicher.“
„Sommerford ist ein Künstlername. Warum haben Sie sich dazu entschieden?“
„Wofür ist das wichtig?“
„Die Leute interessiert sowas und wenn Sie ihnen keine Auskunft geben, dann denken sie sich was aus.“
„Okay. Sommerford St. Aubyn ist zu lang und ich will nicht, dass man mich bucht, weil ich ausgerechnet diesen Namen habe. Mein Bruder, meine Familie steckt viel Geld in Kunstförderung.“
Der Journalist nickte verständig. Dann war es auch schon vorbei. „Das war’s, vielen Dank. Ich schreibe, dann maile ich alles an Peter und sie können nochmal darüber lesen, ob alles so in Ordnung ist. Und jetzt sollten wir noch ein paar Fotos machen. Vielleicht nicht hier in der Bar.“
Der Fotograf meldete sich zu Wort. „Wie wär’s oben auf der Dachterrasse? Oder im Foyer?“
„Dachterrasse finde ich gut“, kam es von Rufus.
„Okay, dann da“, stimmte Jeremy zu.
Oben auf der Dachterrasse war tatsächlich eine gute Atmosphäre. Es war ruhig und die Sonne schien und der Fotograf hatte die Idee, die beiden direkt an der Brüstung zu fotografieren, sodass man im Hintergrund die Dächer vom Covent Garden Market sehen konnte. Sie probierten ein paar Positionen aus, was aber letztlich nicht so schwierig war, da beide es gewohnt waren, auf der Bühne zu stehen und fotografiert zu werden. Auch war der Fotograf professionell und hatte so seine Ideen, wie man ein Paar in Szene setzte, ohne dass es zu gewollt oder zu gekünstelt aussah. Schließlich kam Rufus in der Frontalen etwas in den Hintergrund und Jeremy stand dicht vor ihm im Halbprofil. Rufus schaute direkt zu Jeremy und lächelte hinreißend wie immer, während Jeremy zwar nicht sah, wie er angesehen wurde, aber trotzdem wissend zu lächeln schien. Rufus sollte noch einen weiteren Knopf oben am Hemd öffnen, was er nur zu gern tat und dabei grinste. In dieser Pose machte der Fotograf ein paar Aufnahmen, auch aus verschiedenen Winkeln, dann war er zufrieden und meinte, das wär’s. Jeremy schlug schließlich vor, dass sie alle noch etwas trinken sollten, woraufhin sie sich an einen der Tische setzten. Dann musste Rufus leider als erster gehen, da er pünktlich zu seiner Vorstellung kommen müsste und verabschiedete sich mit einem Kuss für Jeremy. „Kommst du nachher hierher? Fahren wir zusammen?“, wollte Jeremy wissen. Rufus nickte. Ihm war klar, dass Jeremy wissen wollte, ob heute alles in Ordnung war und das wäre es, wenn er früh genug für die Mad Scene in der Oper wäre. Die anderen blieben noch etwas. Schließlich gingen auch die beiden von der Presse und Jeremy blieb mit Peter zurück. „Du weißt, was jetzt kommt?“, fragte Peter.
„Ich kann’s mir denken“, meinte Jeremy, „ich muss mit June reden.“
„Das würde ich auch so sehen.“