Jeremy kam als Erstem in den Sinn, dass sie jetzt vielleicht wirklich bei Richard und Miranda vorbeischauen sollten, bevor der Duke den alten Butler hinüberschicken würde. Rufus gluckste bei der Vorstellung. „Worüber du dir so Gedanken machst“, war sein Kommentar. Jeremy streckte ihm die Zunge raus. Rufus hörte auf zu glucksen. „Mach das nochmal und ich falle gleich wieder über dich her“, drohte er im Scherz. Jeremy schüttelte gespielt schockiert den Kopf. Dann gab er Rufus einen Nasenstupser, bevor er die umherliegenden Jacken und Hemden einsammelte. Rufus schickte eine kurze Nachricht an Richard und meldete sie zum Tee an. Das ließ ihnen gerade genug Zeit, um sich, wie Rufus es mit einem Augenzwinkern nannte, „präsentabel“ zu machen. „Ich weiß nicht, was du meinst“, scherzte Jeremy und kramte in neues Hemd aus seiner Tasche. „Ich geh‘ schnell duschen, kommst du mit?“, fragte Rufus.
„Da kann ich kaum widerstehen.“
Nur eine Viertelstunde später waren sie beide tatsächlich „präsentabel“, was im Wesentlichen bedeutete, dass sie nicht aussahen, als hätten sie eben erst wilden Sex praktisch im Stehen gehabt. Rufus hatte noch etwas nasses, aber gekämmtes Haar und Jeremy war nicht mehr so rot im Gesicht. Beide waren angezogen, wobei sich Rufus wieder eins von Jeremys T-Shirts gegriffen hatte. Das wurde irgendwie zur Gewohnheit, die Jeremy irgendwie sexy fand. Also er fand sexy, dass seine T-Shirts, die er normalerweise zum Schlafen trug, an Rufus sexy aussahen. Und er fand’s sexy, dass er neuerdings im Bett sowieso nie eines trug. Oder irgendwas. „Du denkst doch schon wieder irgendwas Aufreizendes“, bemerkte Rufus mit einem Lächeln um die Mundwinkel und hauchte einen Kuss auf Jeremys Nase.
„Wie kommst du… woher weißt du das?“, wollte Jeremy sofort wissen. Sah man ihm das jetzt etwa an?
Rufus lächelte jetzt richtig und wollte ihm das Geheimnis nicht verraten. „Ich kenne dich eben“, sagte er schlicht.
„Wenn du so weitermachst, dann krieg ich bei deinem Bruder am Teetisch spätestens eine Erektion.“
„Keine Ahnung, was du meinst.“ Rufus tat völlig unschuldig und schien jetzt auf irgendeine Reaktion zu lauern.
„Dir das zu glauben, wäre, wie an den Weihnachtsmann zu glauben.“
Rufus lachte, dann nahm er Jeremy einfach bei der Hand und zog ihn hinter sich her. „Wir kommen zu spät, nur, weil du so sexbesessen bist.“
„Ich bin wohl eher von dir besessen…“
„Das ist dasselbe.“
„Stimmt.“
Rufus führte Jeremy zum Hintereingang des Hauses, wo es einen Anbau für Kutschen und Gartengeräte gab. Da drin standen ein Aston Martin, ein klassischer Rolls Royce, noch von der Großmutter, ein Motorrad aus dem 2. Weltkrieg und auch Fahrräder, die eigentlich, so erklärte Rufus, für Dienstboten gedacht waren, aber jetzt würden sie sich zur Abwechslung auch mal als nützlich erweisen. Er suchte ein Herrenrad für Jeremy aus und wählte selbst ein Damenrad, das etwas moderner zu sein schien als die übrigen Herrenräder. Jeremy stellte keine Fragen und trat in die Pedale, um mit Rufus mitzuhalten. Immerhin mussten sie halb um den See und noch eine Allee entlang und das Herrenhaus war so riesig, das es nur langsam näher zu kommen schien. „Deine Familie ist echt viel Platz gewöhnt“, fand Jeremy. „Findest du? Ich kenne es nicht anders und das meiste Land ist längst Teil des Nationalparks und wir nutzen es gar nicht.“
„Wofür hat es deine Familie denn genutzt?“
„Pferdezucht und Jagden.“
„Reitest du auch?“
„Nicht mehr seit dem Unfall. Wenn du magst, dann können dir die Mädchen ein Pferd satteln.“
„Danke, aber nein danke. Nicht alle Amerikaner sind Cowboys. Ich kann gar nicht reiten.“
Endlich erreichten sie die große Freitreppe, die ins Haus führte. Der alte Butler stand bereits an der Tür um die beiden zu begrüßen. Das hieß vor allem, dass sie wirklich spät dran waren und Richard und der Rest der Familie bereits beim Tee saßen. Als sie endlich ankamen, wurden sie erstmal begrüßt. Die Mädchen kamen, um Rufus in den Arm zu nehmen, der etwas verlegen bemerkte, sie würden ihn bald umstoßen, wenn sie weiter so wuchsen. Jeremy gaben sie höflich die Hand, wie es sich für junge Damen gehörte. Miranda lächelte stolz, da es den beiden von allein eingefallen war. Richard war etwas zurückhaltender und grüßte mit einem „Hallo“, was nun wieder Rufus nicht davon abhielt, erst ihn und dann Miranda kurz in den Arm zu nehmen. „Ich habe euch vermisst“, sagte er. Jeremy gab beiden die Hand und fand es sei schön, sie wiederzusehen. Das fanden die beiden auch. Dann gab es erstmal Cream Tea für alle und die angeblich besten Scones von ganz Südengland -mindestens. Jeremy beging direkt den Anfängerfehler schlechthin und aß gleich vier Stück, ohne zu wissen, welch Nachwirkung das hätte. Er hatte bestimmt noch nie so viel gegessen, aber auch selten so gut. Geredet wurde über alles Mögliche. Die Mädchen erzählten von der Schule, wo sie in einem Theaterstück mitspielten, Miranda organisierte eine Wohltätigkeitsveranstaltung für Flüchtlinge und sammelte Geld für ein Rettungsboot im Mittelmeer. Richard hatte die angeblich langweiligsten Sitzungen im House of Lords hinter sich, seit der Erfindung der Langeweile. Rufus fand, er solle es mit Fassung tragen, bemerkte aber auch, dass Richard noch irgendetwas auf dem Herzen hatte. „Mach dir keine Sorgen um mich und Jem“, sagte er irgendwann leise, sodass es die Mädchen nicht mitbekamen, weil er direkt neben Richard saß.
„Ich mache mir immer Sorgen“, flüsterte Richard, „Die Männer vom Sicherheitsdienst sind seit heute Nachmittag in Position an dieser Sicherheitskatastrophe, die du Wohnung nennst.“ Richard klang ein wenig gereizt. „Ihr solltet besser hierbleiben. London ist zu … offen.“
„Ich mag es offen.“
„Offen ist nicht gut für dich.“
„Im Gegenteil. Es ist sehr gut.“ Rufus lächelte zu Jeremy herüber.
„Immerhin akzeptierst du die Sicherheitsmänner.“
„Wegen Jeremy.“
Richard schaute Rufus von der Seite an, wie um zu prüfen, ob sich der jüngere Bruder wirklich keine Sorgen um sich selbst machte. Aber wie so oft war es dem Älteren unmöglich, die scheinbar gleichgültige Mine von Rufus zu deuten. „Sei nicht unvorsichtig. Der Typ ist möglicherweise geistesgestört.“
Damit war das Thema vorerst beendet, doch Richard schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. Das wiederum bot vielleicht wirklich Grund zur Sorge. „Was ist noch?“, wollte Rufus wissen, der seinen Bruder nur zu gut kannte. Richard grinste etwas ertappt und schlug vor, dass Rosemund und Rowena Jeremy ein wenig herumführen sollten. Das war seltsam. Wieso sollte Jeremy nicht dabei sein, wenn es etwas zu besprechen gab? Rufus nahm sich noch einen Tee, während Jeremy mit den Mädchen loszog. Ihm schien klar, dass das ein Ablenkungsmanöver war, aber es machte ihm wohl auch nichts aus, denn er folgte den beiden ohne Zögern aus der Tür zum Garten. Miranda blieb und nahm Richards Hand in die ihre. Das, fand Rufus, war extrem, wenn man das britische Understatement bedachte, mit dem die Sommerford St. Aubyns normalerweise über Gott und die Welt redeten. „Ihr zwei macht mir Angst, wenn ihr so…zweisam seid“, bemerkte er, weil er irgendwie das Gefühl hatte, dass er als erster sprechen müsste. Miranda machte es sogar noch etwas schlimmer, indem sie Richard aufmunternd ansah. Der nickte dann beinahe unmerklich und suchte nach Worten, bevor er endlich sprach. „Rufus, es fällt mir nicht leicht, aber wir müssen über Reginald und Regis sprechen.“
Rufus blinzelte überrascht. Reginald und Regis. Das war sowas wie Code zwischen ihm und seinem Bruder. In der Familie wiederholten sich seit Generationen immer die gleichen Namen. Rufus war Rufus wegen der rotbraunen Haare, die sich seit Generationen immer wieder vererbten. Richard hieß Richard wegen ihres Großvaters. Reginald und Regis, wie ihr Vater… das wären die nächsten männlichen Sommerford St. Aubyns. Aber Miranda sah nicht schwanger aus und Richard benahm sich seltsam…
„Was ist damit?“, fragte er dann und versuchte, möglichst neutral zu klingen.
Richard holte einmal tief Luft und versuchte ähnlich neutral, beinahe gelangweilt zu klingen.
„Nun ja, es scheint, als wäre dies nun in deiner Verantwortung, kleiner Bruder.“
Rufus blinzelte wieder überrascht. Wieso er? Ohne nachzudenken hakte er nach: „Wieso ich? Du bist der Duke und du bist glücklich verheiratet. Was soll ich dabei?“
Rufus sah, wie Miranda Richards Hand etwas drückte. Das bedeutete nichts Gutes…
„Der Titel, den du da nennst, vererbt sich nur in der männlichen Linie, Bruderherz.“
„Das ist mir klar. Und? Wollt ihr nach Rosemund und Rowena keine Kinder mehr?“ Rufus versuchte, beiläufig zu klingen.
„Es ist leider weniger eine Frage des Wollens“, gab Richard zurück, „von Wollen oder Nicht-Wollen ist hier nicht die Rede. Wir haben es versucht, ohne Erfolg.“
Rufus schaute jetzt überrascht von seinem Tee auf und auf Richard, dann, als der nicht weiter sprach, zu Miranda. Sie ergriff tatsächlich das Wort.
„Rufus, Richard ist vor drei Jahren im Urlaub an einer Infektion erkrankt, die man leider zu spät behandelt hat. Darum können er und ich keine weiteren Kinder haben.“ Sie war im Ton und in der Mimik eine echte Dame. Es klang nicht anders, als wenn sie über Rosenzucht oder Geldspenden redete.
„Was hat das mit mir zu tun?“, wollte Rufus jetzt wissen. Irgendwie waren die beiden noch nicht klar auf den Punkt gekommen. Sie würden doch nicht vorschlagen, dass er sich eine Frau suchen sollte, denn das käme überhaupt gar nicht in Frage!
Richard hatte jetzt seine Sprache wiedergefunden. „Nun ja. Ich und Miranda können keine Kinder mehr haben, du und Miranda schon.“
Rufus starrte die beiden ungläubig an. „Ich und Miranda?!“ ICH? Das klang wie etwas, das er gar nicht gehört haben konnte, außer vielleicht, wenn er was genommen hätte, aber das hatte er nicht…
Richard begann zu nicken, ebenso Miranda. „Wir haben darüber nachgedacht“, begann sie, „und es macht absolut Sinn.“
Rufus versuchte sich irgendein Szenario vorzustellen, in dem es Sinn machen konnte, aber auf Anhieb fiel ihm keines ein. „Was meint ihr?“, fragte er schlicht. Nach der ersten Überraschung war ihm schon klar, dass sie ihn nicht bitten würden, mit Miranda zu schlafen.
Miranda und Richard schauten sich an, dann redete er weiter. „Bruderherz, wir sollten nicht nach fast tausend Jahren dafür verantwortlich sein, dass der Titel in der Familie verloren geht und wir können nicht darauf warten, dass die konservativen Lords im Oberhaus ihre verstaubten Ansichten ändern. Also ist die einfachste Lösung eine künstliche Befruchtung. Mit einer Samenspende von dir kann Miranda problemlos schwanger werden.“
Rufus begann zu verstehen. „Du, ihr meint… was genau? Wollt ihr das in einer Klinik machen? Machen wir es hier? Wer ist dann der Vater, du oder ich?“ Miranda und Richard lächelten, weshalb Rufus jetzt auffiel, dass er weder entsetzt geklungen hatte und dass er praktisch so gut wie zugesagt hatte. „Woah, nicht so schnell“, begann er nochmal, „ich habe einen Freund, mit dem ich zusammenleben will. Da kann ich nicht einfach so Vater werden.“
Miranda ergriff das Wort. „Das musst du nicht. Richard kann der Vater sein.“
„Da hat er trotzdem recht“, fand Richard, „wenn es seins ist, dann muss Jeremy davon wissen. Und wenn Rufus der Vater sein will, dann müssen wir das genau überlegen.“
„Du meinst,“ überlegte Rufus, „die einfachere Lösung ist, wir tun so, als wärst du der Vater. Die kompliziertere Lösung ist, du, Miranda, wärst so eine Art Leihmutter für mich? Und wenn es gar kein Junge wird?“
„Dann müssen wir es wiederholen“, sagte sie.
Richard nickte. „Wir brauchen einen Reginald oder einen Regis und zwar von dir.“
Rufus war…sprachlos. Das Ganze machte natürlich Sinn, wie Miranda gesagt hatte. Der Titel ging nur an männliche Erben und einen solchen würde es nicht geben, wenn sie nichts unternahmen. Wenn er ganz ehrlich mit sich war, dann war es für Rufus wohl das Letzte, worauf er kommen würde, dass das jemals seine Aufgabe sein könnte. Da er sich nicht für Frauen interessierte, lag es ja auch wirklich nicht auf der Hand. Würde er ein Vater sein wollen? Was sollten sie dann dem zukünftigen Duke erklären?
„Ich muss darüber nachdenken“, sagte er dann, „und mit Jeremy reden.“
Richard nickte und sah ihm jetzt direkt in die Augen. „Rufus, du weißt, ich wäre ihm ein guter Vater.“
„Ja, das weiß ich. Bestimmt besser als ich.“
„Das würde ich nie denken. Es ist deine Entscheidung.“
„Schon klar.“ Rufus zwinkerte. Richard würde ihm das wirklich zutrauen? Rufus war mehr als erstaunt. Er hatte noch nie darüber nachgedacht und warum auch? Und jetzt das. Sein Bruder traute ihm das zu. Vielleicht würde Jeremy es ihm auch zutrauen? Am wichtigsten jedoch die Frage, ob er es selbst denn wollen würde und ob er es sich zutraute. Oh Zeus!
Er stand auf.
„Wo willst du hin?“
„Keine Ahnung, Jeremy suchen.“
„Versuch’s bei den Pferden.“