TOM
Rückblick
„Das ist doch nicht dein Ernst?! Wie kannst du mich vor vollendete Tatsachen stellen?! Ich habe wohl auch ein Mitspracherecht!" Ich griff in meine Haare. Verdammte Scheiße! Verdammt! Verdammt! Das konnte sie doch nicht so einfach machen. „Ich habe hier meine Freunde. Und was ist mit Annabell? Wie soll ich ihr das bitte erklären? Und was ist mit der Schule? Muss ich jetzt in diesem Nest zur Dorfschule gehen oder was? Das wird bestimmt furchtbar. Wer nicht so heißt wie der eine, sieht aber so aus." Mir war bewusst, dass ich total überreagierte, doch ich war so sauer. Gerade hatte ich erfahren, dass wir in zwei Wochen umziehen würden. Nach Grünberg! Noch nie etwas davon gehört. Wenn ich das ins Navi eingeben würde, hätte es mir bestimmt gesagt >Bitte wenden
Heute
Es war schlimmer als ich es mir gedacht hatte. Es war so eine Asbach-uralt-Schule in T-Form. Wie konnte mich meine Mutter nur hier hin schleppen? Ich stand vor dem Eingangstor und überlegte kurz einfach zu schwänzen. Doch das konnte ich nicht bringen. Sie hatte es ja nur gut gemeint. So nahm ich meine Tasche, schmiss sie mir lässig über die Schulter und ging hocherhobenen Kopfes über den Schulhof. Ich musste auffallen wie ein bunter Hund. Sofort fingen einige an zu tuscheln. Jaaaa. Seht mich an! Ich bringe etwas frisches Blut in eure Minigemeinde. Ich gab mir keine Mühe nicht genervt auszusehen. Sollten sie doch merken, dass das hier nicht meine Wunschschule war. Einige Mädchen kicherten oder liefen rot an, als ich an ihnen vorbei lief. Ja verdammt. Ich weiß, dass ich gut aussehe. Kein Grund sich so kindisch zu benehmen. Jemand rempelte mich von hinten an. „Pass doch auf!" Doch der Kerl ignorierte mich einfach und lief weiter. Sehr charmant. Als ich die Schule betrat stellte ich erstaunt fest, dass sie wie meine alte Schule roch. Krass. Der Schweiß der Schüler musste sich wohl überall gleich in die Mauern einfressen. Ich suchte das Sekretariat um meinen Schülerausweis abzuholen. Doch wo war das gleich? Hier sah alles gleich aus. Meine alte Schule war ziemlich bunt. Diese hier grau in grau. Wahrscheinlich würde so auch meine restliche Schulzeit verlaufen.
Eh ich mich in diesem grauen Gebäudealbtraum verlief, fragte ich lieber einen Schüler. Ich erblickte eine Schülerin, die mich beobachtete, setzte mein charmantestes Lächeln auf und ging auf sie zu. Sofort lief sie rot an und einen kurzen Moment dachte ich, dass sie wegrennt - doch sie starrte mich nur mit großen Augen an. „Hi", sagte ich so locker wie möglich. „Hi", krächzte sie und lief noch roter an. Ich grinste in mich hinein. Es schmeichelte mir immer wieder, wenn ich solche Reaktionen bei den Mädchen hervor rief. „Kannst du mir vielleicht verraten, wo das Sekretariat ist? Ich bin neu hier und weiß nicht recht, wo ich suchen muss." Sie brachte kein Wort raus und deute nur an, ihr zu folgen. Vor dem Sekretariat blieb sie dann stehen und lächelte mich schüchtern an. Ich ging einen Schritt auf sie zu und bedankte mich mit einem gehauchten: „Ich danke dir. Vielleicht läuft man sich ja wieder über den Weg." Sie quiekte und rannte einfach los. Das funktionierte jedes Mal. Annabell hätte sich schon längst über dieses kindische Gehabe echauffiert.
Ich klopfte an der Sekretariatstür und öffnete sie, ohne abzuwarten, ob ich hereingerufen werde. Hinter dem Tresen saß eine ältere Dame mit grauen Haaren und musterte mich. „Du musst Tom Schuster sein. Ein neues Gesicht erkenne ich sofort. Und dann noch so ein hübsches." Ich lächelte sie höflich an. So einen Spruch hörte ich nicht zum ersten Mal. Sie reichte mir meinen Schülerausweis und erklärte mir, wo ich meine neue Klasse finden würde. Das Klassenzimmer zu finden erwies sich als nicht sehr schwer. Die Tür war zu und ich atmete tief durch. Los geht's. Sie können dir gar nichts. Ich drückte die Türklinke nach unten und betrat den Raum...
Sofort war alles ruhig. So lässig wie möglich ging ich zu der Frau, die wohl meine neue Lehrerin war. Ich reichte ihr meine Hand. „Ich bin Tom." Sie lächelte. „Schön, dass du hier bist. Bleib kurz vorne stehen." Während sie die Aufmerksamkeit der Klasse einforderte und anfing das übliche Blabla zu meiner Person zu erklären musterte ich meine neuen Mitstreiter. Definitiv mehr Mädels als Jungs hier. Das machte die Sache einfacher. Mein Blick fiel auf einen Jungen mit grünem Shirt. 1. FC Grünberg. Spielten die hier Fußball?
Mein Blick ging in Richtung Mädchen. Sweet, jedenfalls zwei drei von denen. Sie bemerkten, dass ich sie beobachtete und rutschten unruhig auf ihren Platz hin und her. Ich lächelte ihnen freundlich zu und sie fingen an zu kichern oder liefen rot an. Das würde wirklich einfach werden. Im Augenwinkel sah ich, dass ein Mädchen die Augen rollte. Interessiert sah ich zu ihr. Das war eine Reaktion, die eher selten vorkam. Moment. War das ein Mädchen? Ich musterte sie und sah sehr feine Gesichtszüge. Auch die Haare würden für ein Mädchen sprechen...aber ein 1. FC Grünberg-Shirt? Gab es hier gemischte Teams?
Die Lehrerin stellte mich der Klasse vor und erzählte etwas über meinen Schulwechsel. „Jetzt könntest du uns ja etwas über dich erzählen. Was sind deine Hobbys oder was sind deine Lieblingsfächer?" Nur schwer konnte ich meinen Blick von dem Mädchen mit der undefinierbaren Augenfarbe lösen? Waren sie blau? Nein... etwas grün war auch darin enthalten. Mit meinem professionellen Lächeln blickte ich dann zu meinen neuen Mitschülern. „Deutsch und Musik. Ich spiele Klavier und lese sehr gern." Ich hörte wie die Mädchen anfingen zu Seufzen. Warum auch immer...Mädels fanden meine Hobbys toll. Im Gegensatz zu den Jungen. Was ich auch nachvollziehen konnte. Würde ich es nicht selbst praktizieren, fände ich es wohl selbst seltsam. Aber es lag mir und ich war verdammt gut im Klavierspiel.
Nur ein Mädchen tanzte wieder aus der Reihe und verdrehte die Augen. Das würde ja vielleicht doch noch interessant werden. Ich sah zu ihr und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Sehr schön. Da hoffe ich, dass wir bei der nächsten Musikveranstaltung etwas von dir hören." Ich nickte höflich und konnte dabei meinen Blick nicht von ihr lassen. Sie hatte etwas, was mich irgendwie faszinierte. „Neben Maximilian ist ein Platz frei. Dort kannst du dich hinsetzen." Sie zeigte auf das Mädchen, welches ich schon die ganze Zeit beobachtete. Moooooment! Was? Maximilian? Maximilian??? Ein Junge? Oh shit. Da lag ich aber verdammt daneben. Aber diese zarten Gesichtszüge... ein Junge? Ich wurde mit der Erkenntnis gar nicht richtig fertig. So langsam wie in der Situation möglich ging ich in ihre...nein...seine Richtung. Ein Junge. Verdammte Axt. Maximilian sah zu mir. Eigentlich wollte ich ihn begrüßen, doch ich merkte, wie trocken mein Hals war. Ich würde keinen Ton heraus bringen, daher nickte ich ihm nur zu.
Der Unterricht verging und ich bekam kaum etwas mit. Deswegen machte ich gleich die Gedichtinterpretation, die wir am Anfang der Stunde aufbekommen hatten und schaute nur ab und zu nach vorn. Irgendwie machte es mir zu schaffen, dass ich mich so verschätzt hatte. Warum dies so war hinterfragte ich mich nicht...
In der Chemiestunde wäre ich schier verzweifelt. Ich hasste Chemie. Wirklich. Ich verstand es einfach nicht. Chemie, Physik, Mathe - das tödliche Trio. Zu viele Zahlen - zu wenig Verständnis. Maximilian schien meine Verzweiflung bemerkt zu haben und versuchte mir sogar zu helfen... ich nickte auch immer vorbildlich, verstand aber kein Wort. Meine Defizite in diesen Fächern ärgerten mich und noch mehr regte mich auf, dass er es so gut drauf hatte. „Es ist doch eigentlich ganz einfach..." Ich rollte mit den Augen. Er hatte ja Ansichten. Max, wie er lieber genannt werden wollte, kam ganz dicht an mich ran und versuchte mir wieder etwas zu erklären. Seine Schulter berührte meine und... da war es. So ein komisches Gefühl. Mein Bauch fühlte sich plötzlich komisch an. Oje... ich würde doch keine Magen-Darm-Grippe bekommen?
Und dann die Pause. Mein neuer Klassensprecher erwartete uns schon, mit der Kippe in der Hand. „Ah, der Neuling. Komm gleich mal her!" Ich wusste nicht, was ich von dem Typen halten sollte. Sein Verhalten war absolut hirnlos. Er ließ meist nur dumme Sprüche raushängen. Doch ab und zu kamen auch ganz clevere Dinge aus seinem Mund, weshalb ich vermutete, dass das alles nur Schein war. Genaueres würde wohl nur die Zeit bringen. Ohne Eile ging ich zu ihm. „Was willst du?" Ich musterte ihn genauso von oben bis unten wie er mich. Ich stellte mich noch ein bisschen gerader hin. So war ich einen guten halben Kopf größer als Daniel. Er konnte so viele dumme Sprüche raus hauen, wie er wollte. Beeindrucken würde ich mich dadurch nicht lassen. „Ziemlich vorlaut der Neue, oder?" Nicken durchzog die Reihe der Köpfe. Nur Max hielt sich raus. Innerlich grinste ich. Warum tat er immer das Gegenteil von dem, was man erwarten würde? „Nun gut, dir ist noch mal verziehen." Er wedelte wie ein König aus den alten Filmen oder eine Königin. Ja. Er wedelte mit der Hand wie die Queen. Lächerlich. Einfach lächerlich. Nur mit Mühe konnte ich mir verkneifen die Augen zu verdrehen. „Also, was bist du für ein Typ?" Hä? Was meinte er damit? Groß, schlank, sportlich oder was? „Ich meine was du gerne machst. Ein Expresschecker bist du nicht gerade, oder?" Ich lächelte unbeeindruckt und sagte dann ruhig und deutlich, dass ich dies vorhin ja alles schon erwähnt hatte. Wer war hier der Expresschecker? Die anderen lachten. Ob Max auch dabei war? „Ein Weichei also. Schön. Bist du vielleicht noch schwul?" Plötzlich war es ruhig. Nun war er da. Dieser Moment. Meine Reaktion auf seinen Spruch würde festlegen, welchen Platz ich zukünftig in der Klasse hatte. Ich konnte nicht erkennen warum, aber anscheinend legte meine neue Klasse viel Wert auf seine Meinung und das war schon nach so kurzer Zeit äußerst deutlich. Ach scheiß drauf. Als ob ich mich durch irgendjemand in Schranken weisen lassen würde.
Daniels Augen weiteten sich etwas, als ich auf ihn zukam. Ha! Ihm eine rein hauen wäre wahrscheinlich auch eine Variante gewesen. Damit hatte er wahrscheinlich gerechnet. Wie oft er wohl schon ein blaues Auge kassiert hatte, weil er seine vorlaute Klappe nicht halten konnte? Mein Mund war nah an seinem Ohr und ich flüsterte: „Ich bin nicht schwul, aber wenn du mich weiter so blöd anmachst, dann überlege ich es mir vielleicht noch. OK?" Daniel ging ein Stück zurück und grinste mich an. „Gute Antwort. Ich merk es mir."
Nach diesem Gespräch war ich akzeptiert. Sie behandelten mich, als ob ich schon immer in ihrer Klasse war, nur lange Zeit im Urlaub. Und...ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet. Es fühlte sich gut an.
Nach dem Unterricht liefen Max und ich noch zusammen nach Hause. Wir stellten fest, dass wir in der gleichen Straße wohnten. Was für ein Zufall. Zu meiner Freude leistete er mir gleich noch ein bisschen Gesellschaft. Ich mochte ihn irgendwie. Obwohl ich ihn nur so kurz kannte fühlte ich mich wohl bei ihm. Das kam bei mir äußerst selten vor. „Schicksalsbekanntschaft" nannte das Lori immer, wenn sie so einen Menschen traf. Ihre Schicksalsbekanntschaften wurden ihre engsten Freunde. Vielleicht hatte ich diesmal auch so ein Glück.
Max schien ziemlich beeindruckt von meinem Zimmer zu sein und das gefiel mir. Komischerweise fühlte ich mich in seiner Gegenwart immer ein bisschen unsicher. Total untypisch für mich. Dass es ihm hier gefiel beruhigte mich jedoch ein bisschen. Mein Zimmer spiegelte mich selbst. Klar. Strukturiert. Offen. Die meisten Kerle fanden mein Zimmer ein bisschen untypisch für einen Jungen. Kein Flatscreen, keine leeren Bierdosen und nirgendwo ein Fußball. Doch als er sich dann auf Sofa fläzte und langsam entspannte, entspannte ich mich auch. Alles war gut. Und dann kam Minka. Ernsthaft...diese Katze trieb mich in den Wahnsinn mit ihrer Macke. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, als Max sich ihr vorstellte. Das war mir unglaublich peinlich. Doch er stellte sich wirklich vor und dass er sich als ein Freund von mir bezeichnete brachte mich zum Lächeln. Ich mochte ihn wirklich. Hoffentlich beruhte das auf Gegenseitigkeit. Wir redeten ein bisschen und ich bekam einen Lachanfall, als er Goethe mit einem Schauspieler verwechselte. Zu geil. Die Stimmung war locker. Ich hatte einen Lauf...und dann spielte ich Klavier. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hatte, dass ich ihm die Mondscheinsonate vorspielte. Seit Loris Tod hatte ich dieses Stück wie die Pest gemieden. Und dann brach ich regelrecht in Tränen aus. Ich weinte nie. Wirklich. Bei einem Fahrradunfall hatte ich mir mein Bein gebrochen und nicht mal da ließ ich meinen Emotionen freien Lauf. Meine Freunde kritisierten immer, dass ich so abgeklärt wirkte. Rational. Berechnend. Und hier??? Meine Freunde in der Stadt wären umgekippt, hätten sie mich in diesem Moment gesehen. Meine ganze Lebensgeschichte hatte ich ihm ausgebreitet. Selbst Dinge, die nicht mal meine Freundin wusste. Warum hatte ich ihm von meinem Suizidversuch erzählt? Kopf à Wand, Kopf à Wand, Kopf à Wand. Ich verstand mich selber nicht. Er musste mich für total bekloppt halten und genau das wollte ich nicht.
Doch zum Schluss konnte ich es noch mal reißen. Wir spielten Basketball und hatten die Zeit dabei total vergessen. War irgendwie süß, als er so panisch nach Hause rannte. Halt. Also nicht süß im Sinne von süß...eher...naja...Doch. Er war süß. Und meine eigenen Gedanken bereiteten mir viele unruhige Nächte. Wenn ich früh aufwachte konnte ich mich immer nur bruchstückhaft an meine Träume erinnern. Lori kam darin vor, Annabell und Max...immer wieder Max...