Triormani, Sizilien, Anfang Juni 1254
Wut
Verzweiflung.
Roana wusste nicht, welches dieser beiden Gefühle stärker war und sie schließlich dazu bewogen hatte, wie eine Besessene nach Triormani zu galoppieren. Vielleicht war es die dümmste Idee, die sie je gehabt hatte. Vielleicht auch nicht. Aber es gab keine Alternative. Sie musste einfach wissen, warum ihr Oheim sie so plötzlich aus seinem Haus verbannte. Hatte sie etwas getan, um ihn zu erzürnen? Sie war sich keiner Schuld bewusst.
Roana ließ ihr Pferd in einem Mietstall beim Stadttor zurück und ging zu Fuß die Hauptstraße entlang, vorbei an tief verschleierten Frauen und wild gestikulierenden Maultiertreibern.
Jetzt stand sie am Rand des lärmerfüllten Marktviertels, starrte in die engen Gassen hinein, in denen fast alles feilgeboten wurde, was es auf Erden gab, und spürte, wie die Übelkeit in Wellen aus ihrem Magen in ihre Kehle stieg.
Nur wenig Licht fiel zwischen die Häuser. Das Dämmerlicht zauberte Bewegungen, Schatten ins Nichts. Ihr Herz hämmerte. Um sie herum war Stimmengewirr. Es schwoll an und wurde wieder schwächer. Roana glaubte, Satzfetzen zu hören, die aus dem Halbdunkel zu ihr herüber wehten.
Lauf weg, Mädchen! O Gott. Lauf weg!
Ein Mundwinkel verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Sie wusste, dass sie die Worte nicht wirklich hörte, wusste, dass es sich nur um eine Einbildung handelte. Aber seit sie von Rodéna aufgebrochen war, saß dieses Angstgefühl in ihrem Magen und ließ sich nicht mehr vertreiben.
Ihre Hand tastete nach dem Dolch in ihrem Ärmel, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Sie würde die Waffe nicht brauchen – nicht einmal brauchen dürfen, wenn sie keinen Aufruhr verursachen wollte.
Sie glitt in den Strom der Käufer und ließ sich tiefer in die Gassen hineintragen. Brennende Lampen glommen in den Gewölben der Händler wie die roten Augen hungriger Ratten. Berauschende Dämpfe stiegen aus Räucher- Dunkelhäutige Krieger in kurzem Lederharnisch und Männer in Djellaba und Turban fluteten in einem ständigen Strom an den Aus-lagen der Handwerker und Händler vorbei. An den Ecken hockten Schlangenbeschwörer und Geschichtenerzähler, deren Darbietungen ganze Trauben von Zuhörern angelockt hatten. Roana wich hastig bis an die Hauswände zurück, sorgsam darauf bedacht, dass keiner der Passanten ihr zu nahe kam. Sie konnte die Berührung von Männern nicht mehr ertragen. Seit man ihr das – angetan hatte.
Roana die Ausgestoßene.
Es gab nur einen Mann, der sie in den Arm nehmen durfte, wenn der Schmerz zu übermächtig wurde, um ihn noch allein aushalten zu können.
Instinktiv glitt ihre Hand in den Almosenbeutel an ihrem Gürtel und tastete nach dem Pergament. Ein Blatt, von Knickstellen zerfurcht, mit verwischter Schrift, so oft hatte sie es hervorgeholt, entfaltet und gelesen. Gandars Nachricht.
Ein kurzer, unpersönlicher Brief, in dem sie aufgefordert wurde, ihre Truhen zu packen.
Wenigstens hätte Gandar es mir persönlich sagen können.
Aber das hatte er nicht getan. Was völlig untypisch für den Herzog war. Roana hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Sie war auf ein Pferd gesprungen und nach Rodéna, dem Stammsitz ihres Oheims galoppiert, um ihn zur Rede zu stellen. Aber niemand wusste, wo Herzog Gandar sich aufhielt.
Wut.
Verzweiflung.
Gandar war ein Mann von neunundzwanzig Jahren, sie eine Frau von achtzehn. Vor der Vergangenheit liefen sie beide davon. Aber gemeinsam war es erträglich.
Alleine nicht.
Deshalb musste sie Gandar finden. Gleichgültig, welche Konsequenzen sich daraus ergeben mochten. Sie wusste, was es bedeutete, ohne Begleitritter hierherzukommen. Trotz ihrer Männerkleidung war sie nur … eine Frau. Jämmerlich schwach. Freiwild.
Aber ihr war niemand anderes eingefallen, den sie fragen konnte. Gandars Freund Ahmad würde wissen, wohin der Herzog ver-schwunden war.
Sie schlüpfte in die schmale Gasse zwischen zwei Häusern, sah sich verstohlen um. Schummrige Lampen beleuchteten in offenen Ge-wölben untergebrachte Läden. Händlergehilfen huschten im Inneren umher und brachten Sitzkissen und geeiste Getränke für die Käufer, die schon in den Präliminarien des Handels waren. Niemand nahm von der schlanken Gestalt in Tunika und Bundhaube Notiz. Sie lief bis ans Ende der Gasse, blieb vor einer schlichten Holztür stehen und bewegte den bronzenen Türklopfer in einem bestimmten Rhythmus. Die Tür wurde augenblicklich geöffnet. Ein Diener in langem Kaftan ließ sie wortlos herein. Roana ging an ihm vorbei, den von Lampen erhellten Flur entlang. Mit einem leisen Luftzug wurde die Holztür zugezogen, gefolgt von einem harten metallischen Klicken.
Ahmads oberster Diener Ridwân kam auf sie zu, sorgfältig darauf bedacht, in ihrem Gesichtsfeld zu bleiben. Er empfing sie auf der Schwelle, berührte, sich tief verneigend, zum Gruß Stirn, Lippen und Brust und fragte nach ihren Wünschen.
Roana befahl, den Hausherrn Ahmad ibn Ascher Halewi von ihrer Ankunft zu unterrichten.
»Ich bedaure«, erwiderte der Diener. »Herr Ahmad befindet sich auf Reisen.«
Die Worte trafen Roana wie ein Peitschenhieb.
Wut.
Verzweiflung. Beide streckten die Hand nach ihr aus und drohten, sie zu übermannen.
Gandar war fort.
Ahmad war fort.
Ein unsichtbarer Eisenring legte sich um ihre Brust. Roana bekämpfte den Drang, den Kopf abzuwenden und in Tränen auszubrechen. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass Ahmad nicht da sein könnte.
Sie begann, Ridwân auszufragen, aber er wusste nicht, wohin sein Herr geritten war, noch, wann er zurückerwartet wurde.
»Ich möchte hier warten«, sagte Roana. »Vielleicht kommt Herr Ahmad bald zurück. Hast du Platz im Stall? Dann sorge bitte dafür, dass mein Pferd vom Mietstall hierher gebracht wird.«
»Wie du befiehlst, Herrin«, sagte der Diener. »Ich bringe dich in dein Gemach.«
In Ahmads Haus waren die Fußböden aus buntem Marmor, die Wände belegt mit edlen Hölzern, Metall und Gestein; Mosaiken zierten den Hof mit den Palmen und dem großen Brunnen; Inschriften in arabischen Buchstaben liefen als Fries um die Wände der Zimmer. Die Teppiche an den Mauern und am Boden waren dick und leuchtend bunt, Vorhänge verdeckten Nischen und Alkoven voller Polster und Kissen. Der Diener öffnete eine Tür, ließ Roana eintreten und blieb wartend auf der Schwelle stehen, um ihre weiteren Wünsche entgegenzunehmen.
Mit einer ungeduldigen Handbewegung schickte sie den Mann fort. Sie musste nachdenken. Wenn die Rechnung stimmte, die sie für sich angestellt hatte, dann war Gandar vor zwei Tagen aufgebrochen. Es musste nichts zu bedeuten haben, dass er bisher nicht nach Rodéna zurückgekehrt war. Er hatte auf der halben Insel Besitzungen und war vielleicht irgendwo aufgehalten worden … es gab tausend Wenn und Aber, die zwischen einem Plan und seiner Ausführung lagen.
Aber vielleicht war auch schon alles zu spät; das Unheil, das sie insgeheim befürchtete, längst eingetreten. Dabei war ihr eigenes Schicksal nicht der Grund für ihre Sorge. Was sie beschäftigte, war vielmehr das, was gerade in ihrem geliebten Oheim vorging. Hatte sie irgendein Zeichen übersehen? War er in den letzten Wochen anders gewesen als gewöhnlich? Verunsichert biss Roana sich auf die Unterlippe. Manchmal glaubte sie, zu spüren, dass es für Gandar schon zu spät war. Vielleicht war es schon zu spät gewesen, als er den Brief an sie verfasst hatte.
Der Wind trug das dünne Bimmeln einer Glocke heran, und Roana schrak abrupt aus ihren Gedanken.
Mit einem Mal erinnerte sie sich eines Details, an das sie bisher nicht gedacht hatte. Im Brunnenhof gab es einen losen Stein in der Mauer, hinter dem Gandar oder Ahmad zum Spaß manchmal geheime Nachrichten für sie versteckt hatten. Vielleicht hatte Ahmad sich daran erinnert und dort einen Hinweis hinterlassen. Sie verließ ihr Gemach und eilte in den Hof.
Sie hatte keine Mühe, den Stein zu finden. Er ließ sich noch genauso leicht entfernen wie früher, aber der Hohlraum dahinter war leer. Enttäuscht schob Roana den Stein wieder in die Öffnung zurück. Wie dumm von ihr, auf eine derart einfache Lösung zu hoffen!
Von irgendwoher drangen die Töne einer Laute an ihr Ohr. Roana lauschte. Jetzt erhob sich auch eine Stimme dazu, doch der Gesang war mehr ein Summen und Probieren als ein ausgeführtes Singen. Roana blieb mitten im Schritt stehen. Es war Gandars Lied … aber nicht seine Stimme.
Die Musik kam aus dem ummauerten Garten, der sich ans südliche Ende des Brunnenhofes anschloss. Roana eilte über die farben-prächtigen Mosaike zum anderen Ende des Hofes, stieß das eiserne Gartentor auf und betrat den Garten. Die Sonne stand schräg über den Palmen und malte ein lebhaftes Muster auf den Marmor der Wege. Roana sah sich um, ohne jedoch eine Spur von dem unbekannten Sänger zu entdecken.
Mit ärgerlichen Bewegungen zog sie sich die Haube vom Kopf und schüttelte ihr blondes Haar aus. Noch einmal ließ sie ihren Blick durch den Garten wandern, ohne etwas Auffälliges zu bemerken.
Mit einem leisen Seufzer sank sie auf eine der zahlreichen Ruhebänke und barg das Gesicht in den Händen. Wahrscheinlich machte sie sich ganz unnötig Sorgen. Gandar war kein Mann, der sich aus seiner Verantwortung einfach davonstahl. Sicher war er inzwischen längst wieder zu Hause in Rodéna und verfluchte sie für ihr eigenmächtiges Handeln. Aber der Gedanke nutzte gar nichts. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, zu schreien, aber es ging nicht. Sie spürte, wie der Atem in ihrer Kehle stockte. Tief in ihr setzte ein Zittern ein. Sie musste sich dazu zwingen, ihre Lungen mit der dringend benötigten Atemluft zu füllen. Einatmen. Aus. Und wieder ein. Es war nicht wie damals, als Gandar schon einmal verschwunden war. Es gab keinen Kardinal Valo mehr, der sie beide zu einem Leben in der Hölle verdammen konnte. Dennoch musste sie sich aufrichten, musste weitere beruhigende Atemzüge machen. Die Erinnerung an das durchlebte Entsetzen, an ihre Hilflosigkeit, drohte sie zu überfluten wie eine riesige Woge. Das durfte nicht geschehen. Ahmads Garten war zu öffentlich, um sich gehen zu lassen. Niemand durfte sehen, wie sehr ihre Hände zittern wollten.
So sehr war sie in diesem Moment gefangen – so tief in der Ver-gangenheit versunken, dass sie den Mann nicht bemerkte, der lautlos wie ein Schatten hinter ihr auftauchte.
Peire hatte darauf bestanden, in Ahmads Haus eine Ruhepause einzulegen, wo es genügend bequeme Gästekammern gab, die sie benutzen konnten. Rafael hielt es jedoch nie lange in seiner Kammer aus und verbrachte seine Zeit lieber im parkartigen Garten des Hauses. An den Stamm einer Palme gelehnt, studierte er zum wiederholten Male Gandars Brief.
»Hast du herausgefunden, was dich an dem Brief stört?«, fragte Peire mit mäßigem Interesse. Er saß im Schatten der Palme und hatte auf seiner Laute gespielt, aber nun ließ er die Seiten verstummen.
»Weiß der Teufel«, murmelte Rafael abwesend. »Was hier steht, klingt völlig normal. Und doch werde ich das verdammte Gefühl nicht los, etwas zu übersehen.«
»Zeig mal her.« Peire streckte die Hand aus.
Rafael löste sich von der Palme, rieb sich den schmerzenden Rücken und brachte dem Sänger die Nachricht. Peire beugte den Kopf darüber und bewegte lautlos die Lippen, während er langsam buchstabierte.
Rafael lief währenddessen ungeduldig auf und ab. Er brannte darauf, die Verfolgung seines Vaters auf-zunehmen, bevor er dessen ohnehin vage Spur wieder verlor. Aber der Ritt nach Triormani hatte ihn mehr angestrengt, als er wahrhaben wollte. Er hasste es, einsehen zu müssen, wie recht Nael mit seiner Einschätzung gehabt hatte. Er war noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte und seine Ungeduld vermochte daran nichts zu ändern.
»Also ich finde an diesem Brief nichts Ungewöhnliches«, sagte Peire und gab das Schreiben zurück.
Rafael schüttelte den Kopf. »Es passt nicht zu Gandar, so etwas von mir zu verlangen. Er hat Ritter genug, die besser geeignet sind, eine Dame von Stand zu eskortieren. Ich bin eher ein Mann fürs Grobe …«
»Tja.« Peire überlegte einen Moment. »Vielleicht bevorzugt die Dame ja einen groben Klotz wie dich«, spöttelte er. »Ist sie hübsch?«
»Was weiß ich«, gab Rafael achselzuckend zurück. »Ich bin ihr nie begegnet.«
Wenn man von dem einen, beinahe flüchtigen Blick absah, den er vor Jahren auf die junge Roana hatte werfen können – einem Kind, das Angst vor dem eigenen Schatten gehabt hatte und fast nie von Gandars Seite gewichen war. Mühsam forschte er in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung an die Gesichtszüge des Mädchens. Die Farbe ihrer Haare hatte ihn an ein reifes Weizenfeld erinnert, das wusste er noch. Ihr Gesicht dagegen hatte eher einer Ansammlung von Knochen geglichen, mit Augen, die fast so farblos und kalt waren, wie Millionen Jahre altes Gletschereis.
Peire seufzte ungeduldig. »Wozu streiten wir eigentlich? Ich weiß so oder so, dass du Herzog Gandars Wunsch nicht erfüllen wirst. Es ist dir peinlich, einer Edeldame erklären zu müssen, warum du auf vielen Burgen nicht willkommen bist. Dir graut davor, dass sie erfahren könnte, woher dein schlechter Ruf rührt. Lieber stößt du Dom Gandar vor den Kopf …«
»Schön«, unterbrach Rafael brüsk. »Wenigstens hast du jetzt begriffen, warum ich Gandars Bitte nicht erfüllen kann.«
Er wandte sich ab, ehe sein Gesicht seine widersprüchlichen Gefühle preisgeben konnte. »Und nun kein Wort mehr zu diesem Thema. Verstanden? Ich werde nicht länger …« Er brach ab, ging bis zur Gartenmauer und spähte mit verengten Augen um die Ecke.
»Ridwân?«, fragte Peire.
»Nein. Ein Unbekannter. Im vorderen Garten. Warte hier auf mich, bis ich herausgefunden habe, wer das ist.«
Rafael schlich davon, tief in den Palmenschatten geduckt, näherte er sich dem unbekannten Jüngling, der neben einer Bank stand und sich anscheinend im Garten umsah.
Die erste Überraschung erlebte er, als der vermeintliche Jüngling die Bundhaube vom Kopf zog, und sich eine Flut goldener Locken über seinen – ihren Rücken ergoss. Rafael starrte die junge Frau an und ärgerte sich dabei über sich selbst. Etwas an ihrem Profil kam ihm vertraut vor, ohne dass er sagen konnte, wer sie war. Sie musste zu dem kleinen Kreis von Personen gehören, die Ahmads geheimes Klopfzeichen kannten. Niemand kam an Ridwân vorbei, der nicht Bescheid wusste. Wer war sie?
Rafael trat lautlos näher. Und erlebte seine zweite Überraschung.
Roana spürte die Kühle in ihrem Nacken, wo eben noch Wärme gewesen war.
Sie dachte nicht mehr. Etwas, das stärker war, als ihr bewusstes Denken, übernahm die Kontrolle über ihren Körper; Reflexe, die sie so lange geschärft und trainiert hatte, bis sie zu eigenständigem Leben erwacht waren, lenkten ihre Bewegungen. Der Dolch glitt in ihre Hand, noch während sie von ihrem Sitz hochfuhr und herum-wirbelte. Der Schrei aus ihrer Kehle mischte sich mit dem überraschten Ausruf eines Mannes. Eine Hand schoss auf sie zu, versuchte den Dolch wegzuschlagen.
Roana fühlte, wie die scharfe Klinge abrutschte, durch ein Gewand drang und dann in das weiche Fleisch darunter schnitt.
Der Mann wich hastig zurück und verlor das Gleichgewicht, halb durch ihren Stoß, halb durch seine Reaktion auf den Angriff. Er prallte mit dem Rücken gegen den Stamm einer Palme und stürzte zu Boden. Ein dunkler Fleck erschien auf dem Ärmel seiner Tunika und breitete sich rasch aus.
Roana dagegen verharrte absolut reglos, zu Stein geworden wie Lots Weib. Unbewaffnet schrie es in ihrem Inneren, in ihrem Kopf, ja sogar in ihrem vor Schrecken wild schlagenden Herzen. Unbewaffnet, unbewaffnet, unbewaffnet. Langsam, ganz langsam hob sie ihre Hände, Handflächen nach oben und starrte auf ihren Dolch.
»Oh!«, flüsterte sie. »Oh mein Gott!«
Dann befiel sie ein Zittern. Sie schwankte wie eine Weide im Wind. Ihre Augen weiteten sich, alles Blut wich aus ihren Lippen. Sie hatte beinahe einen Mann getötet, der gar nicht vorgehabt hatte, sie anzu-greifen, und den sie nicht einmal kannte.
Sie warf ihren Dolch von sich und sank neben dem Mann in die Knie. Eine bebende Stimme murmelte unverständliche Worte, ihre Eigene stellte sie fest, obwohl sie selbst nicht verstehen konnte, was sie sagte. Er sah zu ihr auf und die mörderische Wut in seinen silbergrauen Augen ließ sie zurückzucken.
»Du Wahnsinnige, was hast du getan!«, kreischte jemand.
Roana, die damit beschäftigt war, den Saum ihrer Tunika in Streifen zu reißen, hob überrascht den Kopf. Bevor sie sich auch nur bewegen konnte, war der zweite Mann an ihrer Seite. Breitbeinig stellte er sich über den Verletzten. »Fass ihn nicht an!«
»Sei still!«, fauchte sie zurück. »Siehst du nicht, dass ich ihn verbinden will?«
Der Mann packte zu. Roana wehrte sich wie eine Besessene. Wehrte sich so lange und heftig, dass der Fremde endlich die Hand zur Faust ballte und sie ihr gegen die Schläfe schlug. Sie brach zusammen und blieb liegen.
Als Peire sich ihm zuwandte, saß Rafael aufrecht im Gras, die unverletzte Schulter an den Stamm der Palme gelehnt. Vorsichtig betastete er mit der rechten Hand seinen linken Oberarm und starrte ungläubig auf das Blut, das seine Finger besudelte.
Peire sagte: »Oh Gott!«, und ließ sich neben dem Freund auf die Knie fallen. Mir aschfahlem Gesicht zog er ihm die Tunika über die Schulter herunter.
»So viel Blut«, jammerte der Sänger. »Ich glaube, mir wird gleich schlecht!«
Rafael rollte mit den Augen. Ohne Peires Protest zu beachten, schlüpfte er vollends aus dem zerrissenen Gewand und versuchte, zu erkennen, wo genau ihn der Dolch eigentlich getroffen hatte. Arm und Schulter brannten, als habe jemand glühende Kohlen darauf gepackt.
»Stillhalten!«, befahl Peire. Mit fahrigen Bewegungen riss er ein Stück aus Rafaels Gewand, ballte es zusammen und presste es auf die Wunde, um die Blutung zu stillen.
»Du hast verdammtes Glück gehabt«, beantwortete er Rafaels unausgesprochene Frage. »Diese Verrückte hat nichts Lebenswichtiges getroffen. Obwohl sie es bestimmt vorgehabt hat. Nicht auszudenken, wenn sie geschafft hätte, was … ach verdammt.«
»Diese Verrückte – ist Madonna Roana«, sagte Rafael.
Der Sänger hob überrascht den Kopf.
»Ich glaube es zumindest.«
»Gott bewahre.« Peire warf den blutigen Gewandfetzen beiseite und presste einen frischen Stoffknäuel auf die Wunde.
Rafael hörte kaum, dass Peire ihm erklärte, die Wunde müsse dringend genäht werden. Der Himmel helfe ihm – eine Frau, deren Instinkte so schnell reagierten wie seine? So etwas konnte es doch nicht geben – oder? Es war ein Fehler gewesen, sich an sie heranzu-schleichen, das wusste er nur zu gut. Bei allen Heiligen, seit wann war er so fahrlässig geworden?
»Hilf mir auf, Peire«, verlangte er.
»Das werde ich nicht tun«, widersprach Peire entschlossen und verknotete sorgfältig die Enden des provisorischen Verbandes, den er aus Rafaels Tunika angefertigt hatte.
Rafaels Rechte umklammerte Peires Arm so fest, dass dieser noch tagelang blaue Flecken hatte. Aber er kam auf die Beine, machte einen unsicheren Schritt und dann einen Zweiten.
Das war der Moment in dem Roana ein großes, eisblaues Auge aufschlug und um sich sah. Dann öffnete sie beide Augen, und kam mit einem Aufschrei auf die Füße.
Rafael hatte das Gefühl, als habe sich das Universum gedreht und ihn an einem anderen Platz zurückgelassen als dem, an dem er sich noch einen Augenblick zuvor befunden hatte. Er stand reglos da und betrachtete ihr Gesicht, das jetzt keine Ansammlung von Knochen mehr war, sondern ein sanftes Oval. Es war ein hübsches, ein wirklich hübsches Gesicht – bis auf die Augen. Basiliskenaugen, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Gorgonenhaupt. Das Antlitz der Medusa – oder?
Seine seltsamen Gefühle irritierten ihn. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich etwas für sie empfinden wollte. Konnte er sich Gefühle überhaupt leisten? Vielleicht nicht, aber alles war besser als die Gleichgültigkeit der vergangenen Jahre, die Dunkelheit, die begonnen hatte, ihn vollkommen auszufüllen. So sehr, dass er nichts mehr empfand, wenn er einen anderen Menschen tötete. Rein gar nichts. Weder Bedauern, noch Schmerz.
Rafael deutet nachlässig einen Gruß an. »Du hast schon eine interessante Art, Bekanntschaften zu schließen, Madonna. Machst du das immer so?«
Roana starrte Rafael mehrere Herzschläge lang schweigend an. Rafael versuchte vergeblich, zu erraten, was hinter ihrer Stirn vorging. Ihr Blick konnte ebenso gut Zorn wie Schuldbewusstsein ausdrücken.
»Erstaunlich«, sagte er, »Keine Empörung. Keine Vorwürfe? Du bist Roana von Morra, nicht wahr?«
»Das geht dich nichts an, Herr«, erwiderte Roana kalt.
Er lächelte. Die Wirkung war seltsam anzusehen. Roana wich zurück, fahl und zitternd. Sie sah sich hektisch um, so als versuchte sie, abzuschätzen, ob sie es bis zum Eingang des Gartens schaffen konnte, bevor er sich auf sie stürzte.
Rafael machte einen Schritt auf sie zu und stolperte beinahe über die eigenen Füße. Peire sprang ihm zur Seite und packte seinen Arm. »Von mir aus kannst du ja hier auf der Stelle verbluten, du verdammter Dickschädel«, schimpfte er. »Aber ich fände es doch sehr bedauerlich, dabei auch noch Ahmads kostbaren Marmor zu verderben. Also beweg dich gefälligst, damit wir dein Gemach erreichen, bevor das passiert.«
»Die Wunde muss genäht werden«, bemerkte Roana sachlich. »Da es in Triormani keinen Medicus gibt, erkläre ich mich bereit, das zu übernehmen.«
Rafael sah Roana an und seine silbergrauen Augen glitzerten wie Eis. »Du erklärst dich bereit?«, fragte er höhnisch. »Wie überaus großzügig von dir, Dame. Und da dachte ich doch tatsächlich, du seist mir diese Kleinigkeit schuldig.«
Roanas Fäuste ballten sich so heftig, dass die Knöchel hörbar knackten. Aber sie sagte kein Wort.
Als Rafael in ihr Gesicht sah, erlosch alles in ihm schlagartig; er fühlte noch immer Zorn, einen brodelnden hilflosen Zorn, der wie ein heißer Schmerz in seinem Inneren wühlte. Aber er wusste auch, dass er ungerecht war. Seine Worte waren ein Fehdehandschuh, den er ihr mit aller Kraft ins Gesicht geschleudert hatte. Und der Schlag schmerzte. Das konnte er sehen, auch wenn sie sich die größte Mühe gab, es nicht merken zu lassen.
Roana hob den Kopf und musterte Rafael. Ihr eisiger Blick wanderte einmal von oben nach unten und dann von unten nach oben, blieb bei seinen Augen hängen. »Du hast Glück, Herr, dass du Ahmads Gast bist und das Gastrecht in seinem Haus etwas gilt, sonst müsste ich dir jetzt die Kehle durchschneiden, um meine Ehre zu retten.«
Obwohl er sich vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben, brachten ihn die Worte Roanas schon wieder in Rage.
»Oh«, spöttelte Rafael, »danke. Deine Zurückhaltung freut mich.«
»Und dein Spott verletzt mich«, gab Roana ernst zurück.
»Rafael, hör auf damit«, verlangte Peire. »Du hast gar keine andere Wahl, als deine Wunde von ihr versorgen zu lassen. Du weißt, dass ich soviel Blut nicht ertragen kann.«
Rafael drehte sich mit einer abrupten Bewegung um und wandte das Gesicht dem Haus zu, sodass es aussah, als interessiere ihn dies alles gar nicht.
Roanas Miene verdüsterte sich. »Gut«, sagte sie mit einem resignierenden Seufzen. »Du willst meine Hilfe nicht.«
Sie bückte sich nach ihrem Dolch, wischte ihn im Gras sauber und ließ ihn wieder in ihrem Ärmel verschwinden. Die Haube stopfte sie nachlässig hinter ihren Gürtel. Es geschah in diesem Moment, dass Rafael das bisher so zäh festgehaltene Bewusstsein entglitt. Peire konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er auf den Boden aufschlug.
»Schaff ihn in sein Gemach«, befahl Roana mit einem Blick auf den Bewusstlosen. Während Peire vorauseilte, rief sie einen Diener und bestellte in fließendem Arabisch Wasser, Verbandszeug und Ahmads Medizinkasten.
In Rafaels Kammer war es dunkel und stickig. Roana trat zum Fenster und stieß den Fensterladen auf, auch wenn die hereinschlagende Glut ihr augenblicklich den Schweiß aus allen Poren trieb.
»Nun beweg dich!«, fuhr sie Peire an. »Wir haben genug Zeit verloren.«
Behutsam ließ Peire den Freund auf einen Diwan gleiten.
»Du kannst mir beim Säubern der Wunde zur Hand gehen«, sagte Roana, während sie die Ärmel ihrer Tunika bis zum Ellenbogen hoch rollte.
»Äh … ich muss noch einmal hinaus in den Garten«, murmelte Peire. »Ich habe meine Laute dort vergessen. Es ist nicht gut, wenn sie zu lange in der Sonne …«
Roana brachte ihn mit einem missbilligenden Blick zum Verstummen. »Männer«, sagte sie verächtlich. »Große Reden führen, aber dahinter ist nichts als Luft.«
»Ich kann nun mal kein Blut sehen«, murmelte Peire noch, bevor er sich mit einem erstickten Laut die Hand vor den Mund schlug und aus dem Gemach flüchtete.