Der Wächter mit dem Enziangebräu war abgelöst worden und sein Nachfolger schien Jelschas Vorliebe für Ziegenmilch zu teilen. Nael fluchte, eine ganze Weile und so deftig, wie es kein Christenmensch tat. Er verwünschte das Unwetter, den Wächter, den verdammten Sänger, der nicht aufpassen konnte, wohin er trat. Er verfluchte die Burgherrin, die sich beharrlich in seine Gedanken schlich, und dafür sorgte, dass unwillkommene Schauder des Verlangens über seine Haut zuckten, wie ein Mückenschwarm. Er stapfte über den Hof auf der Suche nach einem Platz, an dem er sich ungestört seiner düsteren Stimmung hingeben konnte.
Brütende Hitze lag über der Burg, den Himmel überzog noch immer ein gewittriger Schleier und Wolken hingen wie schwere Trauben herab. In der Hoffnung auf ein wenig Kühle stieg er auf die den Garten umgebende Mauer hinauf. Die schwache Brise war wohltuend auf seinem heißen Gesicht und trocknete die Schweißtropfen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten. Doch die Erinnerung an Ravena hatte seinen Kopf auch weiterhin fest im Griff. Er konnte sich einbilden, im zarten Duft der Rosen ihre Haut zu riechen. Der Gedanke an ihre Augen, ihren hochmütigen Blick …
Er schlüpfte mit der Hand in seine Bruche und rieb sich den Schwanz, der hart geworden war und dringend nach weiterer Aufmerksamkeit verlangte. Konnte er hier …? Auf der Gartenmauer patrouillierten keine Wächter und selbst wenn, würde es die Männer vermutlich nicht weiter stören.
Er fand eine Ecke und lehnte sich gegen die Steine, den Schwanz schon in der Hand, den Körper voller Sehnsucht nach einer Frau. Nur welcher?
Er versuchte, sich Roana vorzustellen, doch ihr Bild in seinem Kopf brachte ihn der Erlösung nicht näher. Im Gegenteil. Das Feuer in seinen Lenden verblasste zu einem schwachen Glimmen, während sein Herz hämmerte wie eine Kriegstrommel. Mit einem frustrierten Stöhnen ließ er sich langsam an der Mauer zu Boden sinken und schlang die Arme um seine Knie. War es jetzt schon so weit, dass sein eigener Körper ihn verspottete? Er sehnte sich nach der Feuersbrunst, die Ravena mit nur einem einzigen Blick in ihm zu entfachen vermochte. Aber er wollte sie mit Roana. Wenigstens in seinen Träumen wollte er ihr nahe sein. War das zu viel verlangt?
Lange Zeit saß Nael da und starrte vor sich hin. Irgendwann fiel ihm der Kopf auf die Knie und er dämmerte weg.
Der Ton eines Signalhornes ließ ihn aus seinem unruhigen Schlummer hochfahren. Er sprang auf, eilte zur Brüstung und spähte besorgt in den Hof hinunter. Die Stimmen der Torwächter erschienen ihm zu leise, um einen Feind anzukündigen. War es Rafael, der mit den Pferden zurückkehrte? Wenn ja, würde seine Stimmung nach der langen Suche so gewittrig sein wie das Wetter. Nael zögerte. Sollte er ihm die Nachricht vom Verlust des Kindes gleich überbringen? Er hatte von Anfang an gewusst, dass Rafael die Schwangerschaft seiner Gemahlin als üblen Scherz eines erzürnten Gottes betrachtete. Sein Bruder würde dankbar sein, sich nicht mehr mit der quälenden Frage nach dem Vater des Kindes auseinandersetzen zu müssen.
Und Roana? Roana hatte ebenfalls erreicht, was sie wollte. Das ungewollte Leben in ihrem Leib existierte nicht mehr und die Schuld daran wurde ihm angelastet. Dabei hatte er nichts getan, was rechtfertigte, dass Ravena und Peire ihn wie einen Verbrecher behandelten. Einen Burghof zu überqueren war nicht sonderlich schwierig und es war ihm ein Rätsel, warum Roana an dieser Aufgabe gescheitert sein sollte. Es sei denn, sie war vorsätzlich …
Allein der Gedanke an diese entsetzliche Möglichkeit wühlte ihn mehr auf, als er zugeben wollte. In seinem Inneren kochte ein wahrer Vulkan einander widersprechender Gefühle und Empfindungen. Er wusste nicht, ob er nun wütend oder traurig sein sollte, sie durchschaut zu haben, oder ob er sie überhaupt durchschaut hatte.
Er wusste nur, dass es ohne ihre Schwangerschaft keinen Vorwand mehr für ihn gab, sie weiterhin zu begleiten. Sobald sie genesen war, würde Rafael sie mit sich fortnehmen und er würde sie nie wiedersehen. Die Berge würden sie verschlucken, der Wind sie mit ihrem Gemahl fortwehen, und er – er hatte dann kein Ziel mehr, keinen Ort, an den er gehen konnte oder wollte.
Mit einer beinahe heftigen Bewegung wandte er sich dem Treppenaufgang zu. Immer öfter stellte er sich die Frage, ob die Begegnung mit Roana tatsächlich ein Geschenk des Himmels gewesen war, wie er sich eingeredet hatte. Inzwischen erschien es ihm, als sei er an diesem Tag zu immerwährender Seelenqual verurteilt worden, ohne Aussicht auf Begnadigung.
Nael stieg in den Hof hinunter und blieb für einen Moment unschlüssig stehen. Dann drehte er sich mit einem Ruck herum, und vielleicht wäre er einfach in die Burg zurückgekehrt, ohne auf Rafael zu warten, hätte nicht genau in diesem Moment das Geräusch dumpfer, trommelnder Hufschläge den Hof erreicht. Nael erstarrte mitten in der Bewegung und fuhr zum Tor herum. Das Hufgetrappel kam rasch näher, was gerade noch ein entferntes Dröhnen war, wurde nun zum gleichmäßigen Trommeln beschlagener Pferdehufe, die den Fahrweg zur Burg hinauf stürmten.
»Alessa will Färd haben! Pinzessin muss Färd haben!« Alessa und ihre Schwester kamen um eine Ecke getanzt. Während Desideria argwöhnisch stehen blieb, hüpfte Alessa weiter auf das geöffnete Tor zu.
Nael fuhr der Schrecken in alle Glieder. »Zurück!«, schrie er. »Alessa, zurück!«
Im gleichen Moment stürmte Rafaels brauner Hengst in den Hof – und stieg in scharfem Halt vor der kleinen Gestalt mit den feuerroten Locken.
Rafael schien auf dieses abrupte Manöver seines Pferdes ganz und gar nicht gefasst zu sein, denn er rutschte wie ein schlecht befestigtes Gepäckstück von seinem Rücken und landete unsanft im Dreck. Nael starrte mit erschrockener Faszination auf seinen Bruder, der mit völlig verblüfftem Gesichtsausdruck im Matsch lag und anscheinend nicht begreifen konnte, wie er dorthin gekommen war.
Alessa dagegen blieb furchtlos vor dem mächtigen Braunen stehen, dessen Hufe gefährlich nahe über ihr in der Luft ruderten.
»Mein Färd«, jubelte sie beeindruckt und klatschte in die Hände. Der Braune landete mit den Vorderhufen neben dem Kind, schnaubte erregt und schlug mit dem Kopf. Als nichts weiter geschah, beugte er den Hals, um das seltsame Wesen zu beschnuppern.
»Guck, es mag mich«, triumphierte Alessa.
»Himmel, Kind«, sagte Rafael, ohne den Kopf zu heben. »Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«
Naels Mundwinkel zuckten und er hatte Mühe nicht in schadenfrohes Gelächter auszubrechen. Die Vorstellung, dass Rafael am helllichten Tag vor sich hin träumte wie ein verliebter Narr, war einfach zu absurd. Und doch ließ dieser lächerliche Sturz vom Pferd keinen anderen Schluss zu. Etwas- oder sollte er besser sagen jemand? – hatte Rafaels Gedanken so sehr beschäftigt, dass er versäumt hatte, auf seine Umgebung zu achten.
Alessa sagte etwas. Nael sah, wie ihre Lippen sich bewegten, aber er hörte die Worte nicht. Sein Herz klopfte und seine Fingernägel pressten sich so fest gegen seine Handflächen, dass es wehtat. Gott, wie viele Beweise brauchte er eigentlich noch, dass sein Bruder Roana niemals aufgeben würde?
Er hatte das Spiel verloren. Ende. So einfach war das. Das einzig Anständige, was er jetzt noch tun konnte, war, sich von Rafael und Roana zu trennen und irgendwo in ein tiefes Loch zu kriechen, wo niemand von ihm Notiz nahm. Rafaels beinahe verklärtes Grinsen ließ diese unwillkommene Erkenntnis zur Gewissheit werden und er spürte sie kommen, die unerklärliche lähmende Furcht, die seinem haltlosen Abgleiten Richtung Abgrund vorausging.
Obwohl es warm war, begann er zu frieren. Sein Herz raste und stolperte. Schwindel rollte über ihn hinweg. Etwas wie ein schwarzer Schleier trübte seine Sicht, doch die Bilder vor seinem geistigen Auge waren umso deutlicher: Roana, die blutend im Eismatsch lag, weil er beim Anblick der Burgherrin mit seinem Schwanz gedacht hatte und nicht mit seinem Verstand. Und er hörte Gelächter in seinem Kopf, das Lachen seines Vaters, der sich über seine widersprüchlichen Gefühle lustig machte. Er hob die Arme und presste die Handgelenke auf die Ohren, aber die Geisterstimme ließ sich nicht aussperren.
Es dauerte eine Weile, bevor er begriff, dass der Lärm echt war. Nael sah sich verwirrt um, wusste für einen Augenblick nicht, was die Szene vor seinen Augen zu bedeuten hatte.
Alessa stampfte mit dem Fuß auf. »Alessa will Färd – geh weg, Alessa will Färd!«, zeterte sie dabei in voller Lautstärke.
Nael trat hastig vor, packte das Mädchen unter den Achseln und schwang sie in die Höhe. »Hoppla! Ich glaube, ich habe eine Wildkatze gefangen!«
Das Mädchen strampelte. »Lass mich runter, lass mich runter!«
Nael tat jedoch nichts dergleichen. Ohne viel Federlesens klemmte er sich die Kleine unter den linken Arm und hielt sie fest. Alessa zappelte mit Armen und Beinen, um sich zu befreien, aber Naels Griff gab nicht nach.
»Bist du verletzt?«, fragte Nael und beugte sich zu Rafael hinunter.
Rafael schob Naels ausgestreckte Rechte beiseite und schüttelte den Kopf. »Nichts passiert«, murmelte er. Er setzte sich auf und tastete geistesabwesend nach seinem zerschundenen Ellbogen. »Ist mit Roana alles in Ordnung?«, fragte er leise.
Naels erster Impuls war, Alessa fallen zu lassen und zu fliehen. »Sie … ruht sich aus. Die Burgherrin hat ihr etwas zum Schlafen gegeben.«
Rafael seufzte. »Du hältst mich für einen herzlosen, gleichgültigen Bastard, nicht wahr? Du denkst, ich hätte nicht bemerkt, dass Roana Schmerzen hat. Dass es mir gleichgültig wäre, was dieses Kind ihr antut.«
»Wenn es deine Absicht war, mich über deine wahren Gefühle im Unklaren zu lassen, dann ist dir das hervorragend gelungen, du Mistkerl.«
Rafael nickte mit geschlossenen Augen. »Ich hatte … ich war besorgt, wie sie meine Fürsorge aufnehmen würde«, gestand er beklommen. »Du weißt doch, wie sehr sie es hasst, wie eine Frau behandelt zu werden …«
»Seit wann bist du ein solcher Feigling, Rafael?« Nael setzte Alessa auf dem Boden ab und schob sie von sich, nicht roh, aber bestimmt. »Geh wieder spielen, Prinzessin.«
Alessa zog einen Schmollmund und rührte sich nicht von der Stelle.
Rafael schlug die Augen auf. »Ich würde sagen, wir haben es beide gewusst und in Kauf genommen.«
Nael ging nicht darauf ein. »Du solltest ein Bad nehmen, Rafael. Du hast Matsch hinter den Ohren.«
»Eine Pinzessin muss ein Färd haben«, beharrte Alessa und zupfte Nael am Ärmel. »Das da.« Sie zeigte auf den Braunen.
»Ich glaube, das Pferd brauche ich selbst «, sagte Rafael.
»Mein Rappe ist ohnehin viel schöner«, versprach Nael in Veneziano und streckte eine Hand nach dem Mädchen aus. »Komm, lass uns zum Stall gehen, dann zeige ich ihn dir.«
Alessa ließ sich bereitwillig an die Hand nehmen und hüpfte aufgeregt neben ihm her. »Was für ein Pferd hast du?«, fragte sie in ihrem klaren Veneziano.
»Einen schwarzen Hengst aus Aragon«, sagte Nael.
»Was ist Aragon?«
»Hm? Aragon? Ein Land weit im Südwesten, wo es fast immer warm ist.«
»Warst du mal dort?«, fragte Alessa neugierig weiter. »In Aragon?«
»Nein.«
»Warum hast du dann ein Pferd von daher?«
»Rigel war ein Geschenk, weißt du. Als Bezahlung für Krankenpflege und Medizin.«
»Hm … hm«, machte Alessa.
»Bekommt deine Mutter nicht auch Dinge geschenkt, wenn sie jemanden gesund macht?«, fragte Nael.
»Ach, sie bekommt nur schrecklich langweilige Sachen«, maulte die Kleine. »Ziegen und Hühner.«
»Magst du keine Milch? Oder Eier zum Frühstück?«, fragte Nael lächelnd. »Ich würde mich …«
Ein seltsamer, halb erstickter Laut ließ ihn innehalten. Er fuhr mit einer erschrockenen Bewegung herum und schob Alessa dabei gleichzeitig hinter sich.
Mitten im Hof standen Rafael und Ravena und starrten einander an. Fassungslos sah Nael zu, wie Ravena eine Hand vor den Mund schob, die andere ausstreckte, vor dem Gesicht Rafaels schweben ließ, als gelänge es ihr nicht, ihn zu berühren. Sie zog die Hand wieder zurück, krampfte sie mit der anderen vor dem Mund zusammen, der wie zu einem lautlosen Schrei geöffnet war. Rafael dagegen wirkte wie versteinert und sein Gesicht war so bleich, wie Nael es noch nie an ihm gesehen hatte.
Alessas Anwesenheit völlig vergessend hastete er über den Hof, bis er halb hinter Rafael und Ravena stand, die nur Augen füreinander hatten und ihn überhaupt nicht bemerkten.
»Rafael«, flüsterte Ravena. »Bruder …« Ihr Gesicht war nass von Tränen, ihre Lippen zitterten unkontrolliert.
Bruder?, dachte Nael und schlug beide Hände vor Mund und Nase. Rafael war Ravenas Bruder? O Gott … O gnädiger Herr Jesus Christus …
Das bedeutete, dass er am See seine Halbschwester geküsst hatte …
Nael stürzte in ein Fegefeuer widersprüchlicher Empfindungen. Wie konnte es sein, dass es ihm nicht gelang, auch nur einen einzigen Fettnapf auszulassen?
Ravena sagte irgendetwas, aber er verstand es nicht, denn das Rauschen in seinen Ohren war plötzlich gewaltig. Nur scheinbar gemessenen Schrittes erreichte er ein kleines Tor in der Mauer und floh in den Garten. Ungeschickt stolperte er an der Mauer entlang, bis er den Eingang zu einer mit Rosen überwachsenen Pergola fand. Er taumelte in die kühle Dämmerung hinein. Neben einer moosbedeckten Bank fiel er auf die Knie, vergrub den Kopf in den Armen, damit er die Finsternis nicht sehen musste, die ihn verschlang, und war dazu verdammt, dem höhnischen Gelächter seines Vaters in seinem Kopf zu lauschen.
Ravena kehrte erst in ihre eigene Kammer zurück, als es schon dämmerte. Sie streckte den Kopf aus dem Fenster und atmete tief die frische kühle Morgenluft ein. Gemeinsam mit Rafael hatte sie die Nacht am Bett der schlafenden Roana verbracht. Sie hatten geredet und gelauscht, stundenlang, bis sie alles voneinander wussten, was ihnen seit ihrer Trennung widerfahren war. Dabei ahnte sie instinktiv, dass Rafael ihr längst nicht jedes Detail erzählt hatte. Über seine Zeit als Sklave war er mehr als vage geblieben und sie mochte nicht darüber nachdenken, was er ihr alles verschwiegen hatte. Sie mochte gar nicht denken, sie war erschöpft und gleichzeitig aufgewühlt und das behagte ihr überhaupt nicht.
Sie war froh, dass sie nur ein einfaches Gewand trug, sodass sie Maddas Hilfe nicht benötigte, um sich daraus zu befreien.
Sie wusste, sie hätte in den Turm hinaufsteigen und mit dem Ansetzen ihrer Arzneien beginnen müssen, aber ihr war jeder Antrieb abhandengekommen. Sie stieg auf das hohe Bett und schloss die dunklen Samtvorhänge. Dann lag sie mit brennenden Augen da, durcheinander, aufgewühlt und todmüde, aber unfähig zu schlafen, und lauschte den Geräuschen der erwachenden Burg. Schritte im Hof, ein Frauenlachen, fernes Klappern von Eimern und Töpfen. Anheimelnde Laute, die ihr normalerweise Geborgenheit vermittelten. Aber nicht heute. Ihre Welt stand Kopf und das nicht nur, weil sie ihren so schmerzlich vermissten Bruder wiedergefunden hatte. Nein, der Sturm hatte auch Nael, den Mann von See zurück in ihr Leben geweht und nun wusste sie nicht, wie sie mit dieser Tatsache umgehen sollte. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen, geschweige denn, zu erfahren, dass er Luccas Sohn war. Einen kurzen, schreckensstarren Augenblick hatte sie ihn für einen Verwandten gehalten, bis ihr aufging, dass er zwar Rafaels Halbbruder war, aber nicht der ihre.
Über sich selbst belustigt schüttelte sie den Kopf, als sie sich an die Welle der Erleichterung erinnerte, die sie bei dieser Erkenntnis überflutet hatte. Dabei wusste sie noch nicht einmal, ob sie Nael wirklich mochte!
Rafael war der bei Weitem gefährlichere und unbarmherzigere der beiden Männer; ein Mensch voller Geheimnisse, dessen vorsichtige Verschlossenheit ihr dennoch vertrauter war, als Naels abweisendes, zurückgezogenes Wesen. Nur wenigen Menschen würde es je gelingen hinter den dunklen Vorhang seiner Seele zu blicken. Rafaels Liebe zu Roana dagegen umgab ihn mit einem Glanz, der auf seine gesamte Umgebung abfärbte und sie wärmte.
Dennoch waren es goldbraune Augen, die sich in ihre Gedanken schlichen, nicht silbergraue. Sie nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Naels Berührung hatte zu viele verschiedene Gefühle ausgelöst. Zorn flammte in ihr auf; Zorn auf ihn, wie auch auf sich selbst.
Nael war in Roana verliebt, so aussichtslos die Sache auch sein mochte und wenn sie Rafael Glauben schenken durfte, schien er nicht bereit, eine andere Frau auch nur in Erwägung zu ziehen. Trotzdem hatte er sie geküsst. War das nur aus Ärger geschehen? Aus Zorn, weil sie seinen dummen Versuch sich selbst Schaden zuzufügen vereitelt hatte? Oder gehörte er gar zu der Sorte Mann, der eine edle Dame aus der Ferne anbetete, weil er in den Händen einer richtigen Frau schlaff blieb wie eine welke Mohrrübe?
Es würde sicher interessant sein, einmal eine Probe aufs Exempel zu machen …
Der Gedanke trieb eine Hitzewelle durch ihren Körper. Mit einem Stöhnen zog sie sich ein Kissen über den Kopf, in dem Versuch, die unkeuschen Gedanken aus ihrem Kopf auszusperren, aber es nützte nicht viel.
Sie rollte sich auf den Rücken, schloss die Augen und begann in Gedanken rückwärts zu zählen. Es kostete sie ihre ganze Konzentration, nicht an Nael zu denken, doch schließlich verhalf ihre Erschöpfung sich zu ihrem Recht, die Dunkelheit tat ein Übriges, und Ravena schlummerte ein.