„Cindy, ich weiß nicht. Irgendwie fühle ich mich nicht mehr wie ich selber.“ Diese Aussage war meiner Ansicht nach entweder ziemlich passend, oder sogar noch untertrieben. Ich sah nicht schlecht aus. Aber ich sah nicht aus wie ich. Und ich fühlte mich auch nicht so wie ich. Wenn ich denn überhaupt wusste, wer ich war. Wusste ich das? „Vertrau mir, Emily. Hugos Freund wird vor Staunen den Mund nicht mehr zu bekommen.“ Cindy schien so begeistert von ihrem Werk zu sein, dass sie überhaupt mich wahrnahm, wie unwohl ich mich fühlte. Um mich vielleicht doch noch einmal vom Gegenteil zu überzeugen, warf ich einen erneuten Blick in den Spiegel. Ich trug ein rotes, enges, kurzes (zu kurzes) Kleid und schwarze Pumps. Das Kleid war so eng, dass ich Angst hatte, es mit jedem Atemzug zu zersprengen. Zusätzlich war Cindy über ihre Schminktasche hergefallen und hatte mein Gesicht so sehr bemalt, dass ich mich selber kaum wiedererkannte. Wenn Hugos Freund mich so kennenlernte, würde er wahrscheinlich an meinem normalen ich vorbeilaufen, ohne auch nur zu ahnen, dass wir das selbe Mädchen waren. Außerdem war ich mir alles andere als sicher, ob ich diesen Jungen überhaupt treffen wollte. Ich wusste ja, dass Cindys Männergeschmack zu wünschen übrig ließ. Sollte ich mich da wirklich von ihr zu einem Blinddate überreden lassen? „Cindy, ich habe das Gefühl, ich bin eine von Ginas Freundinnen. Ich sehe so anders aus.“, versuchte ich es erneut. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein. Gina und ihre Mitläufer sind billig. Du bist eine Lady.“ Sie betrachtete mich wie ein Kunstwerk, während sie das sagte. Vielleicht brauchte sie auch einfach nur Ablenkung, weil sie so aufgeregt war, sich mit Hugo zu treffen. Ich konnte zwar nicht genau festhalten, wie ich aussah, aber Lady traf es meiner Meinung nach überhaupt nicht. „Wann kommen die uns jetzt noch einmal abholen?“, fragte ich und erweckte dadurch sofort wieder die Hektik in Cindy. Wie ein vom Jäger verfolgtes Tier lief sie zu ihrem Nachttisch und griff nach der Armbanduhr, die sie dort vorhin achtlos niedergeschmissen hatte, um beide Arme zum Umziehen frei zu haben. „Scheiße. Ich fünf Minuten. Ich lauf schon einmal runter. Brauche ewig, um meine Stiefel zu schnüren.“ Sie warf mir einen nachdenklichen Blick zu. „Such dir noch schnell eine Handtasche aus meinem Schrank. Silber passt denke ich am besten. Vielleicht auch schwarz.“ Im Hinauslaufen riss sie ein paar Bücher vom Regal neben der Tür, doch sie war so im Rausch, dass sie es nicht mitbekam. Da ich der Meinung war, keine fünf Minuten zu brauchen, um mir eine Handtasche aus ihrem Schrank zu greifen und auch eigentlich keine Lust hatte, schon so bald meinem Blinddate entgegenzutreten, entschied ich mich dazu, die Bücher aufzuheben und wieder in das Regal zu stellen. Nicht, dass das irgendetwas an der allgemeinen Unordnung in ihrem Zimmer geändert hätte. Ich war gerade dabei das letzte der Bücher zurück an seinen Platz zu stellen, das ein Fotoalbum zu sein schien, als ich plötzlich Cindy von unten schreien hörte. „Sie sind da. Wo bleibst du? Komm endlich!“ Vor Schreck ließ ich das Album aus der Hand und zurück auf den Boden fallen, wobei sich wohl eines der Fotos löste und hinausrutschte. Um Cindy nicht zu verärgern, ließ ich es erst einmal liegen und machte mich an den Schrank, wo ich auch relativ schnell eine schwarze kleine Tasche fand, für die ich mich entschied. Da waren zwar auch mehrere silberne, aber ich fand, dass ich so wie ich aussah, schon genug auffiel. Da musste ich nicht auch noch eine silbern glitzernde Tasche mit mir herumtragen. Auf dem Weg zurück zu Cindys Zimmertür fiel mein Blick noch einmal auf das Fotoalbum und das eine lose Bild. So viel Zeit musste ja wohl noch sein. Ich wollte nicht, dass das hier so offen herumlag. Darauf achtend, dass mein Kleid nicht riss, ging ich in die Hocke und nahm das Bild in die rechte Hand. Es war relativ klein, deshalb hatte ich im Stehen das Motiv darauf nicht erkennen können. Jetzt jedoch wurde mein Blick von Wes strahlend grünen Augen eingefangen. So sehr, wie auf dem Bild, hatte ich sie in der Realität noch nie strahlen gesehen. Und er lächelte. Ein echtes Lächeln. Seinen Arm hatte er um ein Mädchen gelegt, zu dem als Beschreibung einzig und allein das Wort wunderschön passte. Sie hatte lange rote Haare und ihre blauen Augen strahlten mindestens so sehr wie die von Wes. Die beiden saßen auf einer Parkbank und sie hatte den Kopf gemütlich auf seine Schulter gelegt. Das Foto schien mir förmlich das Wort glücklich entgegenzuschreien. „Emily, verdammt noch mal jetzt komm endlich.“, riss Cindy mich von meiner Entdeckung los. Schnell ließ ich das Foto zurück in das Album rutschen und stellte dieses ins Regal. Nachdem ich ein letztes Mal in den Spiegel blickte und die Stirn bei meinem Anblick einfach runzeln musste, ließ ich Cindys Zimmer hinter mir und lief dem großen Ungewissen entgegen.