„Halt dich an mir fest. Dann fühlst du dich sicherer.“ Ich hatte längst aufgehört, über irgendetwas nachzudenken, was ich tat. Ich war plötzlich extrem müde und wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich in irgendein Bett zu fallen und schlafen zu können. Deshalb folgte ich seiner Aufforderung ohne Fragen zu stellen und hielt mich die gesamte Fahrt über an seiner Hüfte fest. Als wir ankamen, war ich wieder etwas wacher, da das schnelle Fahren mich ein bisschen wachgerüttelt hatte. Er half mir abzusteigen und nahm mir den schweren Helm wieder ab. Erst jetzt fiel mir das Gewicht auf, das ich die ganze Zeit über auf meinem Kopf getragen hatte. Ich war schon im Begriff, ihm zu erklären, dass ich unmöglich bleiben konnte, doch er hielt mir schon wieder seine Hand hin und irgendwo musste ich heute Nacht ja schließlich schlafen.
„Komm, aber sei leise, meine Eltern schlafen wahrscheinlich schon. Es ist mittlerweile schon halb zwölf und die gehen immer früh ins Bett.“ Ich nickte und nahm seine Hand. Dieser Junge streckte mir extrem oft seine Hände entgegen, wie mir jetzt auffiel. Vorsichtig schleichend gingen wir auf Zehenspitzen die Treppen zum ersten Stock hinauf, wo Wes, ohne anzuklopfen die erste Tür öffnete, auf der in rosaner Farbe einmal quer Cindy geschrieben stand. Er zog mich hinter sich ins Zimmer und schloss die Tür leise wieder. Hier drinnen war es heller. Cindy hatte wohl noch nicht geschlafen. Ich blickte mich um und sah ein braunhaariges Mädchen in meinem Alter auf einem riesigen Bett sitzen. Sie trug weiße Kopfhörer und hatte anscheinend schon ihre Schlafsachen an. Fragend sah sie uns an.
„Hey ihr. Wer bist du?“ Diese Frage war ja wohl eindeutig an mich gerichtet, doch Wes gab mir keine Chance zu antworten.
„Das ist Emily. Sie hat ihren Schlüssel zu Hause liegen gelassen und kommt das ganze Wochenende über nicht mehr rein. Ich habe ihr gesagt sie kann bei dir schlafen. War doch ok oder?“ Das Mädchen, das ganz offensichtlich Cindy war, nahm die Kopfhörer jetzt ab und gähnte.
„Klar. Unter meinem Bett liegt noch eine Matratze. Da schlafen immer die Mädchen drauf, die Wes von irgendwelchen Parties mitbringt.“
„Cindy!“, entfuhr es Wes. Cindy strahlte uns an. Als sie aber meinen verstörten Blick sah, entschied sie sich dann wohl doch für eine Erklärung.
„Keine Angst, Süße, ob du´s glaubst oder nicht, du bist seit anderthalb Jahren die erste, die Wes mit nach Hause bringt.“ Erst jetzt viel mir auf, dass sie ihrem Bruder schon die ganze Zeit über seltsame, fragende und neugierige Blicke zuwarf. Als Wes wieder sprach, klang er reservierter als zuvor. Irgendetwas hatte seine Laune stark beeinträchtigt.
„Ihr schafft es doch alleine, die Matratze zu beziehen, oder? Ich bin nämlich müde und würde jetzt gerne ins Bett gehen.“ Ohne abzuwarten, ob wir ihm zustimmen oder widersprechen würden, verließ er das Zimmer und verschwand hinter einer Tür am anderen Ende des Ganges, die wohl zu seinem Zimmer gehörte.
„Was war das denn jetzt? Habe ich irgendwas falsch gemacht?“, fragte ich nun doch etwas beunruhigt. Es sah mir ähnlich, jemanden, den ich erst seit kurzem kannte, gegen mich aufzubringen. Cindy schüttelte müde den Kopf.
„Nein, quatsch, mach dir keine Sorgen. Ich habe eben nur einen wunden Punkt bei ihm getroffen. Aber das kann ich dir nicht erklären. Da musst du ihn schon selbst fragen. Er wird es dir erzählen, wenn er bereit dazu ist.“ Verlegen und unsicher, was ich darauf antworten sollte, fing ich an die Matratze unter dem Bett hervorzuziehen.
„Hey, warte! Die ist zu schwer für dich alleine. Ich helfe dir!“ Cindy hüpfte vom Bett und kniete sich neben mich. Gemeinsam zogen wir das schwere Teil heraus und bezogen es mit einem weichen Spannbetttuch.
„Könntest du kurz rüber zu Wes gehen und ihn nach einem Schlafsack fragen? Unsere gesamte Bettwäsche ist im Schlafzimmer unserer Eltern, die schon seit über einer Stunde tief und fest am schlafen sind.“, fragte sie, während sie vor ihrem geöffneten Kleiderschrank stand und nach etwas suchte, was ich heute Nacht tragen konnte.
„Klar.“ antwortete ich, weil ich nicht unhöflich sein wollte, wobei mir schon etwas unwohl dabei war, Wes um etwas bitten zu müssen, wo er doch vorhin noch so komisch gewesen war. Andererseits hatte er mich ja geradezu dazu gedrängt, mit zu ihm nach Hause zu kommen. Deshalb machte ich mich auf den Weg durch den Flur und klopfte an die Tür, die ich für seine Zimmertür hielt, da ähnlich wie bei Cindy sein Name darauf gepinselt war.
„Ja?“ kam es von der anderen Seite. Ich nahm das einfach mal als Aufforderung, die Tür zu öffnen und mich nach ihm umzuschauen. Er saß auf seinem Bett, eine Gitarre auf dem Schoß. Was mir aber vor allem auffiel war, dass er nur noch Boxershorts und ein T-Shirt trug. Als er mich erblickte, schlug er das Fotoalbum, das er neben sich liegen hatte, sofort zu. Mir wurde schlagartig warm im Gesicht, was wahrscheinlich bedeutete, dass ich mal wieder rot geworden war. Neugierig sah er mich an. Jedoch war sein Gesicht immer noch eher ernst als amüsiert und nicht die Spur eines Grinsens war darin zu finden. Ich fühlte mich wie ein Eindringling in seinem Zimmer.
„Sorry, dass ich dich nochmal störe, aber Cindy meinte, du hättest vielleicht einen Schlafsack für mich?“ Als er realisierte, was ich gefragt hatte, entspannten sich seine Gesichtszüge sichtlich. Ich wusste nicht, was er erwartet hatte, aber diese Frage ganz offensichtlich nicht.
„Klar. Liegt unter meinem Bett.“ Da war auch wieder das Grinsen, doch dieses Mal viel mir zum ersten Mal auf, dass es nicht echt, sondern nur aufgesetzt war. Ihm war gerade eigentlich gar nicht zum Grinsen zumute. Was war nur mit ihm los? Es musste ja irgendetwas geben. Das hatte Cindy mir gegenüber ja schon angedeutet. Aber ich bezweifelte, dass ich jemals in der Lage sein würde, ihn danach zu fragen. Er würde es mir sagen, wenn er bereit dazu wäre, hatte Cindy gesagt. Was hatte das zu bedeuten? All das dachte ich, während ich den Schlafsack unter dem Bett hervorzog, mich leise von ihm verabschiedete und zurück zu Cindy in ihr Zimmer ging. Diese hatte mir in der Zwischenzeit eine dunkle Leggings und ein graues oversized T-Shirt herausgesucht.
„Ah super. Hier das kannst du anziehen.“, sagte sie, während sie mir den Schlafsack aus der Hand nahm und stattdessen die Klamotten gab.
„Das Bad ist direkt nebenan. Du kannst meine Zahnpasta benutzen und in der untersten Schublade müsste noch eine Zahnbürste sein. Ich packe dir in der Zeit deinen Schlafsack aus.“ Als ich wieder aus dem Bad zurückkam, unterhielt ich mich noch kurz mit Cindy, wobei ich erfuhr, dass sie und Wes noch einen älteren Bruder hatten, der aber vor zwei Jahren schon ausgezogen war und, dass sie gerade stark auf der Suche nach einem festen Freund war. Ich trug nicht viel zum Gespräch bei, was aber auch gar nicht nötig war, da Cindy von sich aus immer weitersprach. In dieser Eigenschaft schien sie ihrem Bruder in nichts nachzustehen. Nach etwa einer halben Stunde verkündete sie, dass sie müde sei und jetzt ihren Schönheitsschlaf bräuchte. Also schalteten wir das Licht aus und ich kuschelte mich in den weichen Schlafsack. Ich war die ganze Zeit über davon ausgegangen, dass ich diese Nacht vor lauter Gedanken kein Auge würde zu machen können. Doch als ich jetzt versuchte einzuschlafen, brauchte ich nicht länger als ein paar Minuten, bis ich in einen tiefen Schlaf gesunken war.