Wenn Aelita sich aus einem ihrer langen Röcke schälte, die ihn immer ein wenig an eine Zigeunerin erinnerten, kam darunter der makellose Körper eines jungen Mädchens zum Vorschein. Auch ihr schmales Gesicht mit den viel zu großen, rehbraunen, immer wie erstaunt blickenden Augen und den langen schwarzen Haaren furchte trotz ihrer vierzig Jahre nicht die geringste Falte. Es war, als würde die Zeit einen Bogen um sie machen.
Doch was sie mit diesem fast androgynen Körper mit den kaum vorhandenen Brüsten und dem winzigen Becken tun konnte, war alles andere als kleinmädchenhaft. Mit ihr zu schlafen war wie Sex von einem anderen Stern. Nein, eigentlich war es kein Sex, es war fast schon so etwas wie eine spirituelle Erfahrung und jeden anderen Mann hätte sie süchtig nach dieser Frau und ihrer Liebe gemacht.
Andreas schaute sie nur an und schon meldete sich trotz der bitteren Enttäuschung wieder das Begehren zwischen seinen Schenkeln. Unwirsch schob er es zur Seite und fragte sie wütend: „Warum nicht?“
Sie sah ihn über den Küchentisch hinweg so ruhig an, als würde sie den tobenden Zorn in ihm nicht spüren und antwortete leise: „Weil ich dich liebe. Erst macht es dich süchtig, und dann bringt es dich um.“
Ein halbes Jahr lang hatte er wie nichts sonst auf diesen ersten Satz gewartet. Seine Seele hätte er dafür gegeben. Aber nicht mehr jetzt.
„Ganz mieses Timing. ‚Liebe‘ ist deine Antwort auf alle Probleme, doch sie bringt mir kein Geld auf die Firmenkonten und macht uns nicht satt. Ich bringe es dorthin, wenn ich nur noch eine Woche durchhalte. Du bist Arzthelferin, du kannst mir das Medikament besorgen. Also tu es, verdammt noch mal! Für uns!“
Er hatte viel zu laut gesprochen, zum ersten Mal, seit sie bei ihm eingezogen war und es machte ihn nur noch wütender.
Sanft sagte sie: „Nein. Und fluche bitte nicht.“
Niemals in den vergangenen sechs Monaten ihres Zusammenlebens war Aelita laut geworden, stets hatte sie ruhig und besonnen mit ihm geredet und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. So war sie zum Hafen im Auge seines Lebenssturms geworden, in dem er immer wieder hatte einlaufen können. Doch jetzt tobte ein Orkan, der alles niederreißen konnte, wofür er gearbeitete hatte, und er brauchte mehr als eine sichere Zuflucht. Und vor allem brauchte er nicht ihren ewigen Sanftmut, an dem alles, was er ihr entgegenwarf, abprallte wie die Zeit von ihrer Samthaut.
Er sprang auf, stützte die Hände auf die Tischplatte und brüllte: „Ich fluche, wenn mir danach ist. Für wen schufte ich denn bis zum Umfallen? Doch nicht für mich, sondern für uns, für unser Glück! Aber das kapierst du blöde Kuh einfach nicht!“
Der Stuhl hinter ihm polterte zu Boden. Ohne es zu beachten, ging er mit schweren Schritten zur Tür.
Sie sagte in seinem Rücken: „Für Glück brauchen wir kein Geld. Glück ist das Billigste auf der Welt, was es gibt. Es will nur gefunden werden und nirgendwo anders als in dir selbst. Nicht einmal mich hättest du dazu gebraucht.“
Mit den gleichen Worten hatte ihre erste Nacht geendet und damals hätte er ihr fast geglaubt. Damals. Er drehte sich noch einmal um.
„Das ist nur ein Spruch und er ist genauso eine Mogelpackung wie der in dem Glückskeks bei unserem ersten Essen. Glück muss man sich erarbeiten. Hart erarbeiten.“
Sie rührte sich nicht und auch ihr schmales Gesicht war ruhig und beherrscht, wie er es nie anders bei ihr erlebt hatte. Außer in ihren Nächten, wenn es vor wilder Leidenschaft glühte und ein überirdisches Feuer in ihr zu brennen schien.
Sie schaute ihm viel zu lange in die Augen, und wie immer, wenn sie das tat, hasste er sie dafür. Es gab etwas in ihrem Blick, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, ja, das sogar verhinderte, dass er die Augen senkte.
Als er schon glaubte, sie würde gar nicht mehr antworten, sagte sie mit einem seltsamen Singsang in der Stimme, die Augen groß und weit geöffnet: „Zuerst wirst du denken, du hättest Halluzinationen.“
„Wie bitte?“
„In wenigen Stunden wirst du Dinge sehen, riechen, schmecken und Geräusche hören. Und du wirst zu wissen glauben, dass sie nicht real sind. Doch sie werden es sein. Dann werden dich schwere Muskelkrämpfe quälen, zuerst in der linken Hand und dann im ganzen Arm.“
Jetzt verstand er. Sie meinte die Wirkung des Aufputschmittels, das ihm sein Arzt nicht mehr hatte verschreiben wollen. Er höhnte: „Kommt noch mehr?“
Sie sprach wieder mit ihrer normalen Stimme: „Natürlich. Dann wird dein Herz aussetzen und du wirst sterben.“
*
Er war so müde, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, trotzdem setzte er sich ins Auto und fuhr vor Aelitas verzeihendem Lächeln davon, irgendwohin, einfach nur weg.
Fast zwei Stunden später saß er auf seinem Lieblingsstein am Strand von Börgerende-Rethwisch und sog mit jedem Atemzug Luft wie süßes Blei mit einer Beimischung von ein wenig Meeressalz in seine Lungen. So bitterherb schmeckte die Luft nur hier an der Ostsee und nur an einigen wenigen, ganz besonderen Abenden im Jahr. Der Duft erinnerte ihn daran, dass manche Gefühle nicht nur eine Farbe, sondern auch einen Geschmack und einen Geruch besitzen.
Er würde Aelita verlassen müssen, so viel stand fest. Eben hatte er sein Gesicht vor ihr verloren und das Wissen darum machte ihn nur noch wütender. Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als irgendjemanden in dieser Welt um Verzeihung zu bitten. Gerade Aelita nicht, denn um Entschuldigung zu bitten, war ein Zeichen von Schwäche und wie hätte eine Frau wie sie einen schwachen Mann lieben können?
Das Leben war kein Ponyhof und er hatte ein Geschäft zu retten, das kurz vor dem Bankrott stand. Sie wusste nicht, dass er sich ihretwegen auf das riskante Unternehmen mit den Ukrainern eingelassen hatte und er würde es ihr auch nie erzählen. Er hatte sie beeindrucken und außerdem für sich ein finanzielles Polster schaffen wollen, um mehr Zeit für sie zu haben. Ihr Gerede von „sich Zeit nehmen“ und „innerer Energie“, die ihm angeblich verlorenging, hätte er dann mit einem Lächeln abtun können, denn beides hätten sie gehabt. Im Moment nervte sie ihn damit nur. Wenn es einen Gott gab, hatte er vor den Preis den Schweiß gesetzt und sie tat so, als wüsste sie es nicht. Tantra, Yoga und was sie noch so alles trieb, brachten ihm nicht mehr Schlaf und keine der weißen Hexen aus ihren alten Büchern würde kommen und seine tiefroten Bankkonten auffüllen.
Er kämpfte um ihre nackte Existenz, aber statt ihn darin zu unterstützten, kam ihm diese eigentlich kluge und gebildete Frau mit irgendwelchem esoterischen Mist, und das im einundzwanzigsten Jahrhundert. Er brauchte ihre Engelsgeduld nicht und ihre ewig währende Verzeihung, als sei sie eine Heilige. Er brauchte eine Frau an seiner Seite, die mitzog. Eine Frau, die ihn in diesem Kampf nicht allein ließ! Wenn sie das verstanden hätte, hätte sie ihm das Aufputschmittel besorgt, das ihm sein Arzt verweigert hatte.
Gedankenlos öffnete er die kleine weiße Dose und nahm die nächste Tablette. Sie war eine der Waffen in dem Arsenal, mit dem er die Firma retten würde, egal, was es ihn an Gesundheit kostete.
Er ließ die Beine ins Wasser baumeln und wartete darauf, dass die Wirkung der Droge einsetzte. Der Stein unter seinem Po hatte die Sonnenstrahlen gespeichert und sandte sie nun als Wärme über das Rückgrat an sein Gehirn. Sein Herz hätte sie wieder in Licht verwandeln können, aber es schwieg.
Ihm kamen die Worte seiner Großmutter in den Sinn, die hier in diesem armseligen Fischernest gelebt hatte und bei der er als Kind oft die Ferien verbracht hatte: „Wenn die Luft dir schwer wie Blei auf die Brust drückt und die Sonne am Abend blutrot das Wasser berührt, darfst du niemals an den Strand gehen!“
Sie hatte es ihm nie erklärt, aber an diesen Abenden im November und gegen Mitte August hatte sie immer mit besonderer Sorgfalt das Haus verschlossen. Noch bei Tageslicht hatte sie die Fensterläden zugeklappt und penibel überprüft, dass alle Riegel in ihren Halterungen eingerastet waren. Als hätte sie Angst gehabt, dass etwas Böses dem Meer entsteigen und in ihr Haus eindringen könnte.
Tatsächlich zeigte der Rand der Sonne, der eben begann in den Fluten der Ostsee zu verschwinden, ein so intensives Blutrot, wie er es noch nie gesehen hatte.
Vor welcher uralten Legende seine Großmutter wohl Angst gehabt haben mochte? In den Nächten im Jahr, in denen sie sich so seltsam verhalten hatte, kreuzten große Meteoritenströme die Umlaufbahn der Erde, im November die Leoniden und heute würden die Sternschnuppen der Perseiden glühende Spuren im nächtlichen Himmel hinterlassen. Die Christen nannten sie „die Tränen des Laurentius“ und wer eine solche Sternschnuppe sah, hatte angeblich einen Wunsch frei. Er lächelte bitter. Wenn es denn so einfach wäre, dann hätte er gerne wieder schwarze Zahlen auf dem Firmenkonto, das war sein sehnlichster Wunsch.
Mittlerweile war es merklich dunkler geworden, eine erste, feurige Spur, Vorbote des mächtigen Stroms der Perseiden, zog über den Himmel und abrupt verstummte das laute Gekreisch der Möwen. Sie flogen so schnell davon, als hätte jemand gebrüllt: „Achtung! Gefahr!“
Keine Menschenseele tummelte sich mehr am Strand, urplötzlich waren alle Urlauber verschwunden und da, wo eben noch die Fischerboote vom Fang heimgekehrt waren, glänzte das Meer wellenlos wie blutrotes Silber.
Etwas lag in der Luft, undefinierbar, nicht greifbar und doch so präsent, dass ihm ein Schauder den Rücken hinunterlief. Die Sonne versank im Meer, die Dämmerung zog herauf, mit ihr eine Briese kalter Luft und er hörte seine Großmutter rufen: „Flieh, lauf weg, bevor es zu spät ist!“
Er stand auf, musste sich dazu mit der Hand am Stein abstützen und ärgerte sich über seine Schwäche. Er lebte im einundzwanzigsten Jahrhundert, und die Zeit der Legenden und der Ungeheuer - wenn es sie denn einmal gegeben hatte - war längst vorbei.
Über ihm krächzte ein Rabe. Der schwarze Vogel flatterte direkt über seinem Kopf und sein Geschrei war der einzige Laut, den er noch hörte. Selbst das Rauschen der Wellen war verschwunden. Was geschah hier gerade?
Nicht weit entfernt humpelte eine alte Frau an einem Stock den menschenleeren Strand entlang. Manchmal bückte sie sich, hob etwas auf, betrachtete es und ließ es dann wieder fallen. Immer näher trottete sie, bis sie schließlich an seinem Felsen anlangte.
Ihr schwarzer Rock aus einem schweren, samtartigem Stoff mochte vor einigen hundert Jahren einmal modern gewesen sein, und das ausgeblichene Leinenhemd, dass sie darüber trug, besaß altertümliche Verschnürungen statt Knöpfen und war so voller Wasserflecken, als hätte sie eben damit gebadet. Weiße, zu einem Zopf geflochtene Haare hingen ihr über die Schulter und reichten fast bis zum Boden. Ihre ledrige Gesichtshaut war voller Runzeln und kleiner und großer Altersflecken.
Sie blieb vor ihm stehen, stützte sich mit beiden Händen auf ihren knotigen Stock und hob den Kopf. Krächzend und stotternd, als hätte sie ihre Stimme lange nicht mehr benutzt, fragte sie: „Habt Ihr vielleicht ’nen Bernstein gesehen?“
Dabei funkelte sie ihn mit Augen an, die viel zu klar und scharf für so eine alte Frau waren. Ihr Blick ging ihm unter die Haut und ließ ihn frieren.
„Bernsteine sammelt man am Morgen, nach einem Sturm, alte Frau“, antwortete er.
Sie lachte keckernd. „Das denkt ihr feinen Herren aus der Stadt alle. Die Tränen des Meeres muss man sammeln, wenn sie vergossen werden. Sie werden abends geweint. Drum bin ich hier.“
Sie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, schaute ihm ins Gesicht, und ein einziger, senfgelber Schneidezahn grub sich dabei in ihre Unterlippe: „Wie Ihr. Warum heult Ihr, junger Herr?“
„Bitte? Ich weine ja wohl nicht. Ich bin hier, um den Sonnenuntergang zu genießen. Das hast du mir gerade verleidet, alte Frau.“
Sie keckerte wieder. „Ja, wenn Ihr meint. Aber der Sonnenuntergang ist vorbei und die Tränen des Laurentius rinnen bereits über das Himmelszelt. Schaut hin!“
Mit einem vor Dreck starrenden Finger zeigte sie zum Himmel und tatsächlich raste eine Sternschnuppe über das Firmament und hinterließ dabei eine feurige Spur.
„Hihi, ausgetrickst!“
Sie hatte sich auf die Knie sinken lassen, während er nach oben geschaut hatte, richtete sich jetzt ächzend wieder auf und hielt etwas gelb glänzendes, Hühnereigroßes vor sein Gesicht. „Ich hab‘ doch gesagt, Ihr heult. Ein schöner großer Bernstein ist das!“
Mit offenem Mund starrte er auf ihre Hand und wollte es nicht glauben. Sie belog ihn! Hätte hier ein Bernstein gelegen, so hätte er ihn sehen müssen, als er sich auf den Felsen gesetzt hatte.
„Du verarschst mich!“
Sie packte mit erstaunlicher Kraft seine Hand, patschte den Bernstein hinein und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen ganzen Arm. „Ihr Menschen übertölpelt euch immer nur selbst. Geht zu der alten Hintze, sie macht Euch daraus eine schöne Kette für Euer Weib.“
Sie beugte ihren Kopf ganz nahe zu ihm, ihre Augen schienen von innen zu leuchten und ihr Gestank nach Tang und Meer nahm ihm den Atem. Sie krächzte: „Ihr habt eine Träne des Laurentius gesehen und so habt Ihr einen Wunsch frei. Was wünscht sich der feine Herr?“
Lauernd sah sie ihn an und er lachte sie aus. „Du kannst Wünsche erfüllen, alte Hexe? Nur zu, aber von Bankkonten wirst du keine Ahnung haben und was es bedeutet, wenn man aus den roten Zahlen herauskommt. Also bring mir Glück, Alte! Ein kleines bisschen Glück, weiter will ich nichts!“
Sie gab wieder ihr keckerndes Lachen von sich. „Welch einfacher Wunsch. Es hat doch schon bei Euch gewohnt, Ihr wahrt nur zu blind, es in Eurem Eigendünkel zu sehen. Aber trotzdem - er sei Euch gewährt.“
Dann sank sie in sich zusammen und wandte sich um. Doch als wäre ihr etwas eingefallen, drehte sie sich noch einmal zu ihm herum. „Eure Großmutter war klüger als Ihr! Ihr habt hier nichts verloren. Schert Euch zu dem Weib, das Euch liebt. Es wartet schon viel zu lange auf Euch.“
Sie trottete davon und murmelte dabei vor sich hin: „Die Menschen werden sich nie ändern ...“
Einen Moment schaute er ihr noch hinterher, dann wandte er sich ab und machte sich auf den Heimweg. Mühsam stapfte er durch den Sand und jeder Schritt fiel ihm schwerer als der vorhergehende. Seine linke Hand war zur Faust geballt, ein Krampf verhinderte, dass er sie öffnete und sein ganzer Arm brannte wie Feuer.
Auf der Dünenkrone blickte er noch einmal zurück und erstarrte. Die Abenddämmerung war heraufgezogen, doch der Strand und das Meer waren noch immer voller Leben. Die Fischerboote kehrten von ihrem Fang heim und neben dem Stein, auf dem er eben gesessen hatte, spielten Kinder am Wasser, als wären sie die ganze Zeit da gewesen.
Die Knie gaben nach unter ihm und er brach zusammen. „Du wirst Dinge sehen, Geräusche hören, riechen, schmecken - und nichts davon wird real sein. Dann wirst du schwere Muskelkrämpfe bekommen, zuerst in der linken Hand und dann im ganzen Arm“, hatte Aelita zum Abschied gesagt.
Es war das Medikament. Sie hatte ihn gewarnt, doch er hatte nicht auf sie hören wollen. Er begann zu schluchzen wie ein Kind, drehte sich auf die Seite und versuchte, auf den Knien und mit einem Arm bis zu seinem Wagen zu kriechen. Aelita. Wo war sie? Was hatte er nur getan?
Es reichte nicht. Wenige Meter vor seinem Auto verließen ihn die Kräfte; ihm wurde schwarz vor Augen und sein Herz hämmerte in wilden Schlägen gegen die Rippen. Mit geschlossenen Augen blieb er liegen, hörte auf zu kämpfen und hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Aelita.
*
Ein spitzer Schmerz explodierte zwischen seinen Zehen, raste seinen Körper hinauf und zerbarst zu einer Funkenkaskade hinter seinen Augenlidern. Jemand schimpfte leise: „Ich hätte nicht so lange warten sollen. Das ist keine Haut mehr, das ist eine Panzerplatte!“
Dann noch eine Funkenkaskade, diesmal von seinem anderen Fuß und schließlich noch zwei von seinen Schienenbeinen.
Zwei Hände massierten erst seinen Nacken und dann seine Stirn. Er hätte sie unter Milliarden anderer erkannt, wie auch die melodische Stimme an seinem Ohr: „Ich habe dir ein paar Nadeln gesetzt. In ein paar Minuten sollte es dir besser gehen.“
Nadeln? War er eine Voodoo-Puppe? Er kämpfte gegen die Tonnengewichte auf seinen Augen, und als er sie endlich besiegt hatte, blickte er in Aelitas schmales, ein wenig sorgenvolles Gesicht.
Er lag in seinem Wagen auf dem heruntergeklappten Beifahrersatz, es war fast dunkel draußen, hinter den Dünen rauschte das Meer, wie es das seit Millionen von Jahren getan hatte und irgendwie beruhigte ihn dieser blödsinnige Gedanke. So war es also, wenn man dachte, sterben zu müssen. „Woher ...“
Er brach ab, ohne die Frage auszusprechen. Seine Stimme wollte nicht so wie er.
Sie schaute ihn mit einem dieser langen Blicke an, die er einmal gehasst hatte, und beantwortete seine unausgesprochene Frage: „Ich weiß immer, wo du bist. Und ich weiß immer, wann du mich brauchst.“
Was auch immer ihre Antwort bedeuten sollte - er verstand sie nicht. Sein Körper hatte ihn im Stich gelassen. Noch schlimmer war, dass auch sein Kopf verrückt gespielt hatte. Er war offenbar so sehr am Ende seiner Kräfte gewesen, dass seine Erschöpfung und die heiße Sonne Halluzinationen hervorgerufen hatten und sein Kreislauf zusammengebrochen war.
Er hasste sich dafür. Er hasste seinen Körper, er hasste seinen Kopf. Wie konnte er nur so schwach sein? Jetzt lag er hier in seinem Wagen wie ein hilfloses Baby, musste sich von der Frau versorgen lassen, die er liebte, obwohl er sich doch um sie zu kümmern hatte. Sie würde ihn nach Hause fahren und diesen Schwächling irgendwann verlassen. Oder noch schlimmer, sie würde versuchen, ihn zu beherrschen.
Das war logisch. Doch trotzdem stimmte etwas nicht. Wieso war Aelita hier? Woher hatte sie gewusst, was passieren würde und vor allem, wann? Warum hatte sie mit so einem seltsamen Ton in der Küche seinen Tod vorausgesagt?
Er musste unbedingt nachdenken, doch in seinem Kopf herrschte ein wüstes Durcheinander und er war sich nicht einmal sicher, ob er wirklich Antworten auf seine Fragen haben wollte.
Mit einem leisen Lächeln hatte Aelita ihn beobachtet, als wüsste sie, was in ihm vorging. Sie strich ihm eine schweißnasse Haarsträhne aus der Stirn, dann erhob sie sich aus ihrer knienden Stellung neben ihm und schloss leise die Beifahrertür. Auf der anderen Seite stieg sie wieder ein.
Er drehte den Kopf. Etwas in ihm verlangte, dass er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Und etwas anderes wollte, dass er seine Augen schloss und sich dem hingab, was auch immer sie als Nächstes tun würde.
Sie fragte leise: „Ist es so schwer?“
Woher wusste sie...
Er musste mehrmals schlucken, bevor er antworten konnte. Nur ein Wort brachte er zustande: „Warum?“
„Willst du es wirklich wissen?“
Sie schnallte sich an, startete den Wagen und fuhr los. Es waren die gleichen Handlungen, die er selbst ein dutzendmal täglich machte und wie selbstverständlich kam diese zarte Frau mit seinem großen Wagen zurecht, den sie nie zuvor gefahren hatte.
Natürlich wollte er alles wissen. Er schloss die Augen und sagte: „Nein.“
„Du bist der netteste Kotzbrocken, dem ich je begegnet bin.“
Wie ein wärmender Mantel füllte ihre Zärtlichkeit das Innere des Wagens und er wusste, was sie meinte. Es war ja nicht so, dass er sich nicht kannte. „Ich weiß. Aber um mich zu biegen, brauchtest du so etwas wie Zauberkräfte. Das haben schon ganz andere versucht.“
War es seine Schwäche oder diese seltsame Aura, mit der Aelita den Wagen füllte - er hatte gerade ihr gegenüber zugegeben, dass er sich nicht für perfekt hielt. Auch wenn er es in einen Scherz verpackt hatte.
„Wer sagt dir, dass ich sie nicht besitze?“
Ihre Antwort hatte nicht wie ein Scherz geklungen. Er murmelte: „Weil es so etwas nicht gibt. Nie gegeben hat. Das, was die Leute als Zauberei bezeichnen, sind nur Resultate, von denen sie nicht verstehen, wie sie zustande gekommen sind. Es gibt für alles eine Erklärung. Ursache und Wirkung, Kausalität!“
Seine Worte waren schärfer herausgekommen, als er es gewollt hatte. Fast so, als hätte er sich gegen etwas wehren wollen. Schon wieder ein Zeichen von Schwäche. Er setzte brummend hinzu: „Du liest zu viel Bücher über diesen Kram.“
„Eher zu wenig. Hätte ich schon mehr gewusst, würdest du jetzt nicht in diesem Zustand neben mir liegen.“
Er seufzte leise. Verstehe einer die Frauen. Was auch immer sie mit ihm gemacht hatte, es begann zu wirken. In seinem Kopf begann sich das Durcheinander zu verziehen und er fühlte sich kräftiger als noch vor wenigen Minuten. Und schuldiger. Er hatte sie mies behandelt, trotzdem war sie rechtzeitig genug gekommen, um ihm wahrscheinlich das Leben gerettet zu haben.
Er sagte: „Du hattest Recht. Das Medikament hätte mich umgebracht.“
„Welches Medikament? Die Tabletten in deiner Dose habe ich schon vor drei Tagen gegen ein herzstärkendes homöopathisches Mittel ausgetauscht.“
Sie hatte was?
Wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis. Sie hatte ihn manipuliert! Das war die Erklärung, nach der er die ganze Zeit gesucht hatte. Wahrscheinlich war es irgendeine Droge gewesen. Sie kannte Akupunktur und vielleicht stand in ihren Büchern auch etwas über Hypnose - er wusste einfach nicht genug über diese Frau neben sich. Dann hatte sie in der Küche mit ihren Worten einen Befehl in sein Gehirn gepflanzt, war ihm nachgefahren und hatte nur warten müssen, bis er zusammenbrach. Jetzt war sie die große Retterin und hatte ihn unter Kontrolle. Nein!
„Fahr sofort rechts ran!“, schrie er.
Sie reagierte nicht.
„Du sollst anhalten!“ Er tastete nach der Sitzverstellung, um die Rückenlehne hochzufahren.
Aelita drehte den Kopf. „Was die Medizin nicht heilt, heilt das Eisen; was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer“, sagte sie in dem gleichen Singsang, mit dem sie auch in der Küche gesprochen hatte. Sie nahm die rechte Hand vom Lenkrad, griff nach seinem verkrampften linken Arm und eine Lanze aus glühendem Eisen bohrte sich in sein Gehirn. Er schrie auf, sank zurück und blickte sie voller Entsetzen an.
Als sei nichts geschehen, fuhr sie weiter. Nach einigen Minuten lenkte sie den Wagen an den Straßenrand, stellte den Motor ab und öffnete ihren Sicherheitsgurt.
Er flüsterte, für laute Worte hatte er nicht die Kraft: „Warum hältst du jetzt an?“
Wie sie es vor einer Ewigkeit getan hatte, wie ihm schien, strich sie ihm wieder mit einem leichten Druck über die Stirn. „Weil ich es JETZT will!“
Eine Straßenlaterne leuchtete ins Innere des Wagens und in ihrem Licht fiel ihm wieder auf, wie groß die braunen Augen waren in ihrem Mädchengesicht. Was verbarg sie wirklich dahinter?
Sie stieg aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Tür an seiner Seite und zog ihm die vier Akupunkturnadeln aus den Beinen. Dann fuhr sie seine Rückenlehne in die Senkrechte, öffnete seinen Sicherheitsgurt und kraftlos, wie er war, ließ er es geschehen. Selbst, wenn er etwas hätte tun können, hätte er nicht gewusst, was.
Sie setzte sich auf den Bordstein neben dem Wagen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in den Händen. So blieb sie minutenlang sitzen. Schließlich hob sie ihn wieder, ordnete mit einem Handgriff ihre Haare und sagte: „Bitte setz dich zu mir.“
Er war sich nicht sicher, ob er die Kraft dazu hatte, doch es ging. Er stieg aus und ließ sich neben ihr auf dem Bordstein nieder, darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Der Boden unter ihm war noch warm wie der Felsen am Strand, auf dem er gesessen hatte. Mit der Erinnerung daran kam auch die Halluzination wieder und er schüttelte sich.
Aelita lehnte den Kopf an seine Schulter und sagte: „Du glaubst nicht an Hexen und du hast Recht damit. Es hat nur zu allen Zeiten Menschen gegeben, die mehr wussten. Das, was sie taten, konnte niemand erklären und so mystifizierte man sie und nannte sie Hexen und Zauberer. Selbst heute, nach zweitausend Jahren, weiß niemand genau, wie die Akupunkturnadeln, die ich dir gestochen habe, wirken. Man weiß nur, dass sie die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren, aber niemand hält es mehr für Zauberei.“
Sie verstummte einen Moment, schaute zum sternenklaren Himmel auf, dann auf die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk und fuhr fort: “Du hast mir sehr weh getan vor ein paar Stunden und nichts in dieser Welt geschieht, ohne dass es Konsequenzen hat. Der Schmerz, den ich dir eben zugefügt habe, war die Rache des kleinen Mädchens in mir.“
„Aber ... „
Sie legte einen duftenden Finger auf seine Lippen. „Psst! Schau jetzt zum Firmament!“
Er blickte nach oben, gerade rechtzeitig genug, um zu sehen, wie eine wahre Feuerkaskade über den Himmel zog. Eben musste ein ganzer Meteoritenschwarm in der Atmosphäre verglüht sein.
„Und jetzt küss mich, du Dummkopf!“
Heiß presste sie ihre Lippen auf seine, ihre Zunge suchte nach einer Spielgefährtin, fand sie und ihre Berührung war glühende Lava, die ihn verbrannte.
Nach einer Ewigkeit, die ihm viel zu kurz erschien, löste sie sich wieder von ihm und sagte: „Fast auf die Minute genau vor einundvierzig Jahren bin ich hier in einem Fischerhaus geboren worden. Den ersten Schrei meines Lebens stieß ich aus, als ein solcher Tränenschwall des Laurentius, wie du ihn eben gesehen hast, den Himmel in Feuer tauchte. Meine Urgroßmutter war eine Heilerin und wusste so viel, dass die abergläubischen Menschen hier sie „weiße Hexe“ nannten. Ich habe ein bisschen davon geerbt. Verglichen mit ihrem Wissen bin ich noch eine Anfängerin. Mit dieser Erklärung wirst du dich zufriedengeben müssen.“
Sie lachte leise und es klang wie das Klingeln eines Silberglöckchens im Dunkeln. „Auch wenn es dir nicht gefällt. Wir Frauen haben gern unsere kleinen Geheimnisse. Und jetzt komm!“
Sie stand auf und ging Hand in Hand mit ihm zum Wagen.
Sie waren bereits wieder einige Minuten unterwegs, da fiel ihm auf, dass sie nicht auf der Straße nach Schwerin fuhren. Er war so sehr mit Nachdenken über diese unglaubliche Frau beschäftigt gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte.
Er fragte: „Wohin fahren wir?“
„Zu meiner Urgroßmutter.“
„Warum?“
„Es wird Zeit, dass sie meinen Mann kennenlernt.“
Meinen Mann. Aelita hatte diesen Satz gesagt, wie sie immer mit ihm sprach - ruhig, ohne besondere Betonung, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. So saß sie auch hinter dem Lenkrad - entspannt, die kleinen Hände nur locker um das Leder gelegt, als würde das Auto von alleine den Weg finden. Vielleicht tat es das auch, er war mittlerweile bereit, fast alles zu glauben. Nur zu einem war er nicht bereit - sich einfach so aufzugeben.
Er sagte: „Das hatte ich nicht gefragt.“
Sie schaute kurz herüber, seufzte und sah dann wieder nach vorn auf die dunkle Straße. „Es wird noch ein hartes Stück Arbeit mit dir, bis du, statt zu fragen, fühlen kannst. Du bist ein Stiesel, der alles unter Kontrolle haben will, aber kein Egoist. Du könntest dich nicht mit geschlossenen Augen in meine Arme fallen lassen, dazu hast du noch zu wenig Vertrauen. Aber du zerreißt dich für deine Leute und du hast alles für mich riskiert, obwohl ich das gar nicht gebraucht hätte. Du hast ein Herz, nur das Leben hat bei seiner Erziehung ein wenig gepfuscht und ich biege das wieder hin. Doch die Wahrheit ist ...“
Sie unterbrach sich und er hakte nach: „Was?“
So leise, dass er es zwischen den Fahrgeräuschen fast nicht gehört hätte, sagte sie: „Die Wahrheit ist, dass ich dich liebe. Und das braucht keine Erklärungen.“
Die letzten Stunden hatten sein Selbstbild auf den Kopf gestellt und wo vorher alles einen festen Platz gehabt hatte, herrschte nur noch Chaos. Der Wagen rumpelte über einen Feldweg und er stieß sich den jetzt zwar schmerzfreien, aber noch immer verkrampften Arm an der Lehne. „Was ist mit meinem Arm?“
„Großmama wird das schon richten. Mach dir keine Sorgen.“
„Darum mache ich mir keine Sorgen.“
Er dachte jedoch: „Ich mache mir aber Sorgen um dich. Um uns. Wer bist du wirklich? Was willst du von mir?“
Der Wagen stoppte und die Scheinwerfer beleuchteten eine uralte Fischerkate mit reetgedecktem Dach, auf dem Moos wuchs und die sich schief und krumm zwischen den Dünen zu verstecken schien. Ein einziges, flackerndes Licht brannte in einem winzigen Fenster.
Aelita stand schon an der Pforte eines kleinen Holzzauns, ehe er auch nur die Autotür öffnen konnte. Plötzlich fing sein Herz an zu klopfen, als hätte er gerade einen Hundertmetersprint hinter sich. Von dem Haus ging eine Präsenz aus, die ihm den Atem nahm. Aelita öffnete die Pforte und rief: „Komm endlich. Großmama wartet nicht gerne.“
Langsam ging er die wenigen Schritte bis zum Gartentor. Vor der Pforte blieb er stehen. Etwas in ihm wollte nicht, dass er weiterging. Aelita hatte auf ihn gewartet, sie reichte ihm die Hand und sagte, als wüsste sie genau, was er fühlte: „Bitte komm. Es ist wichtig. Für uns.“
Er griff nach ihrer Hand, ließ sich von ihr hinter den Zaun ziehen und im gleichen Moment fuhr wieder ein brennender Schmerz seinen Arm hinauf. Diesmal jedoch löste er den Krampf darin, seine Hand öffnete sich endlich, etwas rollte heraus und fiel ihm vor die Füße.
Er wollte nach unten schauen, doch da wurde knarrend die Tür der Kate geöffnet, ein dunkler Schatten erschien darin und eine Stimme, deren Besitzerin uralt sein musste, sagte: „Ihr seid zu spät. Das Essen ist schon fast kalt!“
Er hatte diese Stimme schon einmal gehört heute.
„Es hat ein bisschen länger gedauert, als ich dachte, Großmama“, erwiderte Aelita und drückte dabei seine Hand, als wollte sie ihm Mut machen.
Er schaute erst sie an, dann die runzlige Alte. Schließlich senkte er seinen Blick nach unten und Entsetzen kroch ihm wie ein kalter, glitschiger Fisch den Rücken hinauf. Keines Gedanken fähig, starrte er auf den hühnereigroßen Bernstein vor seinen Füßen und wie durch Watte hörte er die Worte von Aelitas Großmutter: „Ihr müsst nicht an uns glauben, junger Herr. Wir glauben an Euch, und meine Enkeltochter liebt Euch. Das ist mehr Glück, als Ihr in einem ganzen Leben aufbrauchen könnt. Das war Euer Wunsch und ich habe ihn erfüllt. Nun erfüllt mir meinen und seid mein Gast.“
Ungläubig starrte er ihr in das runzlige Gesicht mit den vielen kleinen und großen Altersflecken, dann wurden seine Knie weich und er ging zu Boden, wieder einmal.
Die Alte keckerte: „Dein Bräutigam scheint mir ein wenig schwächlich, Kind.“
Aelita lachte: „Du hast ihn erschreckt mit deiner Zauberei am Strand, Großmama. Gib ihm ein bisschen Zeit, sich an uns zu gewöhnen.“
Sie kniete sich neben ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und flüsterte zärtlich: „Pass in Zukunft ein bisschen auf, was du dir wünschst, mein Liebster. Du könntest es bekommen ...“