Die Küche im Landhaus der Familie Dunkler war geräumig und seit der Welle an Flüchtlingskindern mit einem großen, geräumigen Tisch ausgestattet. Um diesen hatten sich nun Celles, Saphira, Vanessa, Finn und Shanora zusammen mit ihren Gästen Sessy und Sethos für ein ausgiebiges Frühstück gemütlich gemacht.
Sessy und Sethos hatten die Gelegenheit genutzt, sich davor ein paar Kleidungsstücke zu borgen, denn Elensar war doch um einiges kühler als Ägypten oder Griechenland, wo beide die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatten. Sethos wollte zudem so schnell es ging, endlich wieder ein Paar Hosen am Leib tragen und tauschte seine Tunika nur allzu gern gegen abgewetzte Jeans, die sie auftreiben konnten. Finns Hosen waren dem gebürtigen Halbägypter eindeutig zu klein gewesen. Seine Schwester hatte sich ebenfalls für schwarze Hosen, Stiefel und eine Bluse von Saphira entschieden. Sorgfältig hatte sie die Ärmel hochgekrempelt, damit jeder den reichen Schmuck auf ihren porzellanfarbenen Armen bewundern konnte.
"Sagt mir nicht, dass ihr das wirklich umsetzen wollt?", Sessy schlürfte an ihrem Kakao und ließ den Blick über die Kinder der Hüterin des Waldes schweifen, "Das ist Irrsinn. In das Schloss des Dunklen Königs einbrechen? Ihr könntet einen Krieg auslösen, umkommen oder schlimmeres!"
"Was könnte schlimmer sein als die beiden ersten Dinge?", Finn rührte lustlos in seinem Müsli. Manchmal hasste er die klebrige Pampe, die es zum Frühstück gab und manchmal liebte er sie. Shanora saß neben ihm und lauschte den Gesprächen aufmerksam.
Zum Glück für alle Anwesenden hatte Ladira kurz nach Beginn des Frühstücks, eine Nachricht empfangen und hatte aufbrechen müssen. So konnten sie unbefangen reden. Wäre sie noch hier, würde ihnen das blaue Wunder blühen. So sehr sie ihre Zöglinge auch liebte und bei allem unterstützte, bei diesem Plan hätte sie dafür gesorgt, dass alle für die nächsten hundert Jahre ihren Hintern nicht mehr vom Stuhl bekamen.
"Dann eben die Villa des Ratsherrn. Das ist weniger Risiko", Vanessa mischte eifrig mit seit Sethos ihr gegenübersaß, doch er schmierte seelenruhig sein Butterbrot ohne aufzusehen.
"Die unterirdischen, stillgelegten Tunnel Elensars. Die könnten wir nutzen, um in die Nähe der Villa zu gelangen, ohne gesehen zu werden. Wer auch immer einst dieses Labyrinth errichtet hat, hat nicht geahnt, dass es irgendwann für diesen Zweck herhalten muss", schlug Saphira vor und reichte Finn ihr Butterbrot, um sich stattdessen sein Müsli zu schnappen.
"Viele alte Häuser haben doch einen Zugang zu den Tunneln im Keller, oder?", meldete sich Shanora leiser zu Wort, "Vielleicht trifft das auch auf Taurnils Haus zu. Wir könnten ..."
"Oh nein, Prinzessin, du bleibst schön hier!", fiel ihr Celles ins Wort und hob abwehrend die Hände, "Du bleibst hier und lenkst Mum den ganzen Tag ab und wenn es geht, dann auch unseren neuen Vater."
"Ihr habt einen neuen Vater?", Sessy stellte die Tasse ab, "Sagt bloß, die Hüterin hat ihr Herz an jemanden verloren?"
"An ein Halbblut, um genau zu sein. Aber er ist hundertmal besser als unser Vater. Er ist einer von den Guten."
"Sein Name ist Serefa Vouron. Er ist ganz in Ordnung."
"Das freut mich für sie. Und für euch, wenn ihr damit klarkommt", die Vampirin lächelte verschmitzt und lehnte sich zurück, "Sagt mal, was ganz anderes. Paps erzählte uns von einer Art Mondgeister hier in Elensar. Gibt es die wirklich? Er beschreibt sie als Geister von Kindern und anderen Seelen, die in mondlosen Nächten Laternen tragen. Er wollte uns nach Maris Tod mit der Geschichte trösten. Er nannte sie ... Mh ... Sethos, hilf mir mal."
"Lunachildren", Sethos tippte sich nachdenklich mit dem Finger an die Lippen, "Ich glaube so nannte er sie, aber ich bin mir nicht sicher, ob es der richtige Name ist."
Finn bemerkte, wie die Farbe aus Shanoras Gesicht verschwand und hob fragend eine Braue. Sie fing seinen Blick ab und wandte ihren prompt in ihre Schüssel, als wäre Müsli auf einmal das Interessanteste auf der ganzen Welt.
Er strich sich das blonde Haar zurück und stützte das Gesicht dann auf die Hände. Finn ahnte schon, warum seine Schwester so reagierte. Seine Gedanken schweiften zum Gespräch des vergangenen Tages.
"Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Vielleicht findet sich etwas in der Bibliothek darüber, aber ich erinnere mich nicht, davon gehört zu haben. Was meinst du, Saphira?", Celles drehte sich fragend zu ihrem Zwilling, die nur mit den Schultern zuckte und den Kopf schüttelte: "Ich glaube nicht. Mum erzählte vielleicht darüber, als wir noch klein waren, aber das ist lang her..."
"Aha. Wie dem auch sei. Gehen wir also den geheimen Weg entlang zur Villa. Weiß einer, wo wir die Pläne der Tunnel finden und wann der Ratsherr nicht Zuhause ist, damit wir unbemerkt einsteigen können?", Sessy spielte sich mit ihren unzähligen Armbändern und lehnte sich im Sessel zurück. Es war herrlich hier zu sein, fand sie. Abwechslung und Unterhaltung. Viel besser als zuzusehen, wie eine kleine Stadt versuchte, den ganzen Stiefel, den sie Italien nannten, in der Welt der Menschen zu erobern.
"Wir werden ihn besuchen und ablenken", ertönte plötzlich Marilees Stimme, die in der Küchentür erschienen war und alle zusammenzucken ließ.
Sie trug ein gelbes, knöchellanges Kleid, ihr Haar war zu braven Zöpfen geflochten und ihre Flügel ragten aus ihrem Rücken heraus. In den Armen hielt sie mehrere Schriftrollen, die sie an die Brust presste und in ihren blauen Augen lag Entschlossenheit.
"Wir?", echote Celles und musterte die Eingetretene.
"Wir, liebste Celles. Er ist noch immer mein Vater und bevor ihr nun einen Aufschrei startet, möchte ich euch sagen, dass ich ebenso skeptisch bin wie ihr. Ich habe mich immer gefragt, warum ich nichts über meine Schwester fand. Nichts. Im ganzen Haus! Oder besser: In allen Räumen, in die ich hineinkam.", sie trat an den Tisch heran und Sethos schob Teller und Tassen beiseite, um Platz für all die Rollen zu machen, die sie dort ablegte.
Mit einer flinken Bewegung öffnete sie eine Rolle und breitete sie vor ihnen aus: "Hier. Das ist der Landesabschnitt, in dem mein Vater wohnt." Sie deutete mit dem Finger auf die Zeichnung einer Villa unweit vom Turm des Rates, der auf der Seite des weißen Schlosses in Elensar siedelte, auf der Flussseite des Erid.
Celles und Saphira beugten sich neugierig vor und auch Vanessa warf einen Blick darauf.
Marilee entrollte eine weitere Schriftrolle, deren Inhalt aussah wie ein riesiges Labyrinth. Sethos erkannte den Zusammenhang der beiden Rollen als Erster. Die Engelsgleiche legte beide mit einem Lächeln übereinander. Kurz leuchtete das Pergament auf und die beiden Karten waren verschmolzen. Nun konnten sie das Geflecht der alten Tunnel sehen, das unterirdisch verlief und auch jene Tunnel, welche hinausführten, über den Rand des Gebirges des Vergessens, wo sie Portale bildeten in die anderen Welten. Die Zeichnung der Tunnel trug verschiedene Farbabstufungen. Manche waren klar zu erkennen, andere verblassten.
"Seht mal. Das ist der Weg, den Mum damals gegangen ist", Celles führte ihren Finger einen Pfad entlang, "und da ist auch der Zugang zu den Unterlanden, aus denen Serefa stammt."
"Das sind alte und oft benutzte Pfade", stellte Sessy fest, "Andere wie dieser hier", sie zeigte auf einen verblicheneren Tunnel, "sind nicht so klar zu erkennen. Ich frage mich, in welche Welt man wohl stolpert, wenn man dort hindurch geht..."
"Da steht sogar ein Wort", Sethos beugte sich weit über das Pergament und kniff die braunen Augen zusammen, "Argen... Argenshire. Hm ... Vielleicht finden wir eines Tages heraus, was das für eine Welt ist."
"Schon faszinierend, oder?", Finn schmunzelte, "All die Welten, die es gibt. All die Länder, die wir erkunden könnten." Seine Augen funkelten begeistert.
"Allein die Welt der Menschen, in der wir aufgewachsen sind, ist riesig, Finn. Du könntest mal mit mir kommen und sie bereisen. Die Wege zu Wasser eignen sich perfekt dafür und eines Tages möchte ich mein eigenes Schiff haben und die Weltmeere befahren!", lachte Sethos auf und klopfte Finn ermunternd auf die Schulter.
Der Blonde lachte trocken auf: "Ja, klar... äh... Haha. Du weißt doch, Sethos: Schiffstrauma."
Sethos winkte ab: "Ach komm! Kletter endlich mal zurück in den Sattel! Ich wette da draußen gibt es ein Schiff, das unsinkbar ist. Wir könnten gemeinsam daran arbeiten. Glaub mir, Finn, du verpasst da was! Die Seefahrt hat Zukunft in dieser Welt und das Meer ist wunderbar!"
"Vielleicht hast du Recht...", Finn legte nachdenklich einen Finger ans Kinn, "Ich denke, ich komme mal mit und sehe es mir an, sobald wir das hier erledigt haben."
Ein breites Grinsen machte sich auf den Zügen des Halbägypters breit: "Ich freue mich! Wir werden so viel Spaß haben!"
"Ähem ... Kann ich vielleicht mitkommen?", Vanessa strahlte Sethos an und legte ihre Hände auf seinen Arm, innerlich seufzend, als sie die Muskulatur des jungen Mannes unter dem Hemd spürte.
Was keiner der Anwesenden zu diesem Zeitpunkt ahnte war, dass dies den Anstoß für Finns späteres Bestreben ein Schiff zu finden, das gegen jedes Riff bestehen würde und der Grund, warum sein Name besser nicht an die Ohren eines Seemanns gerät, gab.
Sethos warf der Blondine einen Seitenblick zu und kratzte sich, verlegen lächelnd, am Ohr: "Klar kannst du mitkommen, aber ich weiß nicht, wie gut du das Schaukeln an Bord aushältst, Vanessa."
"Leute? Können wir uns wieder wichtigeren Dingen zuwenden?", kam es von Sessy, die ihrem Bruder ein Kopfschütteln widmete. Die Vorstellung, dass Vanessa möglicherweise mitkam und eine Weile bei ihnen wohnen könnte, nur um mit ihrem Bruder segeln zu gehen, missfiel ihr fast noch mehr, als die Vorstellung, es wäre Finn. Kein Spiegel wäre mehr sicher und ihr Make-Up Vorrat wäre ständig leer.
"Stimmt ja!", Sethos versuchte seinen Arm aus Vanessas Umklammerung zu bekommen, ergab sich dann aber seinem Schicksal, als er merkte, wie sinnlos sein Unterfangen war. Die Blondine blickte mit versuchsweise verführerischem Blick zu ihm hoch, denn er war selbst im Sitzen gut zwei Köpfe größer als sie.
Marilee zog sich einen Stuhl neben Shanora heran und lächelte der jungen Prinzessin zu. "Alles in Ordnung bei dir?", fragte sie diese leise und streckte die Hand aus, um über ihr schwarzes Haar zu streicheln.
"Shanora ... Wir sehen uns bald wieder ... Komm zu mir, Kleines."
Shanora zuckte zusammen, als sie Marilees Hand spürte und schloss die Augen. Die Stimme war wieder da. Nein, eine andere Stimme. Diesmal war sie sicher, dass es Maris Stimme war. Sie blickte auf und ihre türkisenen Augen weiteten sich. Ein Blinzeln und es war wieder fort, doch sie konnte schwören, dass Marilees blaue Augen für einen Augenblick grün geschimmert hatten.
"Ich habe eine Frage", drang Saphiras Stimme an ihre Ohren, "Marilee, was meintest du, als du sagtest, die Räume, in die du gelangt bist?"
"Oh, das ist einfach. Es gab ein paar Räume, die versperrt waren. Aber nicht nur durch einen Schlüssel, weißt du, sondern durch einen Bann, der nur mit einem Siegelschlüssel aufgeht. Eine Tür dieser Art war im oberen Stockwerk neben dem Zimmer meiner Mutter und eine andere unten im Keller. Eine Falltüre. Ich bin mir ziemlich sicher, dass darunter noch ein weiterer Raum ist. Einer, wo Vater nicht möchte, das jemand hingeht und für den er sogar einen Magier angeheuert hat, um ihn zu versiegeln. Wir bräuchten das dazu passende Siegel, um dort hineinzukommen.", beantwortete Marilee die Frage.
"Nicht unbedingt ... ", Finns Blick war auf den Tunnel gefallen, der unter Taurnils Anwesen durchführte, "Wir können sicher von unten auch hinein. Der Tunnel ist stark verblasst. Es ist unwahrscheinlich, dass er von seiner Existenz weiß und es sieht aus, als sei ein Teil davon eingebrochen. Seht mal da."
"Tatsächlich!", Marilee hob eine Lupe vom Tisch auf, die sie mit den Schriftrollen mitgebracht hatte und lächelte, als sie diese über den Plan führte, "Vermutlich steht die Villa genau deshalb an dieser Stelle."
Finn seufzte erleichtert auf. Ein Weg in den Keller war also gegeben. Ihm fiel wieder das merkwürdige Erlebnis in der Bibliothek ein und sein Blick wanderte zu Shanora. Ihre Blicke trafen sich.
"Dann ist es beschlossene Sache. Jetzt müssen wir nur mehr rausfinden, wer von uns Taurnil ablenkt und wer durch die Tunnel zieht!", lächelte Saphira.
"Nehmt es mir nicht übel, Mädels, aber ich denke die männlichen Anwesenden sollten durch den Tunnel gehen. Falls dort unten Schutt liegt, können die sich eher durchgraben und dass ich den Weg durch die Haustür nehme, sollte ja wohl klar sein", zwinkerte Marilee ihnen zu und fünf Augenpaare blinzelten verwundert. So hatten sie Marilee noch nie erlebt.
Finn fand als Erster seine Fassung wieder: "Einverstanden. Dann gehen Sethos und ich durch den Tunnel und ein paar von euch lenken ihn mit Besuch ab."
"Ich melde mich freiwillig!", Celles' Hand schoss in die Höhe.
"Ich denke eher, ich nehme Sessy und Saphira mit."
"Wieso?", Celles ließ die Hand wieder sinken, "Was hast du gegen mich?"
"Sessy ist die Tochter von Zephyr, dem Schmied und reisenden Forscher wie Händler. Taurnil hatte auch am Hof der weißen Königin zu tun, so wie er und ich bin nun mal die Tochter der Hüterin des Waldes und zwar die mit dem ruhigeren Temperament", gab Saphira mit einem breiten Grinsen zurück.
Celles verschränkte gespielt beleidigt, die Arme und wandte den Kopf ab: "Wenns sein muss ... Dann kümmern Vanessa, Shanora und ich uns um Mum!"
"Ich muss zum Unterricht!", beeilte sich Shanora zu sagen und krallte ihre Finger in die Tischplatte.
Saphira und Celles sahen sie verwirrt an.
"Prinzessinenunterricht."
"Ahhh!", den Zwillingen schien ein Licht aufzugehen, "Du hast heute bei Templi, richtig?"
Shanora nickte eifrig: "Ich sollte endlich mal hingehen. Immerhin erwarten doch alle, dass ich irgendwann dieses Land führen kann und Gleichgewicht in den Welten schaffe."
"Gut, dann gehst du zum Unterricht und wir suchen mal zusammen, was wir so brauchen und machen uns auf den Weg", Saphira erhob sich und Celles tat es ihr gleich.
Sessy, Sethos mit Vanessa an seinem Arm hängend und Marilee folgten ihnen aus der Küche hinaus, um sich umzuziehen und zu sehen, wie sie am schnellsten zur Villa Mondenschein kamen.
Finn blieb zurück und rollte die Schriftrollen zusammen: "Gut gespielt."
"Danke", Shanora kratzte ihre Schüssel aus und trug sie hinüber zur Spüle.
"Ich sollte daran denken, eine Tasche mitzunehmen ...", überlegte er laut.
"Nimm den Rucksack. Da ist viel Platz und du kannst noch was zu Essen einpacken."
Die Geschwister lächelten sich vielsagend an.