In meiner Heimat Zsyrn gibt es ein Volkslied, das dort wohl jeder Mensch kennt. Wenn man die alten Worte rau ins Neusprech übersetzt, besagt eine seiner Zeilen: "Auf frühe Liebe folgt früher Tod".
"Die bittersüße Ironie des Schicksals", so der Name des Lieds, geht zurück bis in jene graue Vorzeiten, als auch zum ersten Mal der Name Zsyrn in den Geschichtswerken auftauchte.
Tatsächlich hat dieses Lied, womöglich im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, unsere Kultur und insbesondere den Aberglauben der Landsleute bedeutend geprägt.
Meine Heimat Zsyrn ist zwar ein einflussreiches, bekanntes Land, allerdings sind wir letzten Endes doch nur schrullige Inselbewohner - auch wenn die Insel etwas größer ausfällt.
Vorwiegend sind hierzulande die schrulligen Alten noch davon überzeugt, dass es ein schlechtes Omen ist, wenn man früh seine große Liebe findet. So predigen sie ihren Kindern und Enkeln, sich vor der Gründung einer eigenen Familie zuerst einmal auszutoben.
Allerdings lebt dieser Volksglaube trotz der Auswirkungen wachsender internationaler Vernetzung durch fortschreitende Technologien insgeheim auch in vielen jungen Zsyrnern weiter.
Ich, für meinen Teil, habe dem Schicksalslied nie Glauben geschenkt - wie hätte es auch anders sein können? Immerhin traf ich meine große Liebe im zarten Alter von zwölf Jahren, da tut man besser daran, den Teufel zu ignorieren, der da für einen an die Wand gemalt wurde.
Bal war die Liebe meines Lebens. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, traf es uns beide mit einem Schlag. Ich werde nie den Moment vergessen, in dem ich zum ersten Mal in diesen warmen, braunen Augen versinken durfte.
Sofort freundeten wir uns an, und nach einigen Jahren wurden wir uns der wahren Natur unserer Gefühle füreinander bewusst.
Seite an Seite wurden wir älter.
Bal hatte eine kranke Mutter und eine kleine Schwester, die es zu unterstützen galt, und fing daher schon früh an, Tag und Nacht hart zu arbeiten.
Auch ich arbeitete hart, um mir mein Studium verschiedenster Weltsprachen und deren Ländern ermöglichen zu können.
Besonders gut verstand ich mich auf Prämisch und alles, was mit Pram zu tun hatte.
Erst seit einem halben Jahrhundert herrschte Frieden zwischen Pram (welches den Sidonischen Kontinent mit dem Salanse verbindet) und dem Bündnis der Sidoner. In grauer Vorzeit war Pram eine Kolonie Zsyrns gewesen. Die Aggressionen gegen das Sidon'sche Bündnis brodelten nach wie vor unter der Oberfläche. Erhitzte Verhandlungen, die letzten Endes ins Nichts führten, standen an der Tagesordnung.
Durch den Ruf Prams als potentiellen Krisenherd, sowie meine ausgeprägten Kenntnisse der Pramer Kultur und Sprache, erlangte ich nach meinem Studium einen gut bezahlten Job im Beratungs- und Übersetzungsbereich.
Auch Bal hatte einen besser bezahlten Posten ergattern können und wir waren mit Bals Mutter und Schwester in ein kleines Haus in der Nähe unserer Hauptstadt Salzytskn gezogen. Das war die glücklichste Zeit meines Lebens.
Als Verbindungsperson zwischen den Ländern musste ich allerdings oft reisen. So auch an jenem Tag.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie Bal mich zum Flughafen brachte und dort beim Abschied für einen kurzen Moment meine Hand nicht loslassen wollte. "Ich bin ja ganz bald wieder zurück...", versicherte ich liebevoll.
Was für eine Ironie des Schicksals es doch ist, dass ausgerechnet dies meine letzten Worte waren, bevor ich mich auf einen langen Weg machte.