„Hey, Henri.“
Lächelnd öffnete Mina die Tür zu ihrer Wohnung. Sie freute sich, ihren besten Freund endlich wiederzusehen, nachdem er die letzten beiden Wochen bis über beide Ohren in Arbeit für die Staatsanwaltschaft versunken war. Nicht, dass sie selbst viel Zeit gehabt hatte. Seit sie vor zwei Jahren bei der Naturschutzorganisation Für Flora und Fauna angefangen hatte, war ihre Freizeit immer knapper geworden. Arbeit, für die man mit Leib und Seele brennt, führte unweigerlich zu unendlichen Überstunden. Und dann waren da noch die Dates mit René, die sie irgendwie unterbringen musste. Es war also definitiv nicht Henriks Schuld alleine, dass sie so lange nichts voneinander gehört hatten.
„N’Abend“, erwiderte er weniger enthusiastisch, während er eintrat und sich aus seiner Jacke schälte. Überrascht bemerkte Mina, dass er deutlich sichtbare Augenringe hatte, sein Gesicht wirkte richtig eingefallen im flackernden Schein ihrer Kerzen.
Automatisch schaltete sie in den Zuhörer-Modus: „Willst du eine Tasse Tee?“
„Das klingt perfekt“, nickte Henrik und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf das Sofa vor ihrem falschen Kamin sinken. Er schwieg, während sie in der ans Wohnzimmer angrenzenden Kochnische den Tee zubereitete.
Als sie schließlich mit zwei Tassen Tee zu ihm trat und eine vor ihn hinstellte, nahm er einen tiefen Schluck, ohne sich um die Temperatur des heißen Tees zu kümmern, schob die Tasse zurück auf den Tisch und vergrub mit einem weiteren Seufzen sein Gesicht in den Händen: „Die Uni ist lange her, was?“
Nachdenklich legte Mina den Kopf schräg. Das war eine Richtung, mit der sie nicht gerechnet hatte. Vorsichtig hakte sie nach: „Mein Masterabschluss scheint Ewigkeiten her, obwohl das alles erst vor zwei Jahren war. Oder was meinst du?“
Aufmerksam ruhte ihr Blick auf ihrem besten Freund. Sein Gesicht war verborgen, doch die Anspannung in seinen Schultern und das Zittern seiner Knie waren deutliche Zeichen, dass irgendetwas mit Henrik nicht in Ordnung war.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal sage“, murmelte er kaum hörbar, „aber damals war alles leichter. Erwachsen sein ist … einfach ätzend.“
Besorgt rückte Mina näher auf der Couch zu ihm und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel: „Kann ich dir helfen bei irgendwas?“
„Giselle hat mit mir Schluss gemacht letzte Woche“, brach es schließlich aus ihm heraus.
„Was? Wieso?“
Endlich richtete Henrik sich wieder auf und schaute sie direkt an: „Sie meinte … sie meinte, sie hätte mich ihr Leben lang vergöttert. Der beste Freund des großen Bruders und all das. Und als ich dann mit meinem Stipendium an der Uni so erfolgreich war, ist sie nie auf die Idee gekommen, ihre Gefühle zu hinterfragen. Sagt sie. Ich weiß einfach nicht … sie meinte, im Alltag mit mir hätte sie gemerkt, dass da keine Schmetterlinge mehr im Bauch sind.“
Instinktiv spürte Mina Wut in sich aufsteigen: „Das ist doch normal! Verliebtheit geht irgendwann vorbei, wir können nicht dauernd Schmetterlinge im Bauch haben, da würden wir ja eingehen vor lauter Aufregung. Was erwartet sie denn?“
Erschlagen lehnte Henrik sich zurück, die Augen geschlossen: „Was weiß ich? Ich habe wirklich alles versucht. Wir sind doch erst vor einem halben Jahr zusammengezogen. Ich dachte, dass uns das hilft. Mehr Nähe und so. Aber offensichtlich … war es das Gegenteil.“
„Ach Henri“, flüsterte Mina voller Anteilnahme. Ohne darüber nachzudenken, schlang sie ihre Arme um seine Schultern und zog ihn an ihre Brust. Augenblicklich erwiderte er die Umarmung, presste sie eng an sich und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter.
Minutenlang verharrten sie so, beide schweigend. Mina traute sich nicht, die Stille zu unterbrechen. Sie wollte auf Henrik warten, damit er den Raum hatte, seine Gefühle offen zu zeigen. Und sie hatte wirklich Mitleid mit ihm. Giselle war seine erste wirkliche Liebe gewesen und sie wusste, dass er aufrichtig für sie fühlte. Und andersherum hatte Giselle immer für ihn geschwärmt, zumindest, seit Mina sie kennengelernt hatte. Dass die beiden nicht heiraten und zusammen alt werden würden, war für sie ein völlig absurder Gedanke.
„Wir werden immer Freunde bleiben, oder, Mina?“
Das kaum wahrnehmbare Zittern in Henriks Stimme brach ihr beinahe das Herz. Sie drückte ihn noch ein wenig fester: „Aber natürlich, Henri. Wir sind doch nicht irgendwelche zwei Studenten, die sich zufällig kennengelernt haben. Wir haben so viel zusammen durchgemacht. Du wirst für mich immer der beste Freund sein.“
Langsam löste er sich aus der Umarmung: „Und du meine beste Freundin. Du und René, ihr seid die beiden wichtigsten Menschen für mich. Wehe, ihr trennt euch jemals, okay?“
Unbehaglich rollte Mina ihre Schultern. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie schon seit Wochen Zweifel daran, ob ihre Beziehung mit René noch eine Zukunft hatte, doch gleichzeitig fühlte alleine der Gedanke, ihn zu verlassen, sich einfach falsch an. Mit einem schrägen Grinsen nickte sie: „Keine Sorge, wir hatten in den letzten drei Jahren genug Zeit, unsere Gefühle zu sortieren.“
Auf Henriks Gesicht spiegelte sich ihr Grinsen: „Ja, wirklich. René hat sich alle Mühe gegeben, seine eigenen Gefühle nicht zu sehen, ich glaube nicht, dass jetzt, wo er sie endlich erkannt hat, dass sich da noch groß was ändern wird.“
Mina konnte nur mit den Schultern zucken. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, über ihre eigenen Beziehungsprobleme zu sprechen, aber früher oder später würde sie Henriks Rat brauchen. Sie erhob sich: „Willst du noch einen Tee?“
„Gerne“, kam es von Henrik, der offensichtlich erleichtert war, seinen Liebeskummer endlich ausgesprochen zu haben. Ein neues Seufzen erklang: „Ach, ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Giselle behält die Wohnung, also ziehe ich aus, sobald ich was Neues gefunden habe. Für sie ist das völlig okay, aber … ich weiß nicht, ob ich noch mit ihr in einem Raum sein kann, ohne … ich bin einfach so wütend und traurig und ich verstehe es nicht. Weißt du?“
Mina kaute auf ihrer Lippe herum, während sie darauf wartete, dass der Tee fertig wurde. Sie verstand nur zu gut, dass es für Henrik wie Folter sein musste, mit Giselle zusammenzuleben, ohne ihr wirklich nahe kommen zu können. Kurz legte sie den Kopf in Nacken und dachte nach, doch sie wusste, dass sie eigentlich ihre Entscheidung schon getroffen hatte.
Mit beiden Teetassen in der Hand kehrte sie zum Couchtisch zurück: „Wenn du willst, kannst du für den Übergang bei mir unterkommen. Das Sofa hier kann man in ein Bett umwandeln, es ist ziemlich bequem. Und stören würdest du auch nicht, wir gehen schließlich beide Vollzeit arbeiten. Und mehr.“
Aus großen Augen blickte Henrik sie an: „Ehrlich? Ich meine … das wäre großartig, aber … bin ich nicht im Weg?“
Lachend schüttelte Mina den Kopf: „Du bist einer der unauffälligsten Menschen, ich wette, ich kriege nicht mal mit, dass du hier bist.“
„Du bist wirklich eine Lebensretterin!“
Mit einem breiten Grinsen ließ Mina sich ein weiteres Mal umarmen. Sie hoffte sehr, dass René sich nicht daran stören würde, dass Henrik bei ihr übernachtete, obwohl sie ihm das noch nie angeboten hatte. Sie hatte René immer erzählt, wie sehr sie ihren Freiraum brauchte und dass sie deswegen erstmal nicht mit ihm zusammenziehen wollte. Sie war sich selbst nicht mehr sicher, ob das der wirkliche Grund war, denn der Gedanke, mit Henrik für einige Wochen zusammenzuwohnen, war mehr aufregend und ansprechend als störend. Es wurde wirklich Zeit, dass sie ihre Gefühle für René genauer analysierte!